Kapitel 20;2 - Leeres Spiegelbild
Rhun starrte mehrere Minuten nur in die Leere, während die anderen beiden Wesen — die sich Cruoren schimpften — in einem langen, ausführlichen, gefühlvollen Gespräch vertieft waren. Es war ihm egal, worüber sie philosophierten. Es war ihm egal, wenn er womöglich das Thema war.
Er arbeitete mit dem Kiefer, zog die Wangen ein. Er war zwischenzeitlich wieder aufgestanden, um sich im Spiegel anzusehen. Jeder würde erkennen, dass er anders war. Er sah weder typisch-menschlich aus, noch wie ein Cruor. Seine Hörner waren nicht die, eines Nachtschwärmers und seine Augen waren gänzlich weiß — charakterlos.
Gern hätte Rhun behauptet, es sei ihm egal, angestarrt zu werden, aber das war es nicht. Nicht, wenn er so aussah. Nicht, wenn alle Menschen bemerkten, dass er ein Cruor war und alle Cruoren dachten, dass er anders war.
»Sie sind ein attraktiver Mensch«, behauptete Turem, als habe er seine Selbstzweifel bemerkt. »Ich war überrascht, was sich unter Ihrer harten Schale verborgen hat.«
»Ein gefühlvoller Möchtegern-Cruor, der seine Heimat verraten hat.«
»Veu Rhun. Wir hatten alle eine sehr aufwühlende Vergangenheit. Ihre Handlungen sind ein Produkt daraus.«
Rhun sah ihn an. »Ihnen ist bewusst, dass die drei Männer, die ich mitgebracht habe, Verbrecher sind?«
»Es sind Leute, die bemüht waren, ihr Überleben zu sichern, unter der Führung der Cruoren«, verbesserte Turem. »Wer weiß, wie wir geworden wären, wenn man uns nicht zu Cruoren umgewandelt hätte.«
Dieser Gedanke stach in Rhuns Brust. Wenn Harding das wüsste... Er könnte Rhun ebenso wenig hassen, wie dieser ihn. Sie waren sich so ähnlich, es war fast lachhaft.
Seel legte den Kopf schief. »Die anderen Cruoren wissen von Ihrer Umwandlung, Veu. Man respektiert Sie. Wir haben Ihre Geschichte zu Ihren Gunsten geändert, damit Sie weiterhin Ihre Arbeit ausüben können. Niemand weiß von Ihrer Tat in Brus.«
»Ich habe hier bereits Arbeit?«, fragte Rhun. Er tastete seine Hörner entlang. »So lang habe ich nicht als Herr der Stadtwacht gearbeitet, damit-«
»Das stimmt«, gab Turem zu. »Wir haben Sie nicht gerettet, weil wir Sie hier brauchen. Weyfris hat genug Studenten, die ziemlich zuverlässig die Arbeit in der Stadtwacht übernehmen könnten. Ehrlich gesagt, niemand hielt es für unbedingt notwendig, Sie zu retten, da der Vorgang sehr zeitaufwendig ist und einiges kostet. Ich wollte Sie retten.«
Rhun schaute die beiden an. Er überlegte lang, ob er aussprechen sollte, was er dachte. Schließlich erwiderte er: »Aber auch nur, weil Sie sich mit mir verbunden fühlen, Veu Turem. Weil Sie dachten, dass ich freiwillig menschlich werden wollte. So wie Sie.« Es war Sympathie. Turem fühlte Sympathie. Er dachte, er habe einen Gleichgesinnten gefunden.
