2 - Angebote und Verlockungen
Darren
Das Timing meines Bruders ist wirklich entsetzlich.
„Ivan, verzieh' dich", stöhne ich auf, als er neben mir auf einem der Barhocker Platz nimmt.
„Bleib' doch mal locker. Ich wollte einfach nur sehen, was bei dir so abgeht. Wir sehen uns viel zu selten."
„Was einen guten Grund hat", mache ich ihm klar, trinke den letzten Schluck meines Drinks aus und knalle das Glas dann auf den Tresen.
Er boxt mir brüderlich gegen die Schulter. Selbst meine nach oben wandernde Augenbraue bringt ihn nicht dazu, dieses dämliche Lächeln einzustellen. Seufzend werfe ich einen Blick auf meine Uhr und entschließe mich dann dazu, meine Pause früher zu beenden.
Ab zu meinem Lieblingsplatz in dieser Resto-Bar!
„Tu dir keinen Zwang an, Nervensäge, ich muss wieder. Also, man sieht sich", verabschiede ich mich von Ivan.
Mit einer einladenden Armbewegung zur Tür hin will ich ihm klarmachen, dass sein Abgang erwünscht ist.
Aber das kleine Miststück schlägt rotzfrech grinsend die Beine übereinander, ruft dem Barkeeper auch noch seine Bestellung zu und denkt gar nicht daran, von hier abzuhauen. Ich bemühe mich sehr, wirklich sehr, ihn nicht zusammen mit seinem Barhocker aus der Tür zu schieben.
Bedrohlich lasse ich die Fingerknochen knacken. „Mach die Fliege, Ivan!", zische ich ihm zu, „Wehe, du bist noch hier, wenn ich zu Ende gespielt habe."
Meine Handfläche knallt auf den Tresen, dann rausche ich von dannen. Während ich mich mit schweren Schritten dem von mir angepeilten Platz nähere, muss ich meine Hände fest in die Hosentaschen drücken, um die sorgsam drapierten Blumendekorationen auf den Tischen nicht umzuwerfen.
Toll, danke Ivan!
Es sieht ganz so aus, als hätte er mir die bevorstehende Stunde vollends versaut.
Dem Gefühl in meinen Händen nach zu urteilen, werde ich in den nächsten Sekunden nämlich entweder jemandem eine reinhauen oder meiner Arbeit nachgehen und dort alle Aggressionen ablassen können, die sich in mir angestaut haben.
Die Entscheidung ist fast schon zu einfach. Ich muss gar nicht lange überlegen, welche Möglichkeit mir lieber ist.
Mit einem kleinen Sprung bin ich auf dem kreisrunden Podest angekommen, dass in der Raummitte steht. Es ist nicht groß und nur leicht angehoben, aber dafür kann man es von allen Seiten aus gut sehen. Mich und das schönste Instrument, das es gibt.
Ich lasse mich auf dem Klavierhocker nieder, streife die Ärmel meines Sakkos zurecht und lasse meine Finger dann eine kurze Einstiegsmelodie spielen. Leichtes Geklimper ohne rechten Sinn dahinter. Trotzdem schön für die Ohren, sowie auch für mich selbst, der augenblicklich merkt, wie sich die Anspannung an einem Punkt sammelt, bevor sie sich gleich im Verlauf meines Spieles völlig verflüchtigen wird.
Als die Übergänge zwischen den Tönen sanfter werden und ich einige kompliziertere Fingergriffe erfolgreich meistere, beschließe ich, dass es Zeit wird.
Wie vor jedem Beginn hole ich einen tiefen Atemzug, bevor ich mich ins Meer der Musik stürze.
Vom Alkohol beflügelt, den man mir mit einem Augenzwinkern angeboten hat, schlage ich in die Tasten, jage die Töne durch Crescendos, Akkorde und Triller. Hinauf und wieder hinunter, durcheinander, dann wieder geordneter und gefasster. Ich bekomme nicht genug von der Kraft, die ich entfesselt habe.
Habe ich Zuhörer? Ist Ivan noch da? Wo bin ich überhaupt? Alles egal – das Einzige, was zählt, ist, dass meine Finger eins sind mit den Tönen, die sie heraufbeschwören. Nichts anderes zählt. Ich weiß nicht, was ich tue. Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich lasse mich einfach forttragen von der Melodie, die Stürme entfesseln und Herzen zum Brechen bringen kann.
Ich spiele und spiele. Vollkommen versunken in meine Künste. Immer weiter.
Lauter.
Gefühlvoller.
Einnehmender.
