Kapitel 26 - Nackte Gefühle
Eos genoss den späten Tag mit einem Revolver in der Hand auf den Straßen. An den neuen Arbeits-Rhythmus hatte sie sich schnell gewöhnen können:
Nachts arbeiten, Morgens bis zu den Mittagsstunden schlafen und in der Zwischenzeit versuchen, Freude am Leben zu finden.
Bronie und Rinder hatten sich umfangreich vom Dienst verabschiedet und harrten in Sicherheit aus. Fast jeden zweiten Tag traf Eos auf Rinder, der sich nicht davon verabschieden wollte, seine liebste Konditorei aufzusuchen und deswegen durch die Stadt latschte.
Ihre Gespräche verliefen immer gleich:
"Wie war der letzte Dienst?" Zu viele Monster, um einen sichtbaren Erfolg zu vermelden.
"Was treibt Bronie gerade?" Meist las er, oder zog sich vor sozialen Interaktionen zurück.
"Wie kommst du mit dem Verlust von Caden mittlerweile klar?" Sie bereute die Worte, die sie nie ausgesprochen hatte, doch konnte damit abschließen.
"Viel Erfolg."
"Guten Appetit."
"Auf die Wiederholung des Lebens, Eos."
Schlimmer als die Alltagsschleife war, dass sie ständig mit einer Unterbrechung dieser rechnete. Sie wagte sich nicht mehr ohne Waffe heraus. Tagsüber hörte man nicht selten die verhängnisvollen Geräusche aus schattigen Verstecken. Eos hatte gelernt, sie zu ignorieren — wenn sie jederzeit alle Monster aufspüren würde, wäre ihre Arbeit nie vorbei. Das Unheil war mittlerweile überall.
Sobald das Licht schwummrig wurde, kehrte sie wieder in die Unterkunft zurück und wartete die nächsten zwei Stunden ab, bis sie ihre Arbeit beginnen würde. Die meisten ihrer Kollegen befanden sich zu dieser Zeit in den Kneipen, oder in Restaurants — um mit ihren Familien das bevorstehende Fest zu zelebrieren.
Eos wollte niemanden sehen. Umso genervter war sie, als sie bemerkte, dass sich jemand in ihrem Zimmer befand, als sie es betrat.
Sie sah nur die Schuhe, den Saum eines dunkelblauen Rocks, und doch stockte ihr Atem. »Oh, bitte nicht«, presste sie hervor.
»Ich erinnere mich wieder.«
Eos blinzelte nur. »Erinnern. An uns.«
Scarlett nicke — die kurzen Haare wellten sich an den Spitzen. Sie saß auf dem Bett, als sei es ihr eigenes. Ihre Hände ruhten im Schoß. »An alles, leider. Und auch an das, was du mit Hardings Gruppe getan hast.«
»Ich habe mich sehr verändert, tatsächlich.« Eos schloss die Tür — plötzlich waren ihre Arme so träge, dass sie sofort an die Seiten zurückfielen. Sie setzte sich auf einen Schemel in der Ecke; betrachtete die Formwandlerin, wie eine Statue.
»Ich muss dich nicht verstehen. Ich wollte schlichtweg mit dir reden, weil ich nach Brus zurückkehren werde.«
»Nach Brus? Da würde mich-... kein Geld der Welt könnte mich dorthin locken. Was suchst du da noch?«
»Ich bin in der Lage, mich zu verteidigen. Auch, wenn ich es nicht kämpfen will, braucht Veu Rhun Unterstützung. Er hat etwas in Brus zu tun.« Scarlett seufzte so schwer, dass ihr ganzer Körper zitterte. »Ich schulde der Stadt viel. Ich würde sie gern wiedersehen, egal, in welchem Zustand sie sich befindet. Du hast kein Interesse, uns zu begleiten?«
»Willst du mich in die monsterverseuchte Stadt jagen?«
»Es war nur ein Angebot. Ohnehin, Kenga wird dabei sein. Ich wünsche keine Konflikte zwischen euch mitansehen zu müssen.« Die Art, wie sie redete, war faszinierend — und weckte alte Wahrnehmungen. Jeden Buchstaben betonte sie. Eos hatte fast vergessen, wie deutlich die Formwandlerin sprach. »Ich nahm an, du wärst geeignet, weil du bei der Monsterwacht arbeitest... Und Brus ist ebenso deine Heimat.«
Eos zog die Blumen aus ihrem Haar — die sie bearbeitet hatte, damit sie robust wie Stahl waren. Sie starrte auf die glitzernden Blätter. »Du bist nur hier, um das zu fragen?«
»Nein. Ich wollte mit dir reden. Wir wurden sehr brutal voneinander getrennt.«
Ebenso gut hätte man einen Pfeil in Eos' Herz schießen können. Die Nachtschwärmerin sackte leicht nach vorn. »Das stimmt. Ich habe dich vermisst.«
»Ich wünschte«, kam mit gebrochener Stimme aus Scarletts Kehle. »Ich wünschte, ich hätte dich auch vermissen dürfen.«
Eos donnerte mit dem Rücken an die Wand, fuhr sich über das Gesicht; hielt sich beim Antworten die Wangen: »Ohne dich ist alles auf einmal zusammengefallen. Ich wusste nicht, wo du warst. Ich habe ewig warten müssen, bis ich erfahren konnte, was mit dir passiert ist... Da war Brus schon untergegangen. Ich habe Kengas Bruder gefragt, was mit den Formwandlern geschieht.«
»Es ist in Ordnung. Dafür kannst du nichts.«
»War es wirklich schmerzhaft?« Eos konnte nicht aufhalten, dass ihr Bein zitterte; ihre Stimme mitschwang und ihre Sicht verzerrte. Die Blume in ihren Händen fühlte sich plötzlich unecht an.
