Kapitel 21;1 - Wahre Monster
Jades Antlitz war vergleichbar mit tausenden Kristallen, die schräg aufeinandergesetzt worden waren, als sie durch die Glaswand schaute, die sie von Scarlett trennte. »So sieht man sich auch mal wieder. Ich bin überrascht, dass du noch bereit bist, mit mir zu reden.« Ihre Stimme war zwar im Scherz verzogen, doch die Wahrheit hinter ihren Worten wog so schwer wie Dämpfe eines Krematoriums.
»Ich würde gern mit dir reden, wenn du Zeit hättest?«
»Ausnahmsweise für dich.« Jade beendete, was auch immer sie für eine Arbeit an den Kristallturm vornahm und stakste vor. »Was gibt es denn?«
»Ich bin auf drei unserer Gäste getroffen.«
»Hm.« Jades Mundwinkel schossen wissend hoch. »Und?«
Scarlett versteckte die Arme hinter dem Rücken. »Ich erinnere mich durchaus. Irgendwie. Du kennst ihre Namen?«
»Hm-mh.«
»Und... Kennst du Eos?«
Jades Gesichtsausdruck änderte sich. Ihre Augenbrauen schossen hoch, doch sie nickte heftig. »Ist sie auch hier?«
»Ja. Ich bin allen von ihnen am selben Tag begegnet. Und alle haben mich erkannt.«
»Das wundert mich nicht. Du hast ihnen viel bedeutet.« Sie setzte sich auf einen Hocker, der in der Ecke stand. Die hellen Flecken auf ihrer Haut hatten die Farbe von edlem Papier. »Sie hat, genauso wie du, zu den drei Männern gehört. Und eine Aart war auch dabei... Ich hab nur... Ich hab vergessen, wie sie heißt.«
»Dolunay«, hauchte Scarlett. »Ihr Gesicht ist mir zwar nicht in Erinnerung geblieben, aber ihr Name.«
»Die sind befreundet. Ihr alle. Scarlett, willst du nicht versuchen deine Erinnerungen zurückzuerlangen?«
»Das gehört sich nicht für uns. Wir sind zum Arbeiten geschaffen, nicht zum Vergnügen.«
»Ich bitte dich«, zischte Jade. Der Humor war wackelig, als versuche sie ihre Wut zu verschleiern. »Wir haben einen Cruoren hier, der zum Mensch geworden ist. Wieso sollten wir dann keinen Formwandler hier haben, der sich an seine Vergangenheit erinnern kann? Ich tu's ja auch.«
Eine genügte auch. »Ja, aber du bist...« Argwöhnisch, wollte Scarlett sagen. Auffällig, zu überreizt, nicht natürlich.
»Das ist meine Persönlichkeit. Damals hattest du damit auch keine Probleme gehabt.«
Sie erinnerte sich aber nicht an damals. »Was haben diese Männer mit mir zu tun?«
Jade seufzte. »Das ist eine sehr kritische Vergangenheit. Lass mich dir einfach sagen, es hatte seine Gründe. Und irgendwo hast du das richtige getan. Ich kann dir die Geschichte nicht erzählen, das muss einer von denen machen. Mit Caden hast du dich gut verstanden. Er handelt viel, um die Leute in seinem Umfeld zu beeindrucken. Und manchmal sind es die falschen Dinge, die er tut. Aber so ist jeder von uns. Vielleicht kann er dir also beibringen, wie Menschlichkeit funktioniert. Ihr seit eng miteinander... aber nicht... zu vertraut. Fang vielleicht mit ihm an.«
Scarlett nickte. »Das ist der Mensch mit den braunen Haaren?«
»Versteinertes Gesicht, gruselig-blaue Augen.«
»Ich weiß Bescheid. Danke.«
***
Caden hockte hinter der Arztpraxis unter einem Baum. Der Regen prasselte über den Blättern nieder und der einzige Platz frier Fläche war unter den dicken Ästen. Er sah ihr mit einem unschlüssigen Blick dabei zu, wie sie sich näherte. »Haben Sie eine Pause?«
»Zurzeit übernimmt Jade die Untersuchungen. Ich unterstütze oftmals Vae Seel bei ihrer Arbeit. Sie ist mit Veu Rhun im Rathaus... also habe ich erstmal frei.«
»Möchten Sie sich zu mir gesellen?«
Scarlett schaute erst auf die nasse Erde, dann auf ihren Rock, bevor sie sich neben ihm niederließ. Sie atmete die Luft ein — die plötzlich roch, wie es warme Frühlingstage wohl immer taten. Unbschwert, frisch, voller Schuld und dabei benebelte Frost ihre Sinne. Sie hatte keine Erinnerung an den Frühling, oder den Herbst davor. Sie wusste nicht, wie es sich anfühlte, wenn die Natur atmete und ob es stimmte, dass die Menschen diese Zyklen des Lebens und Sterbens wirklich genossen.
