Caden schaute in Kengas trübe Augen, als der Mann sich an die Wand hinter sich gelehnt hatte. Er war kein richtiger Nachtschwärmer — stattdessen sah er mit seiner grau-blauen Haut und den kristall-artigen Iriden eher aus, als stamme er aus dem Wasser.
»Möchtest du nachhause?«, fragte Caden zusammenhanglos.
Kenga schielte zu ihm herüber. Das schräge Grinsen fehlte zwar auf seinen Lippen, aber dafür klang seine Stimme, als sei er wach und amüsiert: »Haben wir denn noch eins?«
»Du kannst jederzeit ins Anwesen deiner Eltern zurückkehren.«
»Die würden mich« Er hielt inne. »Keine Ahnung, was sie tun würden. Es ist besser, wenn sie denken, dass ich tot bin.«
»Ich glaube, dass deine Brüder froh wären, dich zu sehen.«
»Die haben mich damals schon nie zu Gesicht bekommen, weil wir alle immer beschäftigt waren. Die haben wenigstens edle Tätigkeiten ausgeübt.«
Caden presste die Lippen aufeinander. »Du hast sehr viel getan, um dich zu beweisen.«
»Ich habe mich gegen die Regierung, die Stadtwacht, den Adel, das System... gegen alles, was Brus ausgemacht hat, verschworen. Und Abends, nachdem ich von einem halsbrecherischen Auftrag durch Harding nachhause kam, habe ich mich in mein warmes, weiches Himmelbett gelegt und mich morgens von einem Angestelltem bedienen lassen.« Plötzlich erschien doch dieses Lächeln auf seinem Gesicht, auch, wenn es gestellt war. »War doch klar, dass das nicht ewig gut geht.«
»Aber abgesehen davon hast du dich in der Stadtwacht beteiligt und stundenlang gearbeitet, alten Leuten ehrenamtlich geholfen und dich in jede Kleinigkeit gestürzt, die man dir aufgetragen hat.« Caden hob die Brauen, als Kenga nur starrte. »Und außerdem, deine Eltern sind froh, wenn sie wissen, dass du lebst. Die Regierung der Cruoren droht ohnehin zu zerspringen, jetzt, wo Brus weg ist.«
»Und du?«, fragte Kenga. »Wie tröstest du dich nachts, dass du die richtigen Entscheidungen getroffen hast?«
»Ich habe nichts verloren, nur weil ich bei Chase gearbeitet habe. Die einzigen Verluste meines Lebens sind mit dem Untergang von Brus einhergegangen. Mein Haus. Nya. Chase hat einfach nur die Lücken gefüllt, die er nicht verursacht hat.« Kenga konnte froh sein, noch nachhause zurückkehren zu können.
»Dein Vater ist doch in Weyfris stationiert. Wieso suchst du ihn nicht auf? Er weiß sicher nicht, dass wir angeklagt wurden.«
»Hm« Caden verlagerte sein Gewicht auf der Matratze, die so weich war, dass es sich unnatürlich anfühlte. »Ich habe darüber auch schon nachgedacht. Vielleicht sollte ich einfach für immer hierbleiben.«
»Ich meine... Ich bezweifle, dass Brus jemals wieder bewohnbar wird. Also eine andere Möglichkeit, als hier zu bleiben, haben wir kaum.«
»Es gibt genügend andere Dörfer, in denen wir unser Leben leben könnten.«
»Wir?«, echote Kenga mit einem abgebrochenen Lachen. »Wollen wir beide zusammen ziehen? Am besten noch mit Harding. Und dann ein süßes Leben als Selbstversorger führen. Perfekt.«
»Chase und du... Ihr würdet euch doch schon am ersten Tag mit Mistgabeln erstechen wollen.«
Kenga verzog das Gesicht. »Kann ja nicht jeder sein Favorit sein.«
»Wo bin ich denn sein Favorit?«, gab Caden atemlos zurück.
»Also ich wurde von ihm weitaus häufiger geschlagen als du. Außerdem hast du noch Welpenschutz, weil du Jugendlich bist.«
»Ich bin doch nicht mehr jugendlich.« Caden fühlte sich, als würde er lügen. Er sah sich noch immer als Kind. Und er hatte die Gruppe damals als Jugendliche bezeichnet — auch, wenn Dolunay schon vierzig war. Vielleicht suchte er Kindheit in dem Rahmen ihrer Gemeinschaft. Wenn man von den gewöhnlichen Werten ausging, waren sie allemal keine Jugendlichen mehr.
»Jetzt, wo Dolunay nicht mehr da ist, musst du als Hardings Seelsorger hinhalten.«
»Das macht Rhun scheinbar schon ganz gut.«
»Also, von der Empathie sind sich beide auf jeden Fall sehr ähnlich.« Kenga wuschelte sich durch die Haare. Er legte den Kopf minimal zur Seite, als wolle er Caden in anderem Licht sehen. »Harding weiß, dass du sehr viel hinter dir hast.«
»Er ist im Armenviertel aufgewachsen. Seine Definition von einem schweren Leben liegt gänzlich weit abseits, von dem-«
»Aber er hat Respekt vor dir, weil du trotzdem sehr früh Verantwortung übernommen hast. Caden« Kenga lehnte sich vor. Der plötzlich ernste Ton in seiner Stimme war hart wie Stahl. »Du bist zu ihm gegangen, weil du Nya beschützen wolltest, als du selbst noch ein Kind warst. Du hast ein kleines Mädchen aus der Armut gerettet. Du hast das getan, was sich Harding sein ganzes Leben selbst aufbauen musste.«
»Nyas Eltern sind Mutierte. Man hat sie nicht nur ins Armenviertel abgeschoben, sondern grausame Experimente an ihr durchgeführt.« Und Caden hatte sie zurückgeschickt, damit man Nya ins Leben zurückholte. Er hatte nichts anderes getan, als sie ebenfalls zur Mutation zu zwingen. Und doch bereute er es nicht.
»Dennoch teilen die beiden das selbe Schicksal.« Kenga zog sein Knie an. »Ich denke, dass Chase irgendwo das heilen konnte, was er damals verloren hat. Und dass er deswegen zu Nya eine gute Verbindung hatte... Und zu dir.«
Caden zog die Mundwinkel nach innen. »Harding hat mir persönlich damals das Kämpfen beigebracht, als ich nur den Laufburschen für ihn gespielt habe.«
»Hm. Stimmt, ich erinnere mich.«
Kenga war etwas später auf die Gruppe gestoßen. Da hatte Dolunay schon jahrelang zu Hardings Engsten angehört und Caden war nur ein Schatten im Hintergrund gewesen.
Als ein Wachmann an seiner Tür aufgetaucht war, hatte Chase mit einem Messer auf ihn eingestochen.
Eine Narbe an Kengas Schulter erinnerte noch immer an den Vorfall. Mittlerweile machten beide Witze darüber, wenn sie angetrunken waren.
»Wo ist der alte Mann eigentlich?«, fragte Caden und schaute zu dem Bett herüber, um sicherzugehen, dass Harding nicht zugehört hatte.
»Keine Ahnung. Messer wetzen, Wände schlagen, Cruoren bepöbeln.« Kenga legte das Buch auf den Schoß, das er sich aus der Bibliothek mitgenommen hatte. Sie hatten den ganzen Tag damit verbracht, durch die reichen Viertel der Stadt zu gehen und das Haus zu erkunden.
»Da tut einem Rhun ja fast schon Leid.«
»Er ist... in Ordnung. Ich dachte, dass er mich umbringt, als ich letztens in seine Seite reingelaufen bin.« Kenga zog die Augenbrauen etwas hoch. »Es könnte ihn nicht weniger interessieren, dass er für die Stadtwacht verantwortlich ist und ich die Stadtwacht verraten habe.«
»Er hat auch gegen viele Regeln verstoßen. Er hat gar kein Recht, dich zu verurteilen. Außerdem, Rhun wirkt fast humorvoll.« Caden hielt inne, bevor er abwinkte. »Für Cruoren-Verhältnisse.«
Ruhe kehrte zwischen ihnen ein, als Kenga das Buch aufklappte und las. Caden stand lautlos vom Bett auf uns schaute aus dem länglichen Fenster auf die Straße hinaus. Lichter flackerten in gegenüberliegenden Häusern — Kerzen. Es war eine festliche Stimmung, die damit einherging. Caden war es gewohnt, dass Brus von künstlichen Lichtern erleuchtet war.
In Weyfris gab es das nur selten... Hier gab es auch den Stamm nicht — den Energiesee, aus dem die Hafenstadt gespeist hatte.
Kenga hob den Kopf wieder. »Such deinen Vater, Caden.«
»Und du schreib deinen Brüdern zumindest einen Brief, damit sie wissen, dass du noch lebst.«
Die Stille war voll mit geschluckten Ausreden. Es war spürbar in der Brust, als würde sich eine Klammer um Cadens Lungen schließen und jedes Wort verhindern, das geduldig in seinem Herz wartete, herauszukommen.
Er schaute wieder hinaus, in das trübe Licht. Die Tage wurden wieder länger. Dann würden auch die Monster in den Schatten bleiben. »Wir dürfen ja jetzt nicht mehr das Haus verlassen. Wegen den... Glocken, die vorhin geläutet haben.«
»Meinst du, Harding hält sich dran? Ich bezweifle, dass er gerade brav auf einem Stuhl sitzt.«
Er hatte auch die Nacht nicht in ihrem Zimmer geschlafen. Die Fragen darüber, wo er war, blieben unausgesprochen. Sie waren ohnehin überflüssig.
Der Raum lag in tiefster Dunkelheit — und es war extrem still zwischen den dicken Wänden.
Chase hasste beides davon. Stille war zu anstrengend für sein Gemüt. Und der Dunkelheit schien er nicht mehr zu vertrauen, seitdem die Monster sich das erste Mal erhoben hatten... Oder vielleicht schon zuvor. Caden hatte in Brus ab und an gesehen, dass der Mann vor seinem Kamin eingeschlafen war.
»Hm«, gab Caden nur abgelenkt zurück. Er sah wieder aus dem Fenster heraus. Dann ertappte er eine Sihlouette an der andere Reihe der Häuser. Es war Harding — als haben sie ihn heraufbeschworen. Der Mann blieb plötzlich stehen und starrte in die Ferne, als habe er einen Geist gesehen. Er rannte los — ein gewisses Ziel im Blick.
Kenga sagte etwas, doch er hörte nicht zu. Caden verfolgte, wie Harding scheinbar lautlos eine Formwandlerin ansteuerte. Die Frau war... Was.
Caden gab nur einen abgebrochenen Laut von sich, bevor er sich ebenfalls abwandte, um loszulaufen. Er schlitterte aus dem Raus heraus und schmetterte Kenga nur ein »Scheiße!« zu.
Der Nachtschwärmer bewegte sich ruckartig. Er schien ihm zu folgen.
Ihre Schuhe bebten auf dem Fliesenboden des Hauses, bevor sie durch den Privateingang herausfanden.
Caden riss die Tür auf, die sie von Scarlett trennte. Es war Scarlett. Verdammt, von allen Totgeglaubten, war sie eins der ersten Gesichter, auf das er gehofft hatte... Und eins der ersten, mit denen er nie gerechnet hätte.
Die Frau drehte sich zu ihnen herum. Sie schaute Kenga und Caden misstrauisch an. »Wieso kennen mich plötzlich alle?«
Harding hielt höflich Abstand, aber seine Körpersprache verriet, dass er sie am liebsten am Arm gepackt hätte, um festzustellen, ob sie real war.
Cadens Lungen zogen sich fester zusammen und mit einem Mal sprang die Glasschicht, die sich unbemerkt um sein Herz gebaut hatte. Er fiel ihr um den Hals — weniger aus Irrglaube, mehr aus dem Gefühl von Glück heraus, nicht alles zurückgelassen zu haben, von dem er dachte, dass es unersetzbar wäre.
»Plötzliche Berührungen gehen dann doch zu weit.« Scarlett schob ihn mit zarten Fingern von sich.
»Na. Das ist ja schick.« Kenga reckte den Hals. »Was eine seltene Überraschung.«
»Die Wahrscheinlichkeit, dass mich vier verschiedene Leute an einem Tag erkennen liegt gegen Null«, antwortete Scarlett ruhig. »In all den Monaten, die ich in Weyfris bin, wurde ich nur einmal von jemandem erkannt. Was hat es mit der ganzen Aktion plötzlich auf sich?«
»Sie erinnern sich nicht mehr«, sagte Harding — dass er nun zum Siezen gewechselt war, war ungewöhnlich, aber er tat es nur, wenn er höchsten Respekt hatte. »Wir kennen uns aus Brus. Sie haben meine Buchführung übernommen.«
»Sind Sie von Jade geschickt worden?«
»Ach, an Jade erinnerst du dich?«, fragte Caden. »Nein. Ist sie auch hier?«
Scarlett sah die drei Männer an. »Die Situation ist etwas zu viel für mich. Ich muss kurz durchatmen.«
»Wollen Sie uns nach drinnen begleiten?«, fragte Chase. Er streckte einen knochigen Arm aus, um zur Tür zu gestikulieren.
