Kapitel 20;1 - Leeres Spiegelbild
Rhun fiel tiefer, als er es für möglich gehalten hätte. Sein Verstand fing ihn nicht auf; keine Arme hatten ihn umschlossen. Es könnte sich die unterste Höllenebene unter ihm erstrecken und er könnte nichts anderes tun, als zu fallen. Die Blitze an Erinnerungen schlugen in ihm ein, drängten sich auf und zerschmetterten alles, das ihn noch zusammengehalten hatte.
Er sah Brus, die Frau an den Kristalltürmen, Declan, die Grenze, Kellen, als er ihm die Wahrheit über die Stadt erzählte... Er sah die Monster, die Monster die zu ihm sprachen, ihn packten und herunterzogen — immer tiefer und schneller, wo es nichts gab; nicht einmal sein eigenes Echo. Kein Licht, auch keine Dunkelheit, nur Leere. Kein Versprechen auf Veränderung, oder Nähe.
Rhun war allein mit sich selbst. Und es war auch besser so.
***
Als Rhun erwachte, veränderten sich die Richtungen, die das Leben sonst hatte. Er erwartete eine Wand zu seiner Rechten. Da war keine. Nervosität bildete ein Loch in seiner Brust, doch er wagte nicht, zu sprechen. Er wollte nicht stören, für den Fall, dass seine Lehrer in der Nähe waren. Doch er hatte keine Lehrer mehr, hatte er?
Er war erwachsen. Er lebte allein. Nein, er war nicht in Brus. Er war in der Arztklinik. Er war erwacht. Er lebte, hatte überlebt — hatte er?
Rhuns Gedanken schwiegen jäh. Er schob sich auf dem Kissen höher. Es war dunkel, roch nach Wachs. Sein Gesicht schmerzte. Etwas ragte in seinem Sichtfeld auf und er war allein.
Rhun wurde panisch in seinen eigenen Gedanken. Er konnte nicht klar denken, war so müde. Jede Überlegung brach ab und verschmolz mit der zähen Masse an Dummheit, aus der Träume gemacht waren. Er bildete sich ein, noch halb in einer anderen Welt zu stehen — eine andere Welt, eine bessere vielleicht. Er wollte aufwachen und normal sein, wieder zu Verstand kommen. Hatte die Untersuchung das aus ihm gemacht? War er...
Er wollte sich die Augen reiben, als Rhun über ein Gesicht fasste, das nicht mehr sein eigenes war. Warm, erhoben und breiter, nicht so flach und...
In seinem Bett schoss er aufrecht auf; sein Blick raste sofort zu dem stillen Beobachter, mit dem er sich das Zimmer teilte.
Seel saß neben der einzigen Kerze, die noch brannte. Ihr ausdrucksloses Gesicht war unheimlich, so unheimlich und Rhun wünschte, er könnte daraus lesen.
»Veu Rhun«, sagte sie einfühlsam, leise, doch das Geräusch hämmerte durch seine Panik. »Sie haben es überstanden.«
»Was bin ich?«, fragte er, bereute es sofort. Er konnte nicht klar denken und da war Gefühl in seiner Stimme, elendig viel Gefühl. Sie war tief, aber unstet. Was hatte man mit ihm gemacht?
»Es ist in Ordnung. Sie haben es überlebt und sind gesund.« Ihre Stimme war unbewegt und fein wie Honig. Rhun wünschte sich, ihre Ruhe an seinen Körper zu schmieden. Seine Wahrnehmung hatte sich verändert. Die Welt war für ihn so anders.
Er hielt inne, um seine Gedanken zu sortieren, doch brachte keinen intelligenteren Satz hervor, als: »Wo ist Veu Turem?«
»Ich nehme an, er sollte auch noch schlafen, aber nicht mehr lang. Er hat die letzten Tage viel gearbeitet. Ich hole ihn. Geben Sie mir nur einen Augenblick.« Seel erhob sich. Ihre Kleidung hatte die Farbe von Elfenbein im warmen Licht, doch sie verschwand, als sie die Tür zum grellen Flur öffnete. »Turem«, sagte sie streng. »Wie lang bist du schon hier?«
Seine Worte gingen in dem schrillen Pfeifen unter, das Rhuns Ohren plagte.
»Ja. Gerade eben.«
Turem tauchte im Licht auf, an das Rhun sich noch gewöhnen musste. »Wie geht es Ihnen?«, fragte der Arzt.