»Mach dir keine Sorgen. Du hattest deine eigenen Kämpfe.«
»Ich habe sie falsch gefochten.«
Scarlett sagte dazu lang nichts — sie wirkte wie aus der Welt gerissen, während sie die Schultern hob. »Tja«, hauchte sie schließlich. »Leider kann ich das nicht abstreiten.«
Die eigenen Freunde zu verraten; sich auf die Seite der Cruoren zu stellen... Eos hatte nichts getan, was Vergebung verdiente. Und es würde sich nie richtig anfühlen, Liebe zu erhalten. »Ich hatte zwar Gründe, aber-«
»Hattest du definitiv«, stimmte Scarlett zu. Sie stellte sich hin. Ihre weiße Bluse schloss den Hals ein und führte in Spitzen bis unter das Kinn — sie sah aus wie damals in Brus. Stets fein gekleidet, mit Humor und Empathie, aber so leidenschaftlich, dass sie sich dafür gern mit Maschinenöl dreckig machen würde.
Ihre Schritte konnte Eos nur versteinert verfolgen. Als die Formwandlerin vor ihr stehenblieb, verschwand alles andere.
»Es tut mir Leid, dass ich dir nicht geholfen habe.«
»Das ist nicht deine Schuld. Das hast du nicht zu verantworten.« Sie berührte Eos nicht, aber war so nah, dass ihre Ausstrahlung auf der Haut kitzelte. »Das ist die Vergangenheit. Ich bin jetzt hier. Chase und Kenga und Dolunay haben es trotzdem lebendig aus der Stadt geschafft. Im Endeffekt hatte deine Handlung keine Folgen. Lass dich von ihr nicht auffressen.«
»Ich war eine schreckliche Person.«
»Vielleicht warst du eine schreckliche Person«, wiederholte Scarlett. »Oder vielleicht warst du einfach nur verbittert.«
Eos konnte sie nicht länger ansehen — die künstlich wirkende Gestalt, die einst ihre Freundin war; von der sie sich nie getrennt hatte, weil das Leben es für sie getan hatte.
Sie wandte ihren Blick ab.
Die Decke in ihrer Kammer war höher, als sie sie in Erinnerung hatte. Sterne waren auf den blauen Stein gezeichnet worden, Modelle von Vögeln hingen davon hinab. Sie wusste nicht, wie lange sie nur empor sah, um das Gespräch zu vermeiden.
Sie wartete auf treffende Worte, die ihr einfallen könnten, um ihre Gefühle auszudrücken — ihr Kopf blieb jedoch leer. Selbst, wenn sie wüsste, was sie fühlte, wäre sie zu verwirrt, um Sätze zu formulieren.
»Ich wollte dich nicht verlieren«, war daher alles, was Eos sagte.
»Verloren hast du mich nicht. Ich bin hier. Wir durften uns nochmal begegnen. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir jemals wieder aufeinander treffen, war sehr gering.«
»Vielleicht wäre es besser, wenn du mich nicht so gesehen hättest.«
Scarlett sah sie direkt an.
Eos spürte förmlich, wie die Farbe aus ihrem Gesicht wich.
»Ich habe es noch nie bereut, dich gesehen zu haben«, antwortete Scarlett lediglich.
Eos zog die Lippen ein, blinzelte, sammelte sich. »Und was machen wir jetzt?«
»Ich werde nach Brus zurückkehren.«
»Du bleibst auch dort?«
»Ich würde gern mit dir Kontakt halten. Wir werden sehen, wohin wir uns bewegen.«
Eos lehnte sich zurück — sie wollte gleichzeitig Abstand und Nähe und eine Umarmung und allein gelassen werden. »Es tut mir so Leid, was sie dir angetan haben.«
»Wir werden beide damit leben müssen, wie das Leben uns hinterlassen hat.« Scarlett lächelte gequält. Sie legte den Kopf in den Nacken, fächerte sich Luft zu. Ihre Stimme war voller Trauer, zurückgehaltener Tränen — und doch zwang sie Humor in ihre Worte. »Ach, meine Güte, da werde ich ganz emotional.«
Eos konnte nur unbeholfen zusehen, während sie ihren ersten Gedanken aussprach: »Du hast so unglaublich viel durch.«
Ihre Worte lösten unmittelbar eine Reaktion aus. Scarlett krachte auf die Knie und weinte so herzzerreißend, dass sich die Haare auf ihrem Rücken aufstellten.
Eos rutschte auf dem Boden, um den Körper der Formwandlerin zu halten.
Die Welt war unecht, jedes Wort lief in die Leere. Jedes Mal, wenn Scarlett schluchzte, rutschte mehr von ihrer Seele in eine fremde Realität. »Ich kann nicht nach Brus zurückkehren. Aber ich werde dir schreiben, versprochen. Ja? Du weißt, wo ich bin. Ich lasse dich nicht noch einmal allein.«
Das Fehlen ihrer Empathie erschütterte Eos bis auf den Grund. Sie hasste das Gefühl der Vergebung, das sie spürte, als Scarlett sich in ihre Arme schmiegte.
Hatte sie Vergebung verdient?
Scarlett hatte Liebe verdient — so viel war sicher. Wenn es hieß, ihr ein Leben zu bescheren, wie es einmal war, würde Eos die Welt aufopfern.
Ihr Herz war hingegen über den Winter eingefroren. Eos musste zuerst alles daran setzen, sich zu finden, bevor sie eine neue Identität aufbauen konnte.
Sie wusste, dass es wert war, für alles zu kämpfen, was einst gewesen war.
Doch zuerst hieß es, gegen die Monster zu kämpfen — im Dienst der Cruoren. Im Dienst der falschen Regierung.
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