Kapitel 22 - Unbeglichene Schuld
Dolunay ließ sich von dem hohen Gras schlucken, das am Flussbett hochschoss. Der Junge saß neben ihr und las. Immer wieder schaute er auf, strich sich Erde von der Hose, legte den Kopf in den Nacken, um die Sonne zu genießen. Er strahlte tatsächlich eine Ruhe aus, die für ein Kind unüblich war.
»Wie heißt du?«, fragte sie.
»Ich habe keinen Namen. Zumindest habe ich nie einen bekommen.«
»Das weiß ich, aber wie wünscht du, zu heißen?«
Sein Atmen war tief, aber wackelig. Er klopfte mit dem Fingerköchel auf den Einband des Buchs. »Das weiß ich noch nicht. Ich habe keinen Namen gehört, der mir gefallen könnte.«
»Du fühlst dich in der namenlosen Anonymität wohl?«
Verschmitzt schmunzelte er von der Seite. »Ich bin mit Cruoren aufgewachsen. Selbstverständlich. Ich kenne die Vorteile darin.«
Dolunays Schultern sackten herunter. »Sie haben sich nicht viel um dich gekümmert, was?«
»Das musste er auch nicht«, gab der Junge zurück. »Dafür bin ich ja schon erwachsen.«
»Vom Verstand, ja, aber du warst nie ein Kind.«
»Wozu auch?«
Dolunay dachte unwillkürlich an ihre eigene Kindheit zurück. Noch bevor man ihre Fähigkeiten im Bogenschießen entdeckt hatte, hatte sie ein gutes Leben geführt.
Sie war jeden Tag bis Abends draußen gewesen. Kinder durften an einigen der Stätten spielen —
was besonders lustig gewesen war, wenn es regnete. Die Wiesen waren überflutet gewesen, Tropfen waren von den Dächern geprasselt und der Pavillion wurde schnell zur Höhle. Die vielen künstlichen Wasserfälle hatten stets dafür gesorgt, dass man sich fühlte, als sei man Unterwasser.
Bevor sie nach Brus gegangen war, war alles so bunt gewesen. Die Wälder der Aart waren überwuchert mit strahlend violetten Büschen, Blumen in starkem Magenta und türkis-blauen Bäumen.
»Du solltest dich nicht zurückziehen. Vielleicht solltest du die Verbindung zu deinem Inneren Kind wieder herstellen.«
»Lieber wäre es mir, wenn ich vollwärtig erwachsen wäre. Und einen Beruf hätte und mein Leben neu aufbauen könnte.«
Dolunay legte sich zurück. »Du hättest etwas sagen sollen, als Chase nach Weyfris aufgebrochen ist. Wir sind davon ausgegangen, dass du einfach ein kleiner Bursche bist, dem Aufregung nicht gut tut. Er hätte dich mitnehmen können.«
»Ich möchte ganz sicher nicht in eine Stadt«, bemerkte er. »Ein Dorf genügt mir. Aber nicht dieses. Ich glaube, ich will einfach neu anfangen.«
»Du kannst hier neu anfangen. Du kannst Zeit mit den Kindern verbringen und mit ihnen altern. Das neu anfangen ist nicht so einfach. Lass mich dir sagen, es ist eigentlich unmöglich. Die Geister der Vergangenheit schaffen es nicht nur durch Zeit, sondern auch durch die Distanz, um dich heimzusuchen.«
»Hauptsache ich muss keine Cruoren mehr sehen.«
»Möchtest du über damals reden?«, fragte sie vorsichtig. »Darf ich dich fragen, was du für Experimente ertragen musstest?«
»Ich mache da kein Geheimnis draus. Zorn hat einige kuriose Sachen an mir ausprobiert. Irgendwie wollte er mich zu einem Cruoren machen. Vom Verstand, nicht vom Aussehen. Ich sollte ein Spion für ihn werden.«
»Also bist du ein Cruor?«
»Auf dem Papier schon. Aber ebenso ein Mensch. Zorn hat mir den Verstand von einem erwachsenen Cruoren eingesetzt, sozusagen. Ich habe dennoch ein paar Gefühle. Frust, vor allem. Ich hab viel Frust.«
»Stimmt ja. Veu Zorn hat versucht, die Experimente rückgängig zu machen.«
»Ich bin zufrieden, wie ich bin«, sagte er stumpf. »Eine andere Wahl habe ich ja auch nicht. Ich denke, ich habe das beste aus der Situation gemacht. Das einzige Problem ist, dass ich nicht weiß, wer genau ich bin... Das gereifte Kind, als das ich geboren wurde, oder der Cruor. Aber, so Oder so, ich kann damit leben. Ich kann mich ertragen.«
Damit war er zumindest weiter als sie. Sich selbst zu akzeptieren war eine unmögiche Aufgabe, sobald man verheerende Fehler gemacht hatte.