Da war so viel Emotion in dieser Frage; Rhun zweifelte an seinem Verstand.
»Ich habe oberflächlich Schmerzen und... ich leide unter Unruhe«, gab er zurück, bevor er sich nach hinten lehnte. Seine Hörner donnerten an die Wand. Er tastete sie entlang. Zum Glück waren sie noch da.
»Sie werden sich an vieles noch gewöhnen müssen.« Turem zog die Vorhänge auf. »Ihr Körper hat sich sehr verändert.«
»Bitte sprechen Sie nicht um die Fakten herum, Veu. Ich habe vorhin mein Gesicht abgetastet und es ist abscheulich. Was bin ich?«
»Vielleicht möchten Sie sich im Spiegel ansehen?«
»Das habe ich noch nie gemocht.«
Turem sah ihn an, während er einen weiteren Vorhang beiseite zog, der einen Spiegel bedeckte. »Veu.«
Rhun spürte, dass etwas nicht in Ordnung war. Und er sprach die erste Vermutung aus, die sich in seinem Kopf breit machte. »Ich möchte kein Mensch sein.« Keine Reaktion. »Ich möchte kein Mensch sein. Menschsein ist die konstante Entscheidung zwischen Komfort und Identität. Das kann ich...«
»Veu. Sie sind im Kern die selbe Person. Wir haben lediglich ihr Potenzial erweckt-«
Rhun stand auf, griff sofort zu seinem Gehstock. »Ich weiß nicht, ob ich mich sehen möchte.« Und doch stellte er sich hinter Turem, warf einen Blick in den Spiegel. Ein Mann sah ihm entgegen, groß, kaum älter als dreißig, mit schwarzen Hörnern wie ein Hirsch.
Ein verdammter schwarzer Hirschmensch.
»Ich hoffe, Sie gefallen sich.«
»Ich bin, was ich hasse«, hauchte er — zu sehr im Schock, um klar zu sprechen. Er sah Turem im Spiegel an, bis der Cruor sich umdrehte. »Ich bin ein Mensch.« Die Feststellung war beherrscht, doch brannte sich in seine Kehle. Sein Gesicht war verwundet — er hatte eine Mimik, spürte wie er die Augenbrauen hochzog, wie sich die einzelnen Muskeln bewegten; seine Haut nicht mehr fest und steif. Doch seine Augen waren leer, weiß, ausdruckslos und charakterschwach.
»Ja, Veu. Ich befürchte allerdings, dass sie dennoch keine Nachfahren zeugen können.«
»Das ist mein geringstes Problem.« Rhun hielt inne, als Fragen wie Feuerwerk in seinem Schädel explodieren. »Wieso... Wie kann ich menschlich sein?«
»Es gibt viel, dass ich ihnen erklären muss.«
Rhun setzte sich, als plötzlich seine Beine erschlafften. Ein Mensch.
»Nicht alle Cruoren sind künstlich geschaffen«, begann Turem, als er gegenüber von ihm Platz nahm. »Die Cruoren der ersten Generation schon. Sie sind wie Formwandler komplett künstlich erzeugt. Deswegen haben sie keine Gefühle. Sie sind generell vollkommener.«
»Oh, bei den Göttern.« Rhun wusste, was als nächstes folgen würde. Er verdeckte sein Gesicht mit beiden Händen.
»Leben aus dem Nichts zu schaffen ist schwer, nahezu unmöglich. Deswegen... geht es Ihnen nicht gut?«
»Bitte fahren Sie fort.«
Turems Ton änderte sich. Rhun konnte nicht festlegen, inwiefern er sich änderte — er wusste nichts. Er war ein elendiger Mensch. »Wir wurden verändert, Veu Rhun. Sie, ich, Seel. Alle Cruoren der zweiten Generation und alle folgenden... Wir waren, oder sind, menschlich.«
»Ich bin ein Cruor seitdem ich mich erinnern kann.«
»Wir wurden auch als Kinder schon umgewandelt. Wir sind... Wir waren im Armenviertel von Brus.«
Unzählige Fragen, Erkenntnisse und Gefühle elektrisierten Rhuns Körper. »Ich habe Eltern«, war das einzige, was er herausbrachte. Das hatte ihm in seinem Leben nie gefehlt — er hatte es nie in Erwägung gezogen, doch der Fakt war erschreckend.
