3. Kapitel
Ally
Da Mom noch arbeiten ist, habe ich das Haus am Donnerstagnachmittag ganz für mich allein. Die Haustür fällt mit einem lauten Knall hinter mir zu. Nachdem ich sie abgeschlossen habe, verharre ich mit klopfendem Herzen im Flur. Es ist unheimlich ruhig. Lediglich das stete Ticken der Uhr in der Küche nebenan durchbricht die beklemmende Stille.
Wäre Dad nicht in der Reha und hätte heute Frühschicht gehabt, wäre er jetzt schon daheim. Er säße womöglich entweder im Wohnzimmer auf der Couch mit einer Zeitung oder einem Krimi in der Hand. Oder er stünde in der Küche, um seinen leidenschaftlichen Hobbys Backen und Kochen nachzugehen.
Mittlerweile ist schon fast ein Monat vergangen, seitdem er nicht mehr daheim ist. Auch wenn er bald wieder nach Hause kommen wird und wir ihn mindestens einmal in der Woche besuchen, vermisse ich ihn. Ich vermisse mein Leben, wie es davor war. Ich vermisse die Stabilität und Normalität, die Leichtigkeit und Unbeschwertheit, die ich vorher hatte. Vor seinem Herzinfarkt.
Mein Blick fällt auf den Boden. Direkt auf die Stelle an der Türschwelle vor der Küche, wo er zusammengebrochen ist. Bilder bahnen sich vor meinem inneren Auge an. Dad, der mit bleichem Gesicht am Boden liegt und sich die linke Brust hält. Dad, dem Schweiß auf der Stirn steht. Dad, der von Schmerzen in der Brust und im linken Arm klagt, sich erbricht und schließlich bewusstlos wird. Mom, wie sie den Rettungswagen alarmiert. Laute Sirenen, die immer näher kommen. Blaue Lichter draußen vor unserem Haus. Sanitäter, die hereinstürmen und Dad mitnehmen. Mom und ich bangend in der Notaufnahme, wo uns eine Ärztin mitteilt, dass er einen Herzinfarkt hatte. Mom und ich auf der kardiologischen Intensivstation, wo wir an seinem Bett stehen und darauf warten, hoffen, dass er aufwacht.
Die Sicht verschwimmt vor meinen Augen. Angst schnürt mir die Kehle zu. Ich bekomme schlecht Luft, ringe nach Atem. Mein ganzer Körper zittert und meine Knie werden weich. Aus Angst, dass sie ganz nachgeben, stütze ich mich mit der Hand an der Kommode neben mir ab. Versuche, mich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Darauf, dass alles noch gut gegangen und Dad am Leben ist. Dass er bald wieder nach Hause kommen wird.
Nachdem ich ein paarmal tief ein- und ausgeatmet und mich wieder beruhigt habe, gehe ich in mein Zimmer. Es ist zwar nicht sehr groß, aber dafür gemütlich eingerichtet mit einem breiten Bett bedeckt mit Kissen und flauschigen Decken, einem Kleiderschrank mit Spiegel auf einer Türseite, einem Regal mit Büchern, DVDs und Deko, einer Kommode voller eingerahmter Fotos, und einem Schreibtisch vor einem großen Fenster mit Blick in den Garten. Durch eine schmale Tür daneben gelange ich außerdem auf den kleinen Balkon über der Terrasse hinaus. Von dort aus kann ich ebenfalls über unseren bescheidenen Garten blicken.
Wie immer nach der Schule erledige ich meine Hausaufgaben und lerne. Gegen fünf Uhr höre ich auf, um mich fürs Training fertig zu machen. Ich schnappe mir meinen bereits zuvor gepackten Rucksack und laufe nach unten.
In der Einfahrt begegne ich Mom, die von der Arbeit zurückgekehrt ist. Sie ist mit ihren ein Meter sechzig wie ich sehr zierlich, wobei ich sie um nur wenige Zentimeter überrage. Sie trägt noch ihre typische Bürouniform bestehend aus Anzughose und Blazer. Die langen kastanienbraunen Haare, die ich von ihr geerbt habe, hat sie zu einem Zopf nach hinten gebunden, der im Takt ihrer Schritte mitschwingt. Ihre grünen Augen hat sie mit Wimperntusche und ihre hohen Wangenknochen mit Highlighter dezent hervorgehoben. In der Öffentlichkeit achtet sie sehr auf ihr Aussehen, doch daheim wirft sie sich wie ich sofort in Jogginghose und Pullover.
»Hallo, Ally. Gehst du ins Training? Wie war die Schule?«, will sie wissen.
Ich nicke. »Die Schule war wie immer. Oh, da fällt mir ein: Wir haben heute den Japanisch- und den Geschichtstest zurückbekommen. Ich habe in beiden die volle Punktzahl geschrieben«, erkläre ich stolz.
Japanisch interessiert mich besonders, weshalb mir das Lernen für die Sprache leichter fällt und ich mit der guten Note schon gerechnet habe. Geschichte ist für mich allerdings das langweiligste Fach, bei dem ich mich schwerer tue. Dennoch habe ich für die Prüfung viel gelernt, weshalb ich über die gute Note erst recht glücklich bin. Vielleicht habe ich mit meinem A-Zeugnis sogar die Chance auf ein Stipendium.
»Wie schön.« Mom drückt lächelnd meine Schulter. »Das kannst du morgen gleich deinem Dad erzählen. Er wird sich darüber freuen.«
»Das glaube ich auch.«
»Wann bist du denn wieder zurück? Tante Kelly kommt heute Abend vorbei. Wir würden mit dem Essen auf dich warten.«
Tante Kelly ist Dads Schwester und Moms beste Freundin. Die drei sind auf dieselbe Highschool gegangen, wo sie sich kennengelernt haben. Zuerst haben sich Mom und Dad ineinander verliebt. Durch ihre Beziehung hat sich Mom mit Tante Kelly angefreundet und war auch deren Trauzeugin, als diese ihre Frau geheiratet hat.
Kelly bringt uns immer zum Lachen und stand uns nach Dads Herzinfarkt sofort zur Seite. Ohne ihre feinfühlige und humorvolle Art hätte ich die Sache vermutlich weitaus weniger gut verkraftet.
»Klingt gut«, sage ich daher. »Das Training ist ja um halb acht aus. Also wäre ich gegen viertel vor acht wieder da.«
»Perfekt. Dann bis später und viel Spaß.«
»Danke. Bis später.«
Nachdem Mom im Haus verschwunden ist, laufe ich das kurze Stück Weg zur nahegelegenen Turnhalle. Dort begebe ich mich direkt in die Umkleide, um meinen Trainingsanzug, den Keikogi, genauer gesagt Jūdōgi, wie man den Judoanzug nennt, anzuziehen. Er besteht aus einer weißen lockeren, knöchellangen Hose, genannt Zubon, und einer gleichfarbigen halblangen Jacke namens Uwagi aus robuster Baumwolle. Die strapazierfähige Uniform soll den Körper kühlen und bietet uns zusätzlich Schutz bei Kämpfen. Wobei die Teilnehmer, die sich bei Wettkämpfen gegenüberstehen, weiße und blaue Anzüge tragen, damit man sie besser voneinander unterscheiden kann. Die vorne halboffene Jacke wird außerdem durch einen Gürtel geschlossen, der meinen Ausbildungsstand anzeigt.
Die Kombination aus Jacke, Hose und Gürtel erinnert mich an meinen Karateanzug früher, denn da trugen wir ähnliches. Ein Grund, weshalb ich mich nach meinem Wechsel von Karate zu Judo dort wie zu Hause fühle.
Zum Schluss binde ich meine fast ellenbogenlangen Haare zu einem Zopf zusammen, damit sie mich beim Training nicht stören.
Bevor ich die bereits mit Judomatten ausgelegte Turnhalle oder das Dojo, wie man den Trainingsraum auch nennt, betrete, halte ich an der Türschwelle an und verbeuge mich. Diese Verbeugung ist ein Zeichen des Respekts gegenüber dem Dojo und dessen Mitgliedern. Außerdem zeige ich damit, dass ich die Regeln akzeptiere.
Dann marschiere ich zu einer Bank, auf der ein Notizbuch liegt, mit dem die Anwesenheit kontrolliert wird. Kommt man zu selten ins Training, kann es passieren, dass man für die Prüfung für den nächsten Grad nicht zugelassen wird.
Nachdem ich dort meine Unterschrift unter der Seite für das heutige Datum eingetragen habe, begebe ich mich zu Zoe und Sandra, zwei Schwestern, die etwa in meinem Alter sind, aber auf eine andere Highschool in der Nähe gehen. Wenngleich sie keine Freundinnen sind wie Phoebe und Hanna, hänge ich im Training immer mit ihnen ab. Wir haben ähnliche Ausbildungsgrade. Obwohl die beiden mit ihrer hochgewachsenen, schlanken Statur, ihren himmelblauen Augen und wasserstoffblonden Haaren auf den ersten Blick eher wie Models wirken, haben sie im Judo einiges drauf.
*** Ende der Leseprobe ***
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