Die nächsten Minuten verbrachten sie schweigend.
Dolunays Finger schmerzten. Den Vormittag hatte sie damit verbracht, an der Spindel zu sitzen, um Oryn unter die Arme zu greifen. Er verkaufte Kleidung aus Schafwolle — im Regelfall tat er dies in Brus. Mittlerweile kamen einige Soldaten zu ihm. Dadurch erhielt das Dorf des Priesters eine Variation kostbarer Lebensmittel, die es — im frühen Jahr und besonders unter diesen Umständen — eigentlich nicht geben könnte.
Als Oryn daher wieder zu ihr kam, rechnete Dolunay damit, dass er sie zu einer weiteren schweigsamen Zweisamkeit zwischen ihnen einladen sollte, wo sie arbeiteten.
Doch Oryns Blick war einer, den sie schon zu oft von anderen Aart bekommen hatte: Sorge.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Er blickte hinter sich, dann zu dem Jungen im Gras herunter. »Ich denke, er sollte dafür gehen.«
»Er verträgt das schon«, haspelte Dolunay schnell. Wärme flammte in ihrem Herzen und krabbelte über ihre Glieder. Es war Panik. Plötzlich wusste sie nicht wohin mit sich, aber am liebsten wäre sie gelaufen. »Was gibt es?«
Oryn schaute weiterhin auf den Burschen herab. »Asches Dorf wurde angegriffen«, sagte er schließlich vage. »Von einigen willkürlichen Angreifern, die aus Brus geflüchtet sind.«
»Können sie sich verteidigen?«, fragte Dolunay — Gedanken leer. Sie wollte laufen.
Oryn schaute wieder zum Jungen. »Sie sind nicht viele Leute. Wir müssten ihnen helfen.«
»Tun wir es?«
»Ich wollte es dir anbieten. Ich dachte, vielleicht, möchtest du die Schuld begleichen, die du fühlen könntest.«
Um ihre Schuld zu begleichen, müsste sie so viel mehr tun. »Eure Leute gefährden?«
»Unsere Leute, Dolunay, du gehörst jetzt zu uns.«
»Ich will dennoch nicht die Leben der anderen riskieren.«
»Ich will dich nicht hetzen, Liebes.« Sie hätte ihre aufgestaute Energie am liebsten genutzt, ihn für diesen Spitznamen zu schlagen. »Aber die Entscheidung muss schnell fallen.«
»Ich helfe ihnen allein«, beschloss sie. Als Dolunay aufstand, war die Anspannung in ihren Beinen einerseits lähmend, andererseits aufputschend. Sie wurde durch ihr Kraft fast umgeworfen. »Ihr bleibt hier.«
»Ich begleite dich.«
Sie lief schon an ihm vorbei, als er ihr einen Bogen entgegenstreckte. Sie nahm ihn an sich.
Oryn preschte zu ihr vor, um sie zu flankieren. »Ich dachte mir schon, dass du helfen willst.«
»Ich bleibe auf den Dächern. Ich werde mich nicht in die Menge stürzen.« Erst ihre Anführerin verlieren; dann angegriffen werden; der harte Winter... Diese Siedlung hatte eigentlich keine Überlebenschance.
»Wir werden nicht immer da sein, um ihnen zu helfen.«
Dolunay wusste nicht, warum er das sagte. In diesem Moment war es das unpassendste, was er hätte unter den wachsamen Augen der Götter aussprechen können. »Und dennoch tun wir es jetzt.«
»Ich wollte es nur betonen, weil«, er hielt inne. »Egal. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür.«
Der Hügel führte sie aufwärts, und plötzlich ließ auch Dolunays Kraft nach. Am liebsten wäre sie auf die Knie gefallen und hätte geschrien. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Sie wollte so ein Leben nicht mehr führen.
»Sag es«, forderte sie, um sich abzulenken.
»Mein Vater und ich überlegen, irgendwann eine eigene Aart-Siedlung aufzubauen, wenn alles vorbei ist.«
»Und du denkst, ich werde mitkommen?«
Seine Stimme war von Atemlosigkeit ausgelaugt, als er antwortete: »Ich denke, dass du endlich zu deinen Ursprüngen zurückkehren kannst.«
»Ich möchte dahin nicht zurück. Ich habe mit dieser Vergangenheit abgeschlossen.«
Ein ausladender Baum mit ersten Blättern erstreckte sich über der Fläche. Dolunay hätte ihn nicht ein zweites Mal bedacht, wenn Oryn nicht dorthin gesehen hätte.