Ihr blieb nur der Moment. Und dieser war angespannt. »Ich hoffe, es verletzt Sie nicht, dass ich mich nicht an unsere Freundschaft erinnere.«
Doch sein Gesicht verriet gerade das — Schmerz. Er legte seine Hand in den Nacken, bevor er die kurzen Haare kraulte, die dort wuchsen. »Dafür können Sie nichts.« Er rückte zum Baum zurück, um sich an diesen zu lehnen. »Haben Sie sich mit Jade ausgetauscht?«
»Ja. Sie hat mir gesagt, dass ich mit Ihnen reden sollte.«
»Worüber reden?«
Scarlett wollte am liebsten aufstehen und wieder hineingehen. Aber wenn sie etwas gelernt hatte, dann, dass keine Person so war, wie sie schien. Seel hatte eine ruhige Seite, Turem konnte empfänglich sein... Veu Rhun hatte Gefühle und Jade war, laut eigener Angabe, schon immer nervig gewesen.
Vielleicht schöpfte Scarlett ein Vorbild aus den falschen Dingen, doch sie fühlte sich angehalten, sich selbst kennenzulernen; sei es entgegen der Normen. Vielleicht war ihre Geschichte keine, die davon handelte, anderen zu dienen, sondern eine der Akzeptanz ihrer Vergangenheit.
»Darüber, wie ich früher war. Erzählen Sie mir gern meine Geschichte.«
Caden musste scheinbar nicht überlegen. »Ihre Vergangenheit ist eigentlich recht löblich. Sie haben eine private Bildung finanziert bekommen, haben schon als Jugendliche viele Jahre in der Grenze gearbeitet, die die Stadt mit Energie versorgt hat. Nebenbei haben Sie im Armenviertel als Lehrerin ausgeholfen.« Er kniff die Augen zusammen. »Ich weiß nicht mehr, wie alt Sie gewesen waren, als Sie in Chase Hardings Kneipe gelandet sind.«
»Chase?«
»Der Mann, dem Sie als erstes begegnet sind. Er ist... war Eigentümer dieser Kneipe gewesen. Wenn ich mich richtig erinnere, sind Sie in das Gebäude gegangen, weil es ein Unwetter gab.«
Etwas anderes würde einen Formwandler auch nicht in eine Kneipe bringen. Sie vertrugen keinen Alkohol — diese Warnung hatte sich in ihre Erinnerungen eingebrannt.
»Die Kneipe lag im Armenviertel?«, eine belanglose Frage, doch Scarlett stellte sie fast automatisch.
»Ziemlich nah davor.« Caden winkte ab. »Zumindest haben Sie sich über Ihre Ideale mit ihm unterhalten. Chase kommt aus dem Armenviertel und setzt sich auf die ein oder andere Weise dafür ein, die Ungerechtigkeit dort zu bekämpfen und einigen Familien Geld zu beschaffen.«
»Sehr löblich.«
»Das fanden Sie damals auch. Er hat Ihnen angeboten, bei ihm zu arbeiten, aber das haben Sie anfangs abgelehnt. Bis eines Tages ein Unfall in der Grenze aufgetreten ist und einige Monster an die Oberfläche gekommen waren. Einer Ihrer Kollegen wurde verletzt und Sie haben sich zurückgezogen. Nach einiger Zeit kamen Sie auf Chase zurück.«
»Das fühlt sich nicht an, als erzählen Sie mir meine Geschichte, sondern mehr die, eines fremden«, gestand Scarlett.
»Naja, Sie sind ja auch verschwunden im letzten Herbst. Man brauchte Sie im Westen. Und Ihre Fähigkeiten waren in dem Fall relevanter, als Ihre Erinnerungen.«
»Schauriger Gedanke.«
Caden fuhr fort: »Sie haben eine Wohnung gehabt, in Ihrer Freizeit viel und gern gelesen, gelernt und Aufzeichnungen über die Welt geführt... Für den Fall, dass Sie jemals Ihre Erinnerungen verlieren. Das war Ihre größte Angst.«
Was eine Ironie. »Existieren diese Bücher noch?«
»Die wurden in Brus wohl zurückgelassen.« Caden starrte in die Ferne. »Ich kann Sie beruhigen, Ihre Persönlichkeit hat sich nicht zu stark verändert.«
Wenn dem so wäre, würden Eos und Jade nicht von ihr verlangen, Ihre Erinnerungen zurückzuerlangen. »Und diese Nachtschwärmerin?«
»Die war in unserer Gruppe. Chase hat einige Leute beschäftigt. Die einen haben in der Kneipe ausgeholfen, andere haben ihm Informationen geliefert, wieder andere haben Güter besorgt und im Armenviertel verteilt. Unsere Gruppe war für Aufträge bestimmt, die nur Hardings eigenem Profit dienten... Oder seinem Durst nach Wissen.«
»Das haben Sie sehr kryptisch beschrieben.«
»Beabsichtigt. Ich möchte Sie nicht mit Infromationen erschlagen. Davon ab, habe ich Angst, wie Sie reagieren, wenn Sie die ganze Geschichte hören.« Er winkte erneut ab, bevor Sie etwas sagen konnte. »Ich würde Eos gern wiedersehen. Wir haben Sie bei unserer Flucht aus Brus aus den Augen verloren. Ich nahm an, Sie hat es nicht überlebt. Ich möchte mit ihr sprechen.«
»Ich weiß, wo der Stützpunkt ist, in dem die Monsterwacht untergebracht ist. Ich bezweifle allerdings, dass wir sie dort ansprechen können. Sie schläft mit Sicherheit. Aktuell arbeiten sie nur nachts.«
»Wir könnten es versuchen, nicht?«, fragte Caden.
»Es ist ein langer Weg.«
»Der soll es mir für ein Gespräch mit Eos wert sein.«
Scarlett legte eine Hand auf seinen Schoß, als sie bemerkte, dass er bereits aufstehen wollte. »In Ordnung, aber Sie erzählen mir vorerst etwas über sich.«
»Über mich gibt es nicht allzu viel zu berichten. Ich stamme aus gutem Haus, bin ohne Mutter aufgewachsen. Mein Vater ist Offizier und dementsprechend ebenfalls hier in Weyfris, eigentlich. Ich habe lang allein gelebt und mich, sowie meine Schwester, großgezogen. Ich hatte Angestellte, ja. Die waren auch gute Freunde, aber können keine Familie ersetzen. Ich habe schon als Jugendlicher bei Chase angefangen, weil ich meine Schwester beschützen wollte. Und... ja... Bei ihm haben wir beide uns kennengelernt und sind irgendwann Vertraute geworden.«
»Ihr Vater ist in Weyfris«, wiederholte sie, als sei es die einzige Information, die sie realisiert hatte.
»Ich habe ihn noch nicht aufgesucht. Seine Adresse kenne ich zwar, aber es ist komplizier. Ich traue mich nicht.«
»Das ist schade.« Sie wollte in das Leben eintauchen, das sie vergessen hatte. Am liebsten hätte sie jeden Aspekt neu erlebt. Das beste wäre, wenn sie die Vertrautheit zu Caden erneut aufbaute, auch wenn es eigennützig war. »Wie wäre es, wenn wir zuerst Eos aufsuchen und anschließend Ihren Vater?«
»Das wäre furchtbar. Aber furchtbar notwendig.«
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