»Ja, Veu.«
Rhun war sich nicht sicher, ob ihn das beruhigen sollte. »Und die drei Herrn?«
»Niemand weiß, wer sie sind, außer sie sorgen dafür. Selbstverständlich gibt es hier einige Flüchtlinge aus Brus, die den Namen Chase Harding kennen«, erklärte Seel. »Ich habe Ihren Freunden bereits mitgeteilt, wer Sie sind. Die Reaktionen waren geteilt.«
»Du musst Veu Rhun jetzt nicht damit belasten«, unterbrach Turem. Er lehnte sich vor. »Ich bin überzeugt, sie gewöhnen sich dran.«
»Die Frage ist, ob ich mich daran gewöhnen kann-«
»Am Besten, Sie werden sich heute nicht mehr überanstrengen, Veu. Ich schlage vor, Sie werden gleich etwas essen und dann zu Allerick sprechen, wenn Sie sich dafür bereit fühlen.«
Zu dem Cruorengott. »Was sollte ich sagen? Alles, was ich- das- die Cruoren-«
»Dafür trägt Allerick keine Schuld«, sagte Turem. »Wir sind nach seinen Werten erzogen wurden. Nur, weil Sie nicht wie er aussehen, haben Sie sich nicht von ihm entfremdet. Und nur weil andere Cruoren wie er aussehen, bedeutet das nicht, das seine Hand hinter ihren Handlungen steckt.«
»Ich glaube an unsere Traditionen«, bekräftigte Rhun. »Doch ich fühle mich nicht, als sei ich es wert... Nach alldem.«
»Sie werden sich schon noch finden, hm?« Seel erhob sich. »Ich bin jederzeit für Sie ansprechbar, Veu Rhun. Turem wird währenddessen endlich seine Freizeit genießen, bevor die Praxis wieder ihren Betrieb aufnimmt.« Seel fasste ihm beim Vorbeigehen auf die Schulter.
Turem schnappte ihre Hand, bevor sie sie wegziehen konnte. »Man könnte fast denken, dass du nichts anderes mehr zu sagen hast, so oft, wie du meine Schlafangewohnheiten ansprichst.«
»Und ich werde damit fortfahren, bis ich Ergebnisse sehe.«
Rhun starrte nur. Seine Gedanken wiederholten immer wieder: Mensch. Mensch. Mensch.
***
Das Fenster überblickte die Straße, wo die Stadtwacht mit grellen Fackeln ihre Runden lief. Die zwei Männer unterhielten sich miteinander, während sie sich umsahen. Der Kegel des Lichts tanzte über die Hauswände auf der anderen Seite und für einen Augenblick verwechselte Rhun den Schatten einer Statue mit einem Monster.
Auf einem Tablett lagen einige aufgeschnittene Früchte, ein Stück bitteres, selbstgebackenes Brot und ein Behälter mit Marmelade. Abends Marmelade zu essen, schien gegen menschliche Prinzipien zu verstoßen — zumindest hatten sich Caden und Harding über ihn lustig gemacht, als er es einmal in der Waldsiedlung gegessen hatte.
Es sollte Rhun recht sein, gegen menschliche Präferenzen zu verstoßen. Dann konnte er diesen Mördern einerseits vorführen, dass ihre Moral keine Rolle spielte, und andererseits konnte er sich selbst beweisen, dass er nicht komplett-menschlich geworden war.
Er war dankbar für die Ruhe, die der Raum brachte. Er hatte lange nicht mehr wirklich für sich sein können. Mit den dicken Wänden, der ruhigen Einrichtung und der Gewissheit, außer Gefahr zu sein, wurde ihm wieder bewusst, wie angenehm es war, allein zu sein. Und vor allem sicher zu sein.
Die Anwesenheit von anderen brachte nichts, als ein höheres Risiko für Gefahr — das war ein logischer Fakt. Dennoch, Rhun musste mit Harding ein Gespräch führen.
Etwas plagte seinen Kopf, das er vorhin aus dem Gespräch mit Turem entnommen hatte. Cruoren waren Kinder aus dem Armenviertel.
Es konnte kaum möglich sein, dass es niemand bemerkte, wenn Menschen verschwanden — auch, wenn sie klein waren. Kinder konnten laut sein. Und Rhun bezweifelte, dass man Kinder so leicht mitnehmen konnte, wie Zorn es damals getan hatte.
Rhun stellte das Tablett auf seinem Nachttisch ab. Er schlich sich heraus, in den plötzlich dunklen Flur, und bewegte sich zu dem Zimmer, was Seel ihm vor einigen Tagen gezeigt hatte.
Nur Caden saß auf dem Bett und starrte ihn erschrocken an.
»Guten Abend«, brachte Rhun heraus. »Ich würde gern ein Gespräch mit Chase Harding führen.«
»Keine Sorge, Veu, Ihr bester Freund ist in der Bücherei.« Caden presste ein Lächeln auf seine Lippen, das unerträglich war.
Rhun fühlte sich wie ein Eindringling, als er ihm den Rücken zuwandte. Das Haus hatte er nie wirklich kennenlernen können. Er wankte durch die Flure, eine Treppe aufwärts — wo er feststellen konnte, dass seine Schmerzen in den Beinen nicht verschwunden waren. Er krallte sich an seinen Gehstock, als hinge sein Leben zwischen den goldenen Hörnern.
Die Bibliothek stand offen. Sie führte zu einem Turm herauf, doch Chase Harding saß auf einem Sessel; eine Zeitung über dem Schoß und eine Tasse vor sich. Er wirkte mehr, wie ein Geschichtenerzähler, als der gefährliche Mann, als den man ihn kennengelernt hatte. Als sein Blick zu Rhun fand zog er die Brauen zusammen. »Suchst du mich immer noch Heim, Cruor?«
Es gab keine Worte, die beschreiben konnten, wie dankbar er dafür war, mit diesem Begriff angesprochen zu werden. »Es ist sehr angenehm, dass es sich zwischen uns nicht geändert hat.«
»Du klingst immer noch so seelenlos wie zuvor.«
Seelenlos... Rhun wusste nicht, ob er lieber das war, oder menschlich. »Gut, dass du es anspri-«
»Ich bin nicht dein Seelsorger.« Harding faltete die Hände auf dem Schoß. »Such dir Eltern.«
»Ja. Deswegen bin ich hier.« Rhun trat näher, bis er die großen Überschriften auf der Zeitung lesen konnte. »Wie alt bist du?«
Harding schlug die Zeitung zu. »Zu jung um dein Vater zu sein, auf jeden Fall.«
»Du müsstest auch... Etwa dreißig sein.«
»Und?«
»Hat dir Vae Seel erzählt, dass Cruoren damals Kinder aus dem Armenviertel waren?« Rhun wartete auf eine sichtbare Reaktion in seiner Haltung, doch es folgte nichts.
Chase lehnte sich zurück. »Ja. Und? Willst du Mitleid? Für etwas, an das du dich nicht erinnerst?«
»Cruoren-Generationen sind recht groß. So viele Kinder kann das Waisenhaus gar nicht hervorbringen. Wenn, dann muss jedes einzelne Kind aus dem Armenviertel entrissen werden. Auch die, die Eltern haben.«
»Ich bin offensichtlich kein Cruor.« Harding lächelte, ohne die Zähne zu zeigen. Er war vorlaut, wollte provozieren, versuchte etwas zu verstecken.
»Hat man dich damals deiner Familie entreißen wollen?«
Der Mann zuckte mit den Achsen. »Das spielt doch keine Rolle. Manche Eltern verteidigen ihre Kinder. Es tut mir Leid, dass deine es nicht haben. Willst du das hören?«
»Also haben deine Eltern dich beschützt?«
»Vielleicht.«
»Deine Eltern sind gestorben, als du sehr jung warst.« Das war so viel, wie Rhun damals über den Mörder gelernt hatte, als er sich mit der Stadtwacht auseinandergesetzt hatte. Familie war eine Schwäche. Doch Chase Harding hatte keine.
»Ja.« Er hielt inne. »Meine Tochter auch. Also? Das Armenviertel bringt nichts anderes als den Tod mit sich.«
»Du hast eine sehr tragische Geschichte. Das tut mir Leid.«
»Das kommt zu spät.« Harding legte den Kopf schief. »Das brauchst du nicht zu sagen, nur weil du jetzt menschlich bist.«
»Das ist zweifellos keine Ausrede dafür, was wir mit den Kindern getan haben.«
»Korrekt.« Er holte Luft. »Meine Eltern sind in dem Prozess umgekommen. Ich bin bei meinem Onkel aufgewachsen.«
Also konnte er fliehen, bevor man ihn geschnappt hatte. »Und... Du... Wie alt warst du? Wie alt waren wir?«
»Um die drei Jahre.«
»Erinnerst du dich?«
»Nein.« Er zog die Lippen ein. »Ich erinnere mich an vieles nicht.«
Rhun wusste nicht, was das bedeutete — das menschliche Leben allgemein — doch er bemerkte, dass das Thema unangenehm war und zäh von der Zunge ging. »Du bist ein gebrochener Mann.«
»Vergleich dich nicht mit mir.« Chase lehnte sich zurück. Im Licht des Kaminfeuers erschien er älter, weiser und nahezu zerbrechlich. »Deine Geschichte ist ebenso bitter.«
Rhun spürte eine Bewegung auf seiner Stirn. »Bringst du nun doch Freundlichkeit mir gegenüber auf?«
»Nein.«
»Nun, du willst offensichtlich nicht wie ein charmanter Mensch wirken.« Rhun hielt die Luft an und wagte sich nicht, noch etwas hinzuzufügen.
»Lass uns darauf einigen, dass du immer ein Cruor bleiben wirst. Du bist nichts anderes.«
»Ich habe auch, zugegeben, Angst davor, etwas anderes sein zu können. Ich möchte weiterhin das sein, als das ich aufgewachsen bin. Veränderungen sind kräftezehrend.«
»Du bist das, als das du erzogen wurdest. Ich habe es schon zu dir gesagt. Du wirst immer ein Cruor sein. Es ist mir egal, was aus dir wird.«
»Du wusstest also, dass Cruoren menschlich sind?«
Harding antwortete lange nicht, stattdessen fixierte er das Feuer, als finde er die Antwort zwischen den Lohen. »Ich weiß vieles nur, weil ich eins und eins zusammenzählen kann. Also nein. Ich wusste es nicht. Aber ich dachte es mir.«
Wäre er kein Mörder, hätte Rhun ihm fast zugesprochen, dass seine Fähigkeiten beeindruckend waren. »Woher hast du all deine Informationen?«
»Indem ich Geduld habe und angsteinflößend bin. Genauso wie ihr.«
Rhun schaute Chase Harding lang an. Der Mann, vor dem er so lang gewarnt worden war, saß vor ihm mit einer Tasse Tee und — wie er jetzt bemerkte — Süßigkeiten. Er trug nicht einmal ein Schwert mit sich. Seine Schultern hingen herunter, die Lider waren träge. Er war nah — auf mehreren Ebenen, weil er es zuließ. »Ich hätte niemals gedacht, dass ich mit dir solche Gespräche führe...«
Harding schaute ihn ausdruckslos an. »Findest du das ironisch?«
»Ich habe zumindest gelernt, dich als Person zu akzeptieren. Ich verstehe, dass alle Menschen ihre eigenen Beweggründe haben.«
Wind donnerte gegen die Scheiben. Der Kristall in der Ecke surrte und die Luft schmeckte nach Rauch. Wärme zog sich unter Rhuns rote Kleidung.
Chase hatte die Augenbrauen leicht hochgezogen. Der Ausdruck seiner Augen war nicht zu deuten. Er schaute wieder weg. »Dafür, dass du erst seit kurzem Gefühle hast, bist du sehr reif.« Chase verzog die Stimme. »Hast du fein gemacht, kleiner Junge.«
»Mein Cruorenherz kann diese Liebe ja gar nicht aushalten, Harding.«
Der Mörder ließ diese Aussage keine Sekunde bestehen: »Du hast kein Herz.«
»Ich vergaß.«
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