Kapitel 13 - Begegnung aus Eis
Der Morgen war frei von Wolken und schwer im Gemüt. Noch immer saß das Cruoren-Kind am Tisch und starrte aus dem großen Fenster, das einen Marktplatz überblickte. Sie trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte, bis Seel ihr anordnete, still zu sein.
»Tut mir Leid, dass das Wetter dich eingeschlossen hat.« Sie stellte ihren Teller ordentlich beiseite, bevor sie einen Blick in die Ferne warf — dort, wo der große Turm mit seiner Uhr die Stadt überwachte. »Wir bringen dich gleich zurück und dann hast du einen Alltag... Eine Aufgabe.«
Dieser Plan stand länger schon im Raum, doch Turem hatte sich von Efe überreden lassen, dass sie länger bleiben durfte.
Doch das Cruoren-Kind war noch immer unzufrieden. »Das ist nichts wert, wenn wir- wenn ich-«
»Strenge tut dir gut.«
Scarlett stand lediglich an der Wand und wartete, dass jemand einen Befehl aussprach, oder sie in das Gespräch einbezog. Es kam nichts. Stattdessen surrte ein mechanischer Käfer vor der Fensterscheibe und bat um Einlass. Es war eine alte Technologie, die aus Brus überlebt und ihren Weg in den Westen geschafft hatte.
Es war mittlerweile ein gewohntes Bild, dass sie an ihren Fenstern auftauchten.
Der Großteil der Briefe, den sie transportierten, war für Turem bestimmt — so auch wahrscheinlich der, der jetzt auf dem Tisch lag.
Scarlett drehte an einem Rad, um die Flügel aufzuklappen. Es war wenig überraschend, dass der kleine Zettel, den sie verbargen, mit der schrägen Inschrift Veu Turem versehen war.
In den letzten Tagen war das metallische Surren der Maschinen das einzige gewesen, das die frostige Luft mit Bewegung versehen hatte.
Der Winter hatte mit eiserner Faust die Stadt erobert, die sich erst vor kurzem erholt hatte. Die Kälte war erbarmungslos — und Scarlett wünschte, sie hätte genug Erinnerungen, um es mit den Vorjahren zu vergleichen.
»Turem hat mir gestern Abend mitgeteilt«, fuhr Seel fort. »Dass eine gute Hälfte der Schüler schon zurückgekehrt sind. Du bist nicht allein.«
»Und die andere Hälfte?«
»Irrelevant«, gab Seel zurück.
Das junge Cruoren-Mädchen schien sich mit dieser Antwort nicht zufriedenzugeben. Sie drehte sich um, um sie zu fixieren.
Seel hingegen ließ sich von dem unermüdlichen Starren zwei intensiver, weißer Augen nicht beirren. Stattdessen öffnete sie den an Turem adressierten Brief und überflog ihn mit nachlassendem Interesse. »Sie suchen immer noch nach Zorns Nachfolger. Es gibt erste Gerüchte, dass man ihn gefunden hat und hierherbringen wird.« Sie hielt inne, um Efe zu fragen. »Wäre das nicht etwas für dich? Die Stadtwacht zu kontrollieren?«
»Ist das nicht viel Arbeit und Verantwortung?«
»Selbstverständlich. Dafür bist du ein Cruor. Arbeit ist dein...« Seel bremste sich aus. »Gibt es etwas anderes, das du lernen willst?«
»Ich würde gern bleiben.«
Bislang hatte Efe nichts von der Arztpraxis sehen können. Sie hatte keine Ahnung von den Patienten, die im Kellerraum untergebracht waren... selbst Scarlett war lange nicht mehr dort gewesen. Jade hatte sich darum gekümmert.
Efe hatte keine Ahnung, was ein Arzt, wie Turem, tat.
Die Cruorin antwortete lange nicht. Dann schüttelte sie den Kopf. »Nein. Wir haben nicht- für einen so jungen Schüler haben wir nicht genügend Zeit. Wenn du älter bist, können wir nochmal reden.«
»Und wenn die Universität wieder angegriffen wird?«
»Ihr befindet euch nicht mehr dort, sondern an einem anderen Ort, der geheimgehalten wird.«
»Wenn Sie denken, dass ich Ihnen dankbar dafür bin, dass Sie mich zurückschicken...«
»Langsam klingt sie wie ein richtiger Cruor«, bemerkte Scarlett amüsiert.
