Kapitel 16 - Vergrabene Vergangenheit
Der Tag, an dem Asche starb, war neblig und dunkel.
Dolunay hatte nur genickt, als sie es erfuhr. Doch die unverhoffte Meldung hatte sie erreicht, wie ein Gewitter die Stadt. Und es hatte in ihr eingeschlagen — wie in einem Turm, der zuvor schon kurz vor dem Zerfall stand und jetzt in Brand geriet.
Sie hatten sich gekannt — viele Jahre sogar. Dolunay hatte Asche kennengelernt, da war sie selbst noch frisch in der Stadt.
Als Asche noch in Brus gelebt hatte, waren sie gute Bekannte gewesen. Sie hatten einige Gespräche darüber geführt, dass Kämpfen so notwendig wie grausam war.
Asche hatte eine verworrene Vergangenheit. Nur Harding kannte ihre vollständige Geschichte, doch Dolunay hatte einmal herausgehört, was ihr jetzt — nach dem Tod der Frau — Schuldgefühle beschaffte. Asche war in einem guten, reichen Haushalt aufgewachsen, der durch einen Hausbrand zerstört wurde. Ihre Familie hatte es nicht überlebt.
Sie war als frühe Jugendliche im Armenviertel gelandet, wo sie sich hochgekämpft hatte. Sie war lang eine Konkurrentin für Harding gewesen, doch durch einen gemeinsamen Auftrag hatten sie zueinander gefunden. Ihre Annäherung hatte kurzzeitig einer Romanze geglichen, aber Asche — damals noch mit dem Namen die Sichel — hatte etwas gefährliches getan.
Es war auf eine andere Art gefährlich, als sonst im Armenviertel gestattet war. Es war etwas geheimes, unerklärliches und sie musste die Stadt verlassen.
Sie war ebenso oft geflohen, wie Dolunay es musste. Und nun war sie tot.
In den letzten Jahren hatten die beiden Frauen sich auseinandergelebt, sodass sie sich eh nur noch wie Fremde benahmen... Aber sie hatten eine gemeinsame Vergangenheit und einige Ähnlichkeiten.
Die Frage nach dem, was hätte sein können, hing so schwer in der Brust, wie alle anderen Unmöglichkeiten auch.
Tagträume waren eine Ablenkung von der Realität — und jeder Mensch liebte die Ablenkung. Abschied zu nehmen war ein trauriger Atemzug, der zu tief für Dolunays Lungen war.
Sie wollte sich einreden, dass Asche noch lebte. Ihre Überlegungen und Tagträume waren eine behelfsmäßige Brücke für den Verstand, der schon zu viel erlebt hatte.
Oryn, der ihr die Nachricht unterbreitet hatte, stand an der Wand. Er hatte eine grüne Weste an, die er selbst angefertigt hatte. »Mein Beileid.«
»Schon gut. Gibt es etwas neues aus Brus?«
»Du brauchst nicht abzulenken. Du darfst weinen. Möchtest du- Soll ich dich- Brauchst du eine Umarmung?«
Dolunay zog die Augenbrauen hoch, bevor sie die Züge wieder versteifte. »Ich verzichte, danke.«
Oryn gab einen leisen Laut von sich. Er überkreuzte die Arme vor der Brust. Das Licht, das er ausstrahlte, zuckte über die dunkle Wand.
Sie wiederholte: »Gibt es etwas neues aus Brus?«
»Weiß ich nicht.«
»Oryn«, begann sie flüsternd. »Sag es mir.«
»Die Stadt ist dein zuhause-«
»Nein. Glücklicherweise nicht. Das wäre sie auch nie geworden.« Die Aart hob den Kopf, um Oryn zu fixieren.
Er musste etwa ihr Alter sein. Für einen Aart noch sehr jung; ein Gesicht mit markanten Wangenknochen und einer Nase, deren Spitze weit heruntergedrückt war. Seine Aufmerksamkeit huschte nervös durch den Raum.
»Von Tag zu Tag leidet Brus immer mehr. Selbst wenn die Monster irgendwann verschwinden... Man müsste sie wieder aufbauen. Die Häuser zerfallen, als vergehe die Zeit dort schneller.«
»Die Stadt ist auf einem Energieteich gebaut.«
»Das habe ich gespürt, als ich dort war, ja.«
Beide hielten lange inne, bevor sie fast gleichzeitig sagten: »Das ist verboten.«
Oryn nickte, als bestätige er seinen eigenen Gedanken. Er ergänzte: »Zumindest, wird es nicht gut angesehen.«
In jeder Legende wurde davor gewarnt.
Dolunay wollte nicht abwertend klingen, aber sie wollte sich nicht mehr damit befassen. »Gut«, flüsterte sie. Sie strich über ihre weiße Hose. Die Federn in ihren Haaren kitzelten ihren Hals. »Ich werde jetzt nach dem kleinen Kind sehen.«
»Dem Burschen, den der Cruor mitgebracht hat? Bist du seine Mama?«
»Es macht kein anderer. Ich muss es tun.«
Oryn lächelte über ihre Worte — auch, wenn es schien, als wolle er sie nur erheitern. »Ich bin gut mit Kindern.«
»Ist das so, ja?« Dolunay erwartete keine Antwort. Es fühlte sich furchtbar an, als er ihr folgte.
»Ich will dich jetzt nicht alleinlassen. Du fühlst dich sicher schuldig, wegen der Sache mit Asche und-«
»Und dass ich bei euch lebe? In dem Haus deines Vaters, dem ich das Auge rausgeschossen habe?« Sie brummte. »Ich kenne das Gefühl von Schuld schon. Keine Sorge. Kümmer dich lieber um die anderen Kinder in eurer Gemeinde. Der kleine Junge gehört zu mir.«
»Zu Veu Rhun, meinst du.«
»Veu Rhun wollte das Kind nicht. Ich bezweifle, dass Veu Rhun genug Gefühle hat, um zu wissen, was ein Mensch braucht.«
»Also auf jeden Fall keinen Namen.« Oryn grinste schief. Als sie nichts erwiderte, verschwand das Lächeln. »Willst du ihm nicht einen Namen geben?«
»Den soll er sich selbst aussuchen.«
»Ach.«
Sie lief durch das Haus. Er folgte ihr, wie ein kleiner Hund.
Dolunay kannte keine Worte, die das Unbehagen ausdrücken konnten, das sie dabei fühlte.
Oryn erinnerte sie an alles, was sie jemals falsch gemacht hatte.
Ein unbeschwertes Kind würde ihr helfen.
Sie lief durch den schwach beleuchteten Gang im Obergeschoss, bis sie vor ihrer Zimmertür stehenblieb.
»Wollen wir nicht zum Jungen?«
»Erstmal muss ich meditieren«, sagte sie mit zusammengepressten Lippen. Ihre Stimme klang plötzlich so lieblich, dass sie sich selbst nicht glaubte.
»Soll ich schon vorgehen?«
»Nein. Das Beste ist, du besorgst etwas zu Essen für uns.«
»Wird gemacht.«
Sie schloss sich ein. Doch er stand noch immer vor ihrer Tür. Das hörte sie.
Besorgter Idiot.
Dolunay stemmte ihren Rücken an die andere Seite. Die Stille im Raum war laut und unklar.
Sie vertraute ihrer Göttin, dass Vermeiden nicht die richtige Möglichkeit war, wie man mit Artgenossen umging. Ja, Dolunay vertraute ihr — nicht volständig; mehr, wie man Unterbewussten Entscheidungen vertraute. Und manchmal handelte man dagegen.
Manchmal wollte man einfach nur seine Ruhe.
Dolunay hatte ohnehin lange nicht mehr eine der Stätten besucht, um zu beten. Im Keller des Hauses befand sich eine Quelle mit Statuen und Pflanzen, die es in ihrer Heimst gab, doch Dolunay hatte sich bislang nicht getraut, dort hinunterzugehen.
Private Stätten waren nicht umsonst privat.
Oryn stand noch immer auf der anderen Seite der Tür. Seine Aura war wie ein Nebel, der sie verschlang. Das Leuchten seiner Haut kroch durch die Rillen im Holz, wie ein böser Fluch.
Sie war überzeugt, dass er auch ihren Lichtkegel sehen konnte.
Sie waren sich des jeweils anderen also bewusst, aber würden sich nicht ansprechen.
Dolunay schlich durch das Zimmer. Sie wollte keine Stille. Sie wollte mit jemandem sprechen... Aber sie wollte nicht überwacht werden, als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen.
Die Dielen drohten jeder ihrer Schritte zu verraten, während Dolunay zum Fenster ging, um es zu öffnen. Der kalte Wind peitschte hinein. Hätte sie Bücher bei sich zu liegen, würde diese gegen die Wand geschleudert werden.
Gut, dass sie nichts mehr besaß.
Sie kletterte auf den Balken. Das Fenster klemmte sie halbherzig zu, bevor sie auf dem Holz balancierte.
Die frische Luft roch nach Kräutern und gebratenen Pilzen.
Dolunay griff nach oben, um sich auf dem Balken zu halten. Das Zimmer des kleinen Jungen war nicht weit von ihrem entfernt. Man hatte ihm ein Bett in einem alten Studierzimmer aufgestellt. Auf dem Brett hinter der Glasscheibe standen einige Spielsachen, die er nicht angerührt hatte, seitdem er sie bekommen hatte.
Das Kind saß zurückgelehnt auf einem Sessel; ein Buch in der Hand, in dem er las. Es war kein Kinderbuch, wie Dolunay erwartet hatte, sondern ein Buch über die Geschichte von DaChau.
Sie klopfte von außen an das Fenster.
Das Kind riss den Kopf hoch. Als er sie sah, zog der Bursche die Augenbrauen zusammen, aber ging zu ihr, als sei er nicht verwundert. Er öffnete das Fenster. »Wieso?«, fragte er.
»Ist das nicht etwas zu schwere Literatur für einen kleinen Jungen?«, entgegnete sie und deutete auf das Buch, das nun schräg auf dem Regalbrett lag.
Er war in einem Kapitel über Kriege und das brutale Vernichten alter Stämme stehengeblieben. Das war noch in einer Zeit gewesen, bevor es die Cruoren gab.
»Ja«, antwortete er mit einem Schulterzucken.
»Du verstehst das schon? Hat dein Vater dir lesen beigebracht?«
»Veu Zorn war nicht mein Vater« beharrte der Junge ruhig.
»Stimmt. Veu Rhun hatte erzählt, dass du vorher bei seinem Herrn gelebt hast.« Sie hielt inne. Das erklärte, wieso er keinen Namen hatte. »Wie alt warst du?«
Der Junge sah sie nur an. »Ich...«
Die Art, wie er seinen Körper hielt, passte nicht zu der üblichen Art, wie sich Kinder benahmen. Er hatte einen sauber-durchgedrückten Rücken; wusste, wo er die Hände hielt und der Blick war höflich-distanziert.
Dolunay presste die Lippen zusammen. »Was hat er mit dir gemacht? Er hatte ja nicht einfach so ein Kind adoptiert.«
»Das ist eine lange Geschichte. Eigentlich möchte ich darüber nicht reden.«
»Das verstehe ich. Du musst nicht sprechen. Aber ich bin jetzt für dich... Verantwortlich, nehme ich an.«
»Das mag sein. Ich komme trotzdem gut allein klar.«
Sie sah ihn an, dann das Buch, das er gelesen hatte. Er verstand den Inhalt, offensichtlich.
»Sichel ist gestorben«, informierte sie ihn. »Ich denke, du kannst mit der Information erwachsen umgehen.«
»Das bedaure ich.«
Nun sah Dolunay ihn doch an — und konnte nicht kontrollieren, dass sie so verwirrt aussah, wie sie sich fühlte. Er war kein Kind. Er hatte sich schon immer bedeckt verhalten, oder eher weniger so, wie man es von jemandem in seinem Alter erwartete.
Leute, die nicht auffallen, sind am Ende immer die auffälligsten, hatte Chase einmal gesagt. »Was hat Veu Zorn mit dir gemacht?«
»Was hat er allgemein gemacht, ist die richtige Frage.« Er hob die Schultern, bevor er sich auf einen Sessel setzte. »Ich weiß es nicht. Also, doch, ich weiß es. Aber ich kann es nicht erklären.«
»Ich bin gut darin, das zu verstehen, was nicht gesagt wird.« Dolunay zog sich einen Schemel heran, der als Nachttisch im Raum stand.
Er ließ sich auf dem Sessel sinken; die Beine locker angezogen, einen Arm auf der Lehne ausgestreckt. Er bedachte sie lang, bevor er nickte. »Ich möchte Sie bitten, darüber nicht zu reden. Mit anderen Personen.«
»Das werde ich nicht. Ich habe all meine Ansprechpartner eh hinter mir gelassen.«
»Veu Zorn hat sich in Experimenten in Brus beteiligt. Es waren Experimente an Formwandlern. Er hat ihnen Erinnerungen eingesetzt, um aus ihnen... Waffen zu machen, oder so.«
»Hm, das weiß ich. Das hat Veu Rhun erzählt. Die Menschen, die ohne Erinnerungen in der Stadt herumlaufen... Deren Verstand wurde in Formwandler eingesetzt.«
»Richtig. Veu Turem hat sich damals, vor vielen Jahrzehnten, daran beteiligt, dass es überhaupt Formwandler gibt. Sie sind Produkte von Experimenten, was man mit dem Leben machen kann. Man hat sie behalten, da sie alle eigene Erinnerungen, Talente und Interessen entwickelt haben. Und Gefühle, selbstverständlich. Was die Cruoren nicht haben, die ja auch künstlich geschaffene Wesen sind. Ich denke gerade deswegen hat sich Veu Zorn für die Experimente interessiert. Weil Formwandler etwas haben, das bei ihm nur eine Lücke war. Gefühle.«
Der Junge hielt lang inne. Er presste die Lippen aufeinander. »Die Formwandler hatten nicht unbedingt gute Verbindungen zu ihm. Er konnte ein sehr unangenehmer Zeitgenosse sein.«
»Und was hat das mit dir zu tun?«
»Naja. Veu Zorn hat mich kurz vor dem Armenviertel gefunden, als er einen seiner Formwandler aufspüren wollte. Ich habe«, er lachte leicht als er das sagte. »Ich habe gerade etwas geklaut, als er mich gesehen hat.« Er sah aus dem Fenster. »Er hat mir später gesagt, dass er das Konzept von Familien erforschen wollte. Das ist etwas, das er nicht begreifen kann, mit dem Mangel seiner Gefühle. Und da das etwas ist, dem die Formwandler nachgehen, hat er mich mitgenommen, um Familien selbst zu erleben... Scheinbar.«
Dolunay wusste nicht, wie sie dreinschauen sollte. Sie hatte ihr Verständnis irgendwo zwischen Skepsis und Mitgefühl verloren. »Das erklärt aber nicht, wieso du so erwachsen ist.«
»Das ist kompliziert. Ich habe zwar einige Jahre bei ihm gelebt, aber ich hatte für ihn nie einen emotionalen Wert. Das war mir als Kind auch absolut gleichgültig gewesen. Die Angestellten, die er hatten, waren für mich da. Und ich bin auch zu meinen Eltern gegangen. Die wussten, dass ich bei ihm lebe.« Er seufzte. »Ja, aber irgendwann wollte Zorn neue Experimente durchführen. Und da ich bei ihm war, hat er halt zu mir gegriffen. Und... Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Normalerweise hat er ja nur Experimente an den Formwandlern durchgeführt. Und ihnen einen fremden Verstand eingesetzt...«
»Und das hat er mit dir auch gemacht?«
»So in der Art, ja. Das hatte den Effekt, dass ich ein wenig reif bin. Weil- Es ist ein wenig makaber.«
»Es ist sehr makaber«, stellte Dolunay fest. »Aber du bist noch ein Kind?«
»Nicht wirklich, aber ja. Ich habe nichts kindliches an mir. Die größten Teile meiner Persönlichkeit sind die eines Erwachsenen.« Er lächelte unpassend.
»Aber du benimmst dich wie ein Kind, um nicht aufzufallen?«
»Veu Zorn war enttäuscht von dem Ergebnis. Er hat versucht, das Experiment wieder rückgängig zu machen, damit ich wieder ein normales Kind werde.« Er schloss kurz die Lider und legte den Kopf zur Seite. Seine Stimme war leise, aber monoton, als sei er selbst ein Cruor. »Die Experimente sind sehr schmerzhaft. Also wirklich... Sehr schmerzhaft. Man vergisst das meiste wieder, glücklicherweise. Aber das wollte ich mir trotzdem nicht antun. Also habe ich so getan, als wäre ich wieder zurück.«
»Du bist ganz gut darin geworden.«
Er schnaufte. »Wir wissen beide, dass das eine Lüge ist.« Der Junge winkte ab. »Um Cruoren zu täuschen, war es genug.«
»Bist du zufrieden so? Wie soll ich dich-«
Es klopfte an der Tür. Oryn tauchte mit einem Tablett voller Kekse auf.
Dolunay lächelte gequält.
Ihre eigene düstere Vergangenheit hatte sie bis eben vergessen können. Nun stand sie wieder vor ihr.
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