Ein dunkler Stein tat sich aus dem Boden hervor. Eine schräge Inschrift hatte darauf Platz gefunden und sie brauchte es nicht zu lesen, um zu spüren, dass es sich dabei um Asches Ruhestätte handelte.
Es war ein Grabstein.
Wenn Chase das wüsste.
Schon Dolunays Herz sackte in den Boden und wurde dort von dem gefressen, was von Asche übrig blieb.
»Oh, oh nein.« Nun musste sie sich doch hinhocken, um nicht umzufallen.
Das war das Grab für eine Frau, die wegen ihr gestorben war... Wie so viele davor.
Dolunay hatte noch nie vor einem menschlichen Grab gestanden.
Oryn war ebenfalls stehengeblieben. Sein befremdliches blaues Leuchten erhellte den dunklen Stein. Die einzelnen Striche wurden sichtbar.
Die Sonne kämpfte mit dem unwirklichen Lichtkegel, den auch Dolunay ausstrahlte. Ihre Hände zitterten.
Er stellte sich hinter sie. »Wir können jederzeit umkehren«, bot der Aart an.
Doch Dolunay starrte nur auf die Schrift, ohne sie zu lesen. »Oh, Sichel...«
»Hey. Das ist nicht deine Schuld.« Oryn klang, als würde er mit einem Kind reden.
Es war egal. Asches Tod ließ sich nicht rückgängig machen.
Dolunay stand auf. »Für solche Emotionen ist keine Zeit.«
»Für sowas muss man sich immer Zeit nehmen.«
»Bitte?«
»Für sowas-«
Sie schaute zu ihm zurück, während sie über die Wiese stapfte. »Da draußen sterben Leute.«
»Und du bist auch nur eine Person, die innehalten muss.«
»Das kann man hinten anstellen.«
»Wirklich, ich habe allmählich keine Lust mehr, dich zu verstehen, verdammt.« Er lief ihr nach — die Schritte so schwer, dass sie sie hören konnte. »Handelst du aus dem Gefühl von Schuld, oder weil du wirklich Mitleid mit den Menschen dort hast?«
»Oryn. Es ist nicht die-«
»Scheiß auf die Zeit, Dolunay. Es ist doch unmöglich, dass jemand so verbissen sein kann, wie du. Man könnte ja fast denken, dass du dem Cruorengott Allerick anhängst.«
Das tat es.
Alle Selbstbeherrschung verließ ihren Körper.
»Ich habe immer versucht eine gute Aart zu sein!«, brüllte sie. »Ich habe immer, immer, den Lehren zugehört. Ich bin zu den Stätten gegangen und habe weniger gezweifelt, als viele andere! Ich würde niemals-«
»So meinte ich das nicht.« Er klang so ruhig. So unpassend gelassen.
»Du kannst so leicht reden! Du bist der Sohn eines Priesters! Du würdest immer Betätigung erhalten, weil er dein Vater ist!«
»Ich weiß, dass du Vesp Eirian angehörst. Ich zweifle daran nicht. Ich meine nur, du bist so... so verbittert.«
»Bitte, dann ist es eben so.«
Er ließ nicht locker, stattdessen packte er sie am Arm, um sie zum Stehen zu bringen. »Ich dachte, du gewöhnst dich noch an andere und suchst irgendwann Gespräche. Aber du bleibst für dich. Man sieht dich den halben Tag nicht. Du tust nichts, was ich für erzählenswert halte. Dabei bist du eine interessante, talentierte Frau. Du brauchst dich nicht verstecken.«
»Deine Beschwichtigungen brauche ich nicht.« Dolunay deutete auf den Baum zurück, unter dessen alte Äste der Grabstein lag. »Ihr Tod ist meine-«
Etwas zischte leise und Dolunay hielt sofort inne, um ihren Kopf dorthin zu wenden.
Flammen stoben in der Ferne auf. Eine dunkle Wolke verschlang innerhalb weniger Sekunden die Fläche.
Das rote Unheil züngelte in den blauen Himmel empor. Es war Feuer. Asches Siedlung brannte plötzlich lichterloh — da, wo vor Augenblicken noch nichts zu sehen gewesen war.
»Da können wir nichts mehr machen.« Es dauerte, bis Dolunay realisierte, dass sie selbst diesen unsensiblen Satz ausgesprochen hatte.
Oryns Hand fand auf ihre Schulter, als er sie umdrehte. Sie wandten dem Geschehen den Rücken zu — als haben sie nichts gesehen.
Sie wagte sich nicht einmal zu atmen, doch er fand zu ganzen Sätzen: »Man kann die Welt nicht retten, Dolunay. Schuld ist die älteste menschliche Wunde. Sie wird nicht weniger, aber je länger die Gesellschaft besteht, desto natürlicher wird sie. Du trägst nicht mehr, als viele andere.«
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