»Sie sind in der Arztpraxis untergebracht?« Die Frau sprach, als habe sie seit Minuten nicht mehr Luft geholt. »Sie sind die Begleiter von Veu Rhun?«
»Korrekt.«
Scarlett nickte nachdenklich. »Und mit der Nachtschwärmerin von vorhin stehen Sie auch in Verbindung?«
Caden spürte, wie seine Augen in der Kälte austrockneten, weil er sie so aufriss. Er merkte zugleich Kengas, als auch Hardings Blick auf sich. »Eos?«, fragte er — plötzlich unsicher, ob er klar denken konnte.
Sie nickte einmal mehr.
»Wo ist sie?«, fragte Kenga, viel zu süß, als dass es glaubhaft klang.
»Sie ist mir am Notfall-Lager, in der Nähe der Treppe, begegnet.« Scarlett schüttelte sich, als alle Männer sie anstarrten. »Die Glocken haben bereits geläutet. Wir sollten jetzt hineingehen und ich habe noch Arbeit zu erledigen.«
Chase lief neben ihr, als sie sich in Bewegung setzten. »Sie erinnern sich an nichts?«
»Ihre Gesichter kommen mir bekannt vor. Ich glaube ich erinnere mich an eine Kneipe... Und ich erinnere mich auch an ein Gebäude... Das irgendwie voller Rohre, Metall und Werkzeug ist.«
»Das ist die Grenze. Dort haben Sie zuvor gearbeitet.«
Scarlett schien diese Information nicht zu interessieren. Sie betrat das Gebäude und blieb im Flur stehen. »Mich kennen plötzlich sehr viele Leute. Ich könnte allmählich eine Pause brauchen. Anfangs war es mir egal und ich konnte darüber hinwegsehen. Mittlerweile hingegen bereitet es mir Unbehagen.«
Caden nahm etwas Abstand. Plötzlich fühlte er sich wie ein kleines Kind, das ihr um den Hals gefallen war. »Es tut mir Leid, dass ich so überschwänglich auf Sie reagiert habe.«
»Das ist in Ordnung. Ich scheine ja nicht die selbe Person, wie früher zu sein.« Wahrlich nicht. Ihr Auftreten war nicht, wie das einer Dame, mehr wie eine Soldatin. Sie hatte ein ausdrucksloses Gesicht, bewegte sich geschmeidig, leise, aber kraftvoll und schnell.
»Ich hoffe, wir haben Sie nicht abgeschreckt.«
»Ich würde Ihnen gern das vertraute Gefühl bescheren, das sie damals mit mir hatten. Aber ich bin nicht die selbe Person, die sie kennengelernt haben. Und ich lebe nicht mehr für Erinnerungen oder mich selbst.« Ihr Lächeln war flach, unpassend und so kurz, dass es ebenso Cadens Einbildung entsprungen sein könnte.
»Es ist dennoch sehr angenehm zu sehen, dass Sie wohlauf sind, Scarlett«, sagte Kenga und neigte den Kopf leicht.
Sie nickte wieder. »Ich weiß nicht, ob es mir so gut gehen kann, wenn mich jede Person plötzlich vermisst.«
»Es ist auf jeden Fall von Vorteil, dass Sie nicht wissen, was Sie verloren haben«, antwortete Harding in unverständlichem Ton. Er schloss die Tür hinter ihnen, die bislang die Kälte in den Flur hineingelassen hatte. »Es hat mich sehr gefreut, Sie wiederzusehen. Ich wollte Sie nicht beunruhigen, als ich Ihnen zugerufen habe. Ich habe vergessen, dass man Ihnen das Gedächtnis ausgetauscht hat.«
Scarlett seufzte schwer und ruckartig. »Ja. Ja, das... Ja.«
Chase sprach, als wäre es das letzte Mal, dass sie sie sehen würden. So, als habe er Scarlett bereits aufgegeben... Dabei war sie ihm so lang treu gewesen. »Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.«
Sie verschwand. Die drei Männer standen stumm im Flur. Und Cadens Gedanken sprangen zwischen ihr und Eos umher.
»Können wir ihr helfen?«, fragte Kenga.
Chase schüttelte den Kopf. »Da kann man nichts machen. Sie hat sich verändert. Das ist nicht mehr Scarlett.«
Der Satz schmerzte in seinem Schädel: das ist nicht mehr Scarlett.
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