»Das sollte man ja auch erwarten.« Seel tippte nun selbst rhythmisch auf das glänzende Holz. Ihre Stimme klang weder verständnislos, noch einfühlsam. »Ich weiß, Efe. Aber du musst zurück.«
Efe senkte gehorsam den Blick, doch ihre Knie waren zu stramm durchgedrückt, als dass es der typischen Cruoren-Weise gleichkam. Sie war angespannt — und hatte ihren eigenen Willen.
Den plötzlichen Klumpen an Mitgefühl in ihrem Brustkorb wusste Scarlett nicht zu verhindern. Es gehörte eigentlich zu ihren Aufgaben, die Cruoren zufriedenzustellen. Doch nun konnte sie nicht anderes helfen, als sich zurückzuhalten.
Als Efe sich bewegte, konnte sich Scarlett nicht anders helfen, als Verbitterung in der Jugendlichen zu suchen. Verglichen mit einem menschlichen Kind wirkte sie erwachsen — da war kein Leuchten in den Augen, kein Lachen in der Stimme. Sie war schon gefühllos genug, dass es auffiel... ein Cruor nunmal. Das Alter nahm nichts von dem weg, was sie wirklich war.
Seel legte ihre dünnen Finger auf die Türklinke — sie war blass wie der Tod und hatte eine ähnliche Ausstrahlung wie dieser. Sie deutete den beiden an, sie zu begleiten.
»Wo ist dieses Versteck?«, fragte Scarlett, die sich unmittelbar hinter die Cruorin hielt.
Diese hatte den Blick weit gehoben, während sie die Stufen des engen Treppenhauses nahm, als fürchte sie nicht, herunterzufallen. »Das wirst du sehen. Ich werde es selbst herausfinden müssen. Turem hat mir eine Beschreibung gegeben, aber... Er ist nicht sonderlich präzise.«
»Ist das wichtig? Turem wirkt wie ein Mann, der detaillos das wesentliche beschreibt.«
»Richtig. Und ich brauche mehr, als eine konturlose Anleitung durch die Stadt.«
»Ich kann Karten lesen.«
»Turem schreibt Stichpunkte, keine Karten. Er treibt mich-« Seel verließ das Haus, bevor sie das Cruoren-Kind zu sich zog, damit dieses neben ihr lief. Scheinbar wollte sie sichergehen, dass Efe nicht flüchtete. »Du bist dort gut aufgehoben und es wird nichts passieren. Ihr werdet zwar mit dem Unterricht fortfahren, aber dafür solltest du dankbar sein.«
»Ja, dankbar für den Unterricht bin ich... aber nicht, wie wir behandelt werden. Wir werden zu allem gezwungen.«
»Du kannst dich vielleicht entscheiden, in welchen Bereich du eintrittst. Wenn du möchtest, kannst du dann ebenfalls in die Medizin gehen, nicht?«
Es folgte nur schweigen.
Sie tappten über den kleinen Markt, wo die Stände zurückgewichen waren, und Platz schafften, damit man den eingefrorenen Brunnen betrachten konnte. Die eisige Pracht erinnerte an die Diamanten des Kronenleuchters, der in Turems Bibliothek hing.
Einige Menschen und Nachtschwärmer huschten über den Platz — jeder von ihnen in feiner Kleidung, dickem Mantel, Handschuhen. Einige schauten missmutig zu ihnen herüber.
Seel hatte ihre Kapuze weit in ihr Gesicht heruntergezogen, doch ihre Augen blitzten aufmerksam hervor; sie watete scheinbar darauf, angesprochen zu werden.
Trotz ihrer Unsicherheit, was Turems Beschreibung anging, waren ihre Schritte groß und die Arme gestrafft. »Ich erwarte sehnsüchtig den Frühling.«
»Frühling genügt nicht. Ich brauche heiße, sommerliche Temperaturen«, antwortete Scarlett, ehe sie die Schultern hochzog.
»Herbst also«, das war ein abstrakter Kompromiss, der — aus dem Mund eines Cruors — fast klang, als würde er Bedeutung haben. »Der Sommer ist zu warm, die Winter zu kalt.«
»Ich möchte zurück.« Efe klang erstmals wirklich wie ein Kind — selbst, wenn es nur die Wahl ihrer Worte war.
»Du bist bald im warmen. Und dort darfst du auch bleiben.«
»Ich-ich...«
»Ich weiß. Wir haben das auch hinter uns. Turem und ich haben uns dort kennengelernt. Die Schule gibt dir die Strenge, die du benötigst. Später, wenn du auf der Universität bist, wird dir mehr Freiheit gewährt.«
»Weil ich bis dahin an nichts anderes mehr denken kann, als Arbeit.«
»Ich wünsche nicht, mit dir eine Diskussion zu führen.« Seels Worte waren kälter, als der Wind, der ihnen entgegenkam und für einen Moment fühlte es sich an, als würde der Atem in Scarletts Lunge gefrieren.
Sie wechselte das Thema: »Veu Turem wird wahrscheinlich den restlichen Winter beschäftigt sein?«
»Richtig. Besonders, wenn er die Experimente wieder fortführen will.«
»Will er das?«
»Hat er Ihnen das nicht erzählt?«
Scarlett schüttelte den Kopf.
Die Cruorin schaute erneut auf den kleinen Zettel, den er ihr geschrieben hatte. »Damit hätte ich rechnen müssen.«
Hinter ihnen wurde eine Tür geöffnet. Scarlett konnte einige Angestellte dabei beobachten, wie sie sich unter einem Baum versammelten und rauchten. Das schien ihr Stammplatz zu sein, da sich unweit, unter einer Laterne, die ausgetretenen Zigarren anhäuften.
Seel huschte die Treppe herunter, um den Hügel zu verlassen, auf dem der Stadtkern gebaut war. Sie berührte kaum das Treppengeländer; stattdessen schwebten ihre Hände darüber.
Scarlett hatte ihre Finger in den Jackentaschen versteckt und schaute verbissen in die Ferne, wo der Himmel nicht mehr bedeckt war — dennoch war es kalt und sie hoffte, dass der Ausflug nicht zu lang andauern würde.
Sie hielten sich im mittelständischen Bereich auf — und lange wanderten sie nur durch Wohnsiedlungen, wo man Tiere hören konnte, die sich durch den Müll wühlten, der hinter großen Wänden versteckt lag. Die Gebäude hatten Fassaden verschiedener Stile — einige waren schlicht und in den kalten Farbtönen, die einem überall in Weyfris begegneten, andere waren verziert, mit Balkon und großen Fenstern, die man eher im reichen Viertel erwarten würde.
Von einem Haus drang der Geruch von geräuchertem Fisch.
Scarlett ließ sich von Seel in die kleine Gasse leiten, die zu einem Bahnhof führte.
»Ich weiß nicht, ob wir hier richtig sind«, flüsterte die Cruorin. Eine kleine Wolke stieg vor ihrem Gesicht auf und ließ ihren Ausdruck noch geisterhafter werden, als sie sich zu Scarlett umdrehte.
Efe versteckte sich hinter Seel.
Diese schaute über ihre Schulter zu dem Kind herunter. »Komm her«, hauchte sie mitfühlend. Doch als sie sich umsah, veränderte sich ihre Stimme schlagartig. »Bei den Göttern«, seufzte sie. »Ich bezweifle, dass es im Bahnhofsgebäude ist. Es muss auf diesem Platz sein.«
Scarlett nickte. Sie war sich nicht sicher, wieso sie Seel überhaupt in die Kälte begleiten musste. Mittlerweile beschlich sie das Gefühl, dass Turem sie als Begleitung für die Cruorin auserkoren hatte, damit diese nicht allein war — oder, damit sie im Falle eines Notfalls immer von einem Leibwächter behütet wurde.
Seel wirkte nicht, als würde sie diese Hilfe ablehnen — doch ebenso wenig, als würde sie diese benötigen. Sie schritt an den Hauswänden entlang, um die Türen zu untersuchen, die auf den Marktplatz herausführten.
Das alte Bahnhofsgebäude schien sie bereits ausgeschlossen zu haben.
Stattdessen las sie jedes einzelne Schild. Unzufrieden spähte die Cruorin auf den Zettel, um wieder und wieder Turems Aufzeichnungen zu überfliegen.
»Entweder sind wir vollkommen falsch«, begann sie. »Oder ich stehe vor dem richtigen Durchgang.«
Der Durchgang war eine alte morsche Holztür, die — anders als die anderen feinen Gebäude am Markt — an ein Verlies erinnerte. Dicke Eisenbeschläge taten sich hervor; die Klinke erinnerte an den schuppigen Körper eines Drachen.
Seel klopfte nicht. Stattdessen sah sie zu der Formwandlerin herüber.
Diese hämmerte mit den Knöcheln auf die Bretter, die unter ihren Schlägen erzitterten.
Seel trat einen halben Schritt zurück. Ihre Schultern schossen nach oben — zurück in die perfekte Haltung, die unbestreitbare Dominanz ausstrahlte.
Scarlett zog sich ebenfalls zurück, so, dass sie außer Sicht war. Sie selbst konnte nicht sehen, wer den Spalt öffnete und sich in den Schatten dahinter versteckte, doch an Seels Reaktion gemessen, müsste es ein Cruor sein. »Vae Irid. Guten Morgen. Bitte entschuldigen Sie. Bin ich hier richtig?«
»Ja. Vielen Dank.« Eine Weile unbehagliche Stille folgte. »Woher wissen Sie, dass die Universität hier ist?«
»Veu Turem ist im Stadtrat. Ich bringe das Kind in seinem Namen.«
»Cruoren sind keine Kinder.«
Efe versteifte daraufhin den Rücken. Ihre kurzen Hörner stießen an Seels Schulter.
»Selbstverständlich«, entgegnete diese — ungewöhnlich schnell, wenn auch so monoton wie sonst. »Ich bitte um Verzeihung.«
»Sie interagieren noch mit Veu Turem?«
»Ich übernehme seine Buchführung.«
»Es ist unerwartet, dass sie zueinander gefunden haben, für gemeinsame Arbeit.«
»Wir haben aus unserer Konkurrenz gelernt und sie sinnvoll angewandt.« Sie schob Efe vor. »Ich bin allerdings hier, um sie zu bringen.«
»Vielen Dank.«
Seel nickte, dann trat sie noch einen halben Schritt zurück. »Darf ich fragen, ob Sie wissen, was in der Universität geschehen ist?«
»Ein Angriff. Wahrscheinlich wird der Hass auf Cruoren ewig bestehen.«
»Also hängt es nicht mit dem Krieg zusammen, sondern mit einer aufständischen Gruppe?«
»Die gab es in Brus sonst immer. Durch die Flüchtlinge scheint es seinen Weg zu uns gefunden zu haben, vermuten wir.«
»Und sie wollen dennoch hier bleiben, trotzdem die Täter nicht gefunden wurden? Können wir Ihnen etwas bringen, oder helfen?«
Die fremde Stimme klang plötzlich lauter. »Vorläufig nicht, nein. Das Gebäude ist groß genug. Die Schüler müssen sich zwar in größeren Gruppen ihre Zimmer teilen, aber dafür haben die Studenten einzelne Räume.«
Seel trat erneut zurück. »Es ist eine schwere Zeit für die Schüler. Ich hoffe, die Umstände werden sich verbessern.«
»Daran müssen sich die Schüler gewöhnen. Sie sind Cruoren. Sie können nur gerecht herrschen, wenn ihre Ansprüche neu aufgebaut werden.«
»Selbstverständlich, Vae.«
»Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Vielen Dank für ihre Hilfe. Wenden Sie sich bitte an uns, wenn sie noch mehr Schüler finden. Ich hoffe, dass Sie und Veu Turem eine produktive Arbeit haben.«
Seel nickte, bevor sie um die Ecke verschwand.
Scarlett schreckte zurück, als die Cruorin — schnell und unkontrolliert — an ihr vorbeihuschte. Sie zog ihre Kapuze tiefer in ihr Gesicht herunter, fasste Scarletts Hand... Und ihre Berührung war kälter als der Schnee.
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