Die Töne werden tiefer und wechseln schneller, meine Finger tanzen über die Tasten. Note für Note nähere ich mich dem Ende meines Stückes, meines letzten Stückes für heute, und kann es gar nicht erwarten, den letzten Sturm zu entfesseln. Ich habe ein Stück geschrieben, dass man in Erinnerung behält, denn in den letzten Takten wird einem vor lauter Emotionen das Herz herausgerissen, wenn man nur gut genug zugehört und gespürt hat. Das Stück zerstört alle, wieder und wieder, nur um jeden von ihnen mit seinem letzten Ton wieder zusammenzusetzen. Bloß mit einer Veränderung im Herzen.
Das ist es, was mein Ende so besonders macht.
Auch wenn ich zerstöre und alles in anderen Menschen offenbaren kann, so habe ich sie am Ende doch fest in meinen Armen und lasse wieder alles gut werden.
***
Applaus.
Blinzelnd sehe ich auf, als der letzte Ton verhallt ist.
Der Applaus dröhnt von allen Seiten auf mich ein. Ich erhebe und verbeuge mich dann einmal in alle Richtungen. Die Bewunderung fliegt zu mir auf und ich lasse es zu, dass in diesem Moment nur dieses eine Gefühl durch mich hindurchfließt. Es ist wundervoll, diese Wertschätzung für etwas zu bekommen, für das man sonst nie wertgeschätzt wurde. Zumindest nicht von denen, von denen man es sich am meisten gewünscht hätte.
In den Gesichtern der Menschen an den Tischen spiegelt sich nur ein Bruchteil dessen, was ich in ihnen ausgelöst haben muss. Sie offenbaren mir in ihren Augen ihre Gefühlswelt, die ich allein mit meiner Musik in ihnen zum Leben erweckt habe.
Da ist er, der Beweis: Man braucht keine Krieger, um die Welt im Griff haben. Man braucht nur Musiker und vor allem Pianisten, die das Gute in den Menschen erwecken können.
Noch einen Moment schwebe ich im Glück ... lasse mich davontragen.
Dann betrete ich den Boden der Realität und beschreite den Pfad zur Last des heutigen Tages.
Allein wie er dasitzt, mit weißem Hemd und Jeans, die ihn wie einen Störkörper in diesem Ensemble wirken lassen, und sich fühlt, als würde er hierhergehören.
Mal sehen, wie lange es diesmal dauert, ihm die Selbstsicherheit zu nehmen. Ich tippe auf zwei Minuten.
„Ivan", begrüße ich meinen Bruder mit ausgebreiteten Armen – wie es sich für Künstler wie mich gehört – und strahle ihn mit einer viel zu breiten Zahnreihe an, „Du befindest dich auf dem besten Weg, im hohen Bogen hier rauszufliegen."
Er bemüht sich noch nicht mal, mir wirklich in die Augen zu schauen. Ich habe es also geschafft, ihm zu zeigen, welche Macht sein Bruder in den Händen hat. Ich habe ihn das fühlen lassen, was ich gewollt habe. Und das nutze ich nicht selten, um meine einschüchternde Präsenz zu unterstreichen.
Hierbei muss ich noch nicht einmal übertreiben, auch wenn ich öfter dazu neigen mag.
Aber das hier, das ist die Realität. Meine Welt, in der ich die Position des Allmächtigen einnehme. Darf ich vorstellen? Darren Sonietto.
Ohne nach Erlaubnis zu fragen, nehme ich den Drink meines kleinen Bruders an mich und proste einer Gruppe junger Damen zu, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf mich richten. Als sie sehen, dass ich sie bemerkt habe, lächeln sie nur und verfallen dann wieder in ihre Gespräche. Natürlich nicht, ohne immer mal wieder wie zufällig ihre Blicke auf mich zu werfen.
Wie sehr ich die Aufmerksamkeit liebe, die mit meiner Arbeit einhergeht! Wer weiß schon, was heute noch geschieht? Meine Musik öffnet Türen, Welten und Herzen – eigentlich bin ich wunschlos glücklich.
„Hörst du mir überhaupt zu?", kommt es von der Seite.
„Nope. Ich will die Moralpredigten nicht mehr hören. Sag Vater, dass ich einen Dreck darauf gebe, was er sagt."
Ivan schüttelt den Kopf und ich falle ihm prompt ins Wort, ohne dass er überhaupt den Mund aufmachen kann: „Doch nicht etwa von Mutter?! Egal, was sie dir gesagt hat, ich habe nichts gemacht und werde mir nicht anhören, was diese Frau zu sagen hat."
„Darren! Man kann echt nicht mit dir reden", mault mich meine persönliche Nervensäge an.
„Dann rück' doch mal mit der Sprache heraus! Wie du sieht, habe ