Kapitel 12;2 - Leblose Gewässer
Rhun hielt sich schräg aufrecht, während Hitze in seinem Herz flammte, die er noch nie zuvor gespürt hatte. Seine Beine spannten sich an — eine fremdartige Reserve stützte seinen Körper; Blut rauschte durch die Ohren und plötzlich verschwanden Schwindel, Kraftlosigkeit und Schmerzen.
In der Ferne klangen noch immer die Ausrufe, die dem Gebrüll von Monstern gleichkamen.
Die Sonne schaute auf sie herab — dem unermüdlichen Auge gleich, von dem die alten Sagen erzählten. Die Wolken hatten sich entfernt. Über Brus schwebte der violette Nebel, der die Stadt verschlang.
Nichts an diesem Bild wirkte real.
Plötzlich war Rhun wie losgelöst.
Caden wirbelte herum, nahm eins der Schwerter und positionierte sich vor Declan. »Laufen wir, oder kämpfen wir jetzt noch?«
Es näherten sich vier Personen — das sollte zu bewältigen sein, wenn es sich bei den Angreifern um Amateure handelte.
Doch etwas in Rhuns Innerem befahl ihm, zu laufen. Eine antike Stimme hallte in seinem Kopf wider. Die unklaren Silben verschwammen und übrig blieb nur ein Befehl: Lauf.
Rhun folgte, während er an Declans Arm zog. Es waren keine Worte nötig, damit er verstand.
Der ältere Cruor wehrte sich halbherzig. »Rhun. Ich überlebe das nicht. Hör mir zu. Ich-«
»Wir werden dich nicht erlösen, wenn du das hoffst.«
»Nein. Das- es ist mir egal.«
Rhun wirbelte herum, um die Gestalten zu betrachten, die sich näherten. So, wie sie in der Ferne liefen, war ihr Tempo beinahe erbärmlich.
Viel Zeit würde es ihnen dennoch nicht gewähren.
Bei der Wahl zwischen Kampf und Bewegung würde Rhun plötzlich die Bewegung wählen. Flucht klang stärker, als Waffenrausch.
»Ich trage ihn.«
In Declans Augen lag Hass — abgedämpft und ausgeblichen, aber seit Jahren stetig. »Rhun.«
Kenga drehte das Schwert in der Hand. »Die müssen wir trotzdem jetzt abschütteln.«
Kein Gedanke schwebte zwischen Rhuns Bewegungen, als er Declan aufhob. Es fühlte sich leer an; der Körper des Cruors war kaum ein Gewicht auf seinen Arm. »Du darfst nicht sterben. Sonst-«
Nun war es Declan, der ihn unterbrach: »Nur, weil ich sterbe, wirst du nicht sterben.«
Harding polterte einen Fluch und forderte, dass sie sich beeilen sollten, ehe sie weiterliefen.
Rhun konnte Schritt halten. Er musste sich unter einem Ast bücken, blieb beinahe mit seinen Hörnern darin hängen. Sie betraten eine kleine Ansammlung von einem halben Dutzend Häusern.
Etwas knarrte zu seiner rechten. Gerade als er den Kopf darin umwandte, raste eine Silhouette an ihm vorbei.
Kenga lag auf dem Boden, auf seiner Brust ein Angreifer.
»Cruoren.« Eine hohe Stimme kam von der anderen Seite. Gerade als Rhun herumwirbelte, spürte er eine warme Flüssigkeit an seinen Händen.
Declan blutete.
Das, was geschah, war zu schnell, für sein Auge.
Plötzlich wurden sie von sieben Personen umringt.
Rhun stieß einen Nachtschwärmer hinter sich an die Hauswand. Seine Arme waren träge, als eine zweite Person von oben heruntersprang.
Harding ließ sein Schwert fallen. Das Metall klirrte auf dem Boden. Vier Menschen hatten ihn eingeengt. »Leute, wir wollen euch nichts tun-«
Die Angreifer waren allesamt von Monsterbissen gezeichnet. Einer von ihnen war bis zur Hälfte mit schwarzen Flecken durchzogen.
Caden und Kenga ließen ebenfalls die Waffen sinken. Beide Männer schauten zu Rhun herüber.
Dieser stand an der Wand. Neben ihm ragte das Gesicht eines halb-zerfressenen Menschen. Weiße Verfärbungen hatten sich wie Pilze durch seine Haut gebohrt und seinen Mund einseitig geschlossen. Etwas wildes stand in ihm — wie ein tollwütiges Tier.
Rhun schloss die Lider, als er etwas kaltes an seinem Hals spürte. Eine Klinge. Es konnte nur eine Klinge sein. »Bitte lassen Sie uns gehen.«
Declan sackte auf dem Boden zusammen und krümmte sich voller Schmerz.
Die Menschen verharrten allesamt; schauten in Richtung Brus.
Rhun schielte zu der Hafenstadt, doch abgesehen von der violetten Glocke konnte er nichts erkennen.
Die Angreifer schauten nur. Man konnte aus ihnen nicht lesen; die Gewaltbereitschaft schien allerdings in den Hintergrund gerückt zu sein. Schließlich wandten sich einige von ihnen ab.
Das Messer entfernte sich von seinem Hals. Stattdessen drehten sich die Menschen um, und liefen — in Häuser, hinter Fässern. Ein Mann schnappte ein Kind an der Hand und zog es hinter sich her.
Rhun blinzelte durch seinen trägen Kopf. Was auch immer er soeben beobachtet hatte, er konnte es nicht beschreiben.
»Warum hauen die ab.« Kenga hatte den Mund leicht geöffnet, während er sich bückte, um das Schwert aufzuheben.
Sie alle schauten zur Stadt zurück, doch erkannten nichts, als die üblichen Strukturen, die kaum zu erkennen waren.
Harding hatte sich von dem Schrecken schnell erholt. Er deutete an, dass sie weitergehen sollten und half dabei, dass sie wieder Declan tragen konnten.
Er legte eine Hand auf Rhuns Rücken und schob ihn vorwärts, während er sicherging, dass sie nicht angegriffen wurden.
Vielleicht stimmte, was die Menschen sagten, darüber, dass Kummer zusammenschweißen würde. Doch Harding hatte sich bislang noch nie daran gehalten. Der Grund, dass er überhaupt fliehen musste, war, dass er eine Freundin tödlich verwundet hatte.
Also warum beschützte er ihn plötzlich? Verbundenheit konnte es nicht sein — Chase Harding würde niemals Freundschaft gegenüber eines Cruoren empfinden.
Vielleicht war es der selbe Grund, warum die anderen Menschen weggelaufen waren. Vielleicht stand eine höhere Kraft zwischen ihnen.
Vielleicht wachte Allerick über Rhun.
Die Sonne schien in Rhuns Gesicht. Wäre es nicht ob des kalten Winds und gefrorenen Bodens, würde er sich fühlen, als laufe er dem Frühling entgegen. Etwas füllte ihn von Innen — das Loch, das dort zuvor war — und plötzlich strömte angenehme Wärme in seinen Beinen. Er konnte Laufen, der Schmerz war vergangen und die Gedanken leer.
Er dachte nur ans Laufen, als sei es alles, das zählte.
In seinen Armen war Declan kaum mehr als ein merkliches Gewicht. Das einzige, das ihn bremste, war der übliche Schmerz, den er spürte, wenn er seinen Gehstock nicht verwenden konnte.
Vor ihm lag nichts, als ein Weg. Und Rhun bemerkte nicht einmal, wie lang dieser war. Während Caden schon heftig Luft inhalierte, sah Rhun nur die Häuser, die an ihnen vorbeizogen. Niemand kam heraus.
Einige Bürger beobachteten sie. Die meisten waren bewaffnet, andere versteckten sich bei ihrem Anblick. Immer wieder schauten einige von ihnen zu Brus. Die Spannung war greifbar genug, damit es ihm Unbehagen verschaffte. Sie warteten auf ein unsichtbareres Schicksal.
Von überall hatten in den letzten Tagen Warnungen gehallt, dass die Umgebung, die sich um Brus erstreckte, einem Kampfplatz glich. Vielleicht also versteckten sie sich vor der Stadtwacht.
Rhun folgte Harding, der zur Seite einschwenkte.
Sie kamen auf einem mit Holzplanken ausgelegten Pfad an. Er war glatt, fühlte unmittelbar zum Hafen herunter, der an der nördlichen Küste lag,
Die Schiffe glichen den schneidigen Körpern von Seeschlangen, während sie aus dem Wasser ragten und kleine Kinder mit ihren schaurig-aufgerissenen Mäulern verschreckten. Noch immer schwammen Eisplatten im Wasser, die die Fahrt verzögern könnten. Der Hafen lag so friedlich, dass es fremd war, wie in einem Traum. Rhun konnte kaum noch seine Füße spüren, wie sie auf den Platten auftraten.
Das angenehme Kribbeln in seinen Gliedern wandelte sich schnell zu schrecklicher Hitze.
Wachmänner verschwammen in der Ferne — so, das ihre Gestalten unerreichbar wirkten. Ein Pfeifen ersetzte das Rauschen seines Bluts. Erste, schwarze Flecken tänzelte durch die Landschaft. Der Schmerz kehrte zurück — und trotzdem erkannte Rhun zu spät, dass ihm schwarz vor Augen wurde.
Aus reiner Kraftlosigkeit sackte er auf die Knie, schloss die Augen, wartete. Nur entfernt konnte er hören, wie Harding nach ihnen rief.
Rhun starrte durch die bläuliche Wand, in die sich seine Welt gelegt hatte.
Die winterliche Landschaft war plötzlich schrecklich warm. Harding war zu weit entfernt und versuchte sich zu begründen.
Erste Wachmänner fingen empört an zu fluchen, dann klirrten Waffen. Rhun streckte den Arm aus, um nach einem der Soldaten zu greifen. »Sie gehören zu mir.«
»Sollen wir nicht-«
»Nein.« Rhun ließ seinen Kopf auf die gefrorenen Holzplatten fallen. Er hoffte, das reichte. Er hätte keine Kraft, zu erklären, wieso er mit einem Kriminellen reiste.
Jemand beugte sich über ihn und ließ Schatten auf sein Gesicht fallen — doch Rhun fiel in ein tiefes Loch.
***
Die Stille zog sich hin, wie ein langer, zäher Traum. Als er erwachte, starrte er an eine verzierte Decke. Goldene Ranken schwirrten um hölzerne Blumen. Einige Formen fassten die Elemente ein und in ihrer Mitte prangte ein Leuchter.
Es fühlte sich tatsächlich an, als sei alles, das in den letzten Wochen geschehen war, eine Illusion gewesen. Vielleicht war er in Brus eingeschlafen und hatte alles geträumt. Oder er hatte einen Unfall gehabt — oder es war eine mentale Übung.
Es konnte nicht sein Schicksal sein, mit Kriminellen in einem Dorf zu leben — und mit Declan. Es klang, wie eine der verbotenen Geschichten, die in alten Bibliotheken ruhten und darauf warteten, zu Staub zu zerfallen.
Jene Geschichten, die nicht von Helden, sondern von Verrätern berichteten und erzählten, wie die Bosheit manchmal gewann.
Als seines eine der Sagen, die die Menschen zu ungehorsam anspornte.
Je mehr Zeit jedoch verging — und je mehr Rhun erwachte — desto mehr musste er feststellen, dass sein Leben nicht mehr das gleiche war.
Brus war untergegangen. Die Regeln waren nicht mehr wie damals.
Als er sich umsah, erkannte er nichts, als eine kleine Kammer, in deren Mitte das Bett stand. Einige kleine Töpfe mit Pflanzen an den Seiten; ein Gemälde. Eine Statue von dem Cruorengott Allerick hing neben der Tür.
Einige Minuten lag er dort, atmete nur, versuchte zu sortieren. Declan. Er hatte Declan getragen. Irgendwie hatte er es geschafft, zu laufen.
Als ein Wachmann eintrat, schaute Rhun ihn nur undurchdringlich entgegen. Sein Gesicht fühlte sich weich an, als schmolz die harte Maske, die er sonst trug. Er wusste nicht einmal, welche Frage er zuerst stellen sollte. Es gab zu viele.
Der junge Mann sprach von selbst. Er hatte den heftigen Dialekt der südlichen Regionen und Rhun konnte schwer verstehen, als er etwas sagte, wie „Veu Declan würde gerne noch ein letztes Mal mit Ihnen sprechen. Ich muss Sie auffordern, mich zu begleiten".
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