»Nun, ja, nein. Angeblich waren wir Waisen. Es gibt aber auch Gerüchte, die behaupten, dass einige von... den Kindern von ihren Eltern weggezogen wurden, um später Cruoren zu werden. Aber das ist nicht sicher. Ich weiß nichts mit Gewissheit.«
»Also haben wir alle Gefühle.«
»Ja, Veu.«
»Bei den Göttern, hören Sie auf mich so zu nennen, Turem. Den Rang habe ich nicht verdient.« Rhun schaute seine rote Kleidung an. Sie war nicht verdient. Er war ein Mensch.
»Sie werden mit Ihren Gefühlen noch umgehen lernen. Sie haben den Rang verdient.«
»Mit Verlaub, wie wollen Sie wissen, wie Gefühle sich auswirken? Ich bin der erste Cruor, der zum Menschen degradiert wird, nicht?«
Turem und Seel tauschten Blicke aus. Die Cruorin schloss die Tür. Sie stellte sich gegenüber von ihnen hin.
Der Arzt überschlug die Beine, bevor er fortfuhr: »Veu Rhun, ich erzähle Ihnen etwas, das vertraulich ist. Ich verlasse mich auf Ihre Diskretion.«
Rhun wusste nicht, ob er noch mehr Informationen standhalten könnte. »Ich habe genug Geheimnisse bereits bewahrt, um vertrauenswürdig zu sein.« Oder nicht. Er wusste nicht, wer vertrauenswürdiger war: der Mensch, der Geheimnisse wahrte, oder der, der keine hatte.
»Seel und ich haben eine bewegte Vergangenheit, die wir selbst zum Laufen gebracht haben.« Er räusperte sich. »Ich war als Student schon in Weyfris, sie ebenso. Wir wurden häufig gegeneinander angestachelt, weil wir die besten Studenten waren. Es war der Hass, der uns verbunden hat.«
Seel fuhr fort: »Wir haben unterschiedliche Bereiche gelernt. Ich bin keine Ärztin und doch hat man uns verglichen und dementsprechend gemaßregelt, wenn wir nicht mit den Noten des anderen mithalten konnten.« Sie setzte sich an den Fuß des Betts. »Nur, dass Turem heimlich verbotene Schriften gelesen hat, die sich mit seiner Arbeit befassen.«
»Verboten?«, hakte Rhun kehlig nach.
»Ja, sehr, es sind schändliche Werke.« Turem drückte den Rücken durch »Ich habe Vorträge gehalten, heimlich, in den Gewölben der Universität, über das, was ich gelesen habe... Kurzgefasst, Seel hat mir irgendwann zugehört, wir hatten einige Gespräche und ich habe sie in viel eingeweiht, was ich herausgefunden habe. Darunter auch, dass wir Menschen sind.«
»Wenn man herausgefunden hätte, was Sie für Bücher lesen«, begann Rhun. »Man hätte Sie gefoltert.«
»Man hat mich einmal erwischt. Und ja, es war... Es war eine Erfahrung, die ihresgleichen sucht.« Turem winkte ab. »Die wichtigsten Werke habe ich niemandem gezeigt. Und irgendwann, als ich die Klinik hatte, habe ich versucht herauszufinden, wie man seine Menschlichkeit zurückerlangt. Seel hat sich freiwillig dazu bereiterklärt, es zu versuchen. Problematisch ist, wenn wir auf die Chemikalien verzichten, werden wir krank und unser Körper rafft dahin. Wir müssen andere Mittel einnehmen, die unseren Körper in der Form eines Cruors halten, während unser Verstand menschlich wird.«
»Nach einigen Komplikationen ist es geglückt«, erklärte Seel nach einer Pause. »Ich sehe aus wie ein Cruor, aber ich fühle mich wahrlich nicht wie einer.«
Rhun hatte sein Gesicht nicht mehr unter Kontrolle »Aber wieso haben Sie das mit mir nicht getan?«
Er könnte noch aussehen, wie ein Cruor. Er könnte noch unauffällig sein.
»Weil es zu spät für Sie war, Veu Rhun. Ihr Körper hat sich bereits aufgelöst.«
Rhun erinnerte sich an sein Spiegelbild und kniff die Augen zusammen.
Seels Stimme war voller Zärtlichkeit. »Wir verstehen, wie Sie sich fühlen.«
»Ich sollte nicht in der Lage sein, zu fühlen.« Das sollte niemand von ihnen.
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