Kapitel 17;2 - Hülle ohne Seele
Rhun nahm die Umgebung gar nicht wahr; sein erster Impuls war nur, nach Luft zu ringen.
Er lag auf der Seite; die Haut brannte und ein Fetzen davon hing von seiner Handfläche herunter.
Der Arzt stand auf Abstand. Er hatte eine Strickjacke an — eindeutig die Mode eines Menschen — die formlos an seinem mageren Körper herunterfiel.
»Veu Rhun. Guten Morgen. Wir sind mit Ihrer Untersuchung für heute Nacht durch.«
Allmählich sickerte zu Rhun durch, wo er sich befand. Sein Kopf schmerzte, die Glieder pulsierten, als wären sie entzündet... und er hatte keine Ahnung, was Realität und was Traum war. »Ich war eine ganze Nacht hier?«
»Ich befürchte, die nächsten Tage werden Sie nur noch auf meinem Tisch liegen.«
»Mit Verlaub. Ohne aufzuwachen?«
»Exakt, Veu. Sie haben bis heute Abend noch etwas Freizeit. Dann sind Sie erstmal nicht ansprechbar, bis auf weiteres.«
Er richtete sich schräg auf. Seinen eigenen Worten schenkte er kaum Bedeutung. »Habe ich das... gefährlichste überstanden?«
»Nein.« Turem fasste um Rhuns Arm, um ihm aufzuhelfen.
Es war zu früh, um aufzustehen, doch Rhun wagte nicht, zu widersprechen. Er ließ die Eindrücke langsam auf sich wirken. Der karge Raum, die Bleiglasfenster, die die Straße überblickten, prunkvolle Bücher auf gebogenen Brettern... Er trug noch immer sein rotes Hemd, auch, wenn es faltig war.
»Ist es in Ordnung? Können Sie stehen?«
Rhun hatte solche Schmerzen, dass er sich selbst auf seinem Gehstock nicht halten konnte. »Ja.«
Turem rieb sich mit der Hand über seine weißen Augen. »Gut, Veu. Ich empfehle, dass Sie sich noch einmal Schlafen legen, bevor wir heute Abend fortfahren.«
Auch Seel stand im Raum. Die Cruorin tat sich kaum mehr, als eine blasse Silhouette hervor, die ebenso gut aus Rhuns verwirrtem Verstand hätte stammen können.
Seel. Sie musste sich wenigstens nicht darüber sorgen, ob sie eine Seele hatte.
»Veu Turem«, begann sie langsam, aber streng. »Ich empfehle, dass auch Sie zu Bett gehen.«
»Gibt es Post für mich?«
»Keine von Relevanz.«
»Alles ist von Relevanz, Seel-«
»Und so ist es Ihr Schlaf, Veu.« Sie blinzelte nicht, als wolle sie den Moment in ihr Gedächtnis einbrennen. Von der Ferne war sie eine Statue; regungslos und anmutig. Schließlich trat sie vor. Die Hand mit einem Handschuh aus Spitze verziert, half sie Rhun, sich zu stützen. Sie war wesentlich kleiner als er, doch ihr Griff war von herausragender Kraft. »Ich begleite Sie auf Ihr Zimmer, Veu Rhun. Ich kann Ihnen auch das Gemach von Ihren- Ihren Freunden zeigen.«
»Das sind nicht meine Freunde.« Gleich, wie geschwächt Rhun war, er hätte immer genügend Energie, das klarzustellen. »Ich habe keine Freunde.«
Turem räumte gerade einige Gläser auf ein leeres Regalbrett, während er sagte: »Es wird vielleicht Zeit, dass Sie sich daran gewöhnen.«
Seels Kopf schoss zu ihm herum. Dann drückte sie Rhun vorwärts — die Berührung ging mit Qual einher, wie nach einer Auspeitschung. »Veu Turem ist müde. Er weiß nicht, was er sagt.«
Rhun murmelte Turem dennoch einige Worte des Danks zu, woraufhin der Cruor nur nickte. Die Gläser klapperten; der Arzt schien sie mehr zu werfen, anstatt sie ordentlich darauf zu stellen.
Wenigstens hatte er eine Pause, bevor er dieses verfluchte Zimmer wieder betreten musste.
Das gefährlichste hatte er noch nicht überstanden... Das schmerzhafteste wahrscheinlich ebenso wenig.
Glücklicherweise musste er nicht die Treppen nehmen, an denen sie vorbeiliefen. Ein Raum ersteckte sich direkt dahinter.
Das Bett war breit genug für zwei Personen, eine Wand bestand aus großen Schranktüren — und Rhun wusste, dass sich hinter einer davon eine Statue des Cruorengotts Allerick befinden würde. Auf der anderen Seite standen zwei Sessel und ein Beistelltisch mit einem Stapel alter Wälzer.
»Ich habe Ihnen einige Bücher herausgelegt, die vielleicht von Ihrem Interesse sein könnten.«
»Vielen Dank«, sagte er. Rhun hatte lang nicht mehr aus Begeisterung gelesen. Für Cruoren war das ohnehin unüblich. Lesen war eine Freizeitbeschäftigung — und wenn man Freizeit hatte, bedeutete es, dass man seine wertvollen Stunden nicht mit Arbeit verbrachte. Ganz davon ab, lasen viele Cruoren Zeitungen und wissenschaftliche Berichte... Doch dafür hatten sie einen besseren Grund, als ausschließlich Interesse.
Ohnehin, er bezweifelte, dass er die Kraft dafür hätte.
»Das Zimmer der drei Männer ist direkt dort drüben.« Seel deutete vage zu einer kleinen Tür, die zwischen zwei großen Spiegeln kaum auffiel. »Wir haben nicht allzu viele verfügbare Gästezimmer, daher sind die drei gezwungen, sich eins zu teilen.«
»Ich würde davon ausgehen, dass es die Herrn nicht interessiert.« Insbesondere, wenn man bedachte, wo Harding früher gelebt hatte. Was ein verwöhnter Adliger wie Kenga dachte, war Rhun egal.
»Wenn Sie etwas benötigen, können Sie mich jederzeit ansprechen. Ich befürchte nur, dass Sie nichts essen dürfen.«
»Vielen Dank«, sagte er erneut.
Seel vergrösserte den Abstand zwischen ihnen, als wolle sie sich zum Gehen abwenden, doch hielt plötzlich inne. »Darf ich Sie fragen, ob Sie sich bewusst entschieden haben, auf die Chemikalien zu verzichten? Waren Sie sich im Klaren darüber, was Sie damit langzeitig bewirken?«
»Ich befrüchte, ich kann Ihnen nicht folgen?«
»Nun, es war recht offensichtlich, dass es... Nebenwirkungen gibt, wenn Sie die Chemikalien nicht einnehmen. Haben Sie sich zuvor damit auseinandergesetzt, was auf Sie wartet?«
Rhun stützte sich noch mehr auf seinem Gehstock auf. Seine Schultern knackten im Protest. »Mir war bewusst, dass ich leiden müsste. Ich wusste nicht, dass es so schrecklich werden würde.«
»Verzeihen Sie, das ist nicht, worauf ich hinauswill.«
Im selben Moment donnerten Schritte durch das Haus. Turem lief am Türrahmen vorbei. Sein Mantel war geöffnet und wehte hinter ihm, wie die Schwingen eines Raben.
»Turem«, rief Seel.
Er tauchte wieder vor ihnen auf. »Hast du gehört, was in der Nacht in der Stadt passiert ist?«
Seel starrte ihn finster an. »Es kann nicht wichtig genug sein, dass du wieder arbeiten musst.«
»Du hast meine Briefe gar nicht geöffnet, hast du? Die Infizierten, Seel.« Er ignorierte Rhun vollständig. Stattdessen drückte er ihr einen Brief in die Hand.
Sie schaute das Schriftstück nur einige Sekunden an — es schien nicht, als hätte sie es gelesen. »Es ist egal. Du gehst jetzt schlafen. Ich kümmere mich darum.«
Turem schloss die Knöpfe seiner Jacke. Er tat es nicht mit Vorsicht, wie man es von Cruoren kannte, sondern schnell und unordentlich.
»Was ändert deine Anwesenheit?«, hakte Seel nach.
»Lies weiter. Man hat versucht, die Monster mit diesen wahnwitzigen Bomben zu bekämpfen. Dabei haben sich einige Menschen selbst verletzt. Es gibt nicht genügend Ärzte, um sie zu versorgen.«
»Turem«, sagte sie erneut. »Du bleibst hier, für den Fall, dass Patienten hierher kommen. Wir schicken Scarlett los.«
»Ist sie denn schon wach?«
»Wird sie gleich sein.« Seel entfernte sich. Sie hatte eine Art weiblichen Anmut, als würde sie von der Situation gänzlich kalt gelassen werden.
Rhun verstand es nicht. Er war zu erschöpft, sich von den angespannten Worten anstecken zu lassen. Stattdessen verwendete all seine Kraft dafür, sich nicht an die Wand zu lehnen.
Der Arzt war nichts weiter, als eine unnatürlich-wirkende Erscheinung in einem Flur, der genauso gut zu einem Regierungsgebäude gehören könnte.
Turem schien sein Unbehagen zu bemerken, doch er nickte nur wissend. Offensichtlich konnte er nichts dagegen ausrichten — er war es ja auch, der Rhun erst in diese Lage gebracht hatte.
»Möchte ich wissen, was soeben vorgefallen ist?«, fragte er dennoch — mehr, um etwas zu tun, um sich daran zu erinnern, dass er real war.
»Es sind Monster in der Nacht gesichtet worden... Eine überaus große Anzahl. Es scheint, als haben sich alle Infizierten zusammengetan. Wir wissen nicht, was sie gesucht haben, aber sie waren im Untergrund.«
Rhun erinnerte sich jäh an das, was er geträumt hatte. Er hasste, dass er nun bezweifeln musste, ob es wirklich ein Traum war. Zumindest hatte es sich so angefühlt — er hatte nicht die Kontrolle über seinen Körper besessen. Es war wie jeder andere normale Traum auch gewesen... etwas unheimlich, vielleicht.
»Ihre Gesichtszüge werden bereits weicher, Veu Rhun. Ich sehe Schock hinter ihrer Maske.«
»Allerdings«, antwortete Rhun langsam. »Ich... ich glaube ich muss mich hinsetzen, oder an ein Fenster herantreten.«
Turem öffnete das einzige Fester, das es im Schlafzimmer gab. Er ging sicher, dass die Kanne neben dem Bett mit Wasser gefüllt war. »Erholen Sie sich. Ich denke, dass ich keinen Schlaf bekommen werde, in Anbetracht der jüngsten Geschehnisse.«
»Scheinbar haben Sie eine gute Assistentin, die dafür sorgen wird, dass Sie Ihre Ruhezeiten einhalten«, stellte Rhun fest.
Turem schwieg. Sein Blick war intensiv; das Gesicht von Mustern gezeichnet. »Ich habe den Großteil ihrer psychischen Veränderungen schon vorgenommen. Wie fühlt es sich jetzt mit den Gefühlen an?«, fragte er lediglich.
»Nicht anders, als zuvor. Ich fühle mich nicht sonderlich emotional.«
»Dann scheinen Sie allgemein kein emotionaler Mensch zu sein.«
Mensch. »Das ist die erste gute Meldung, die ich seit langem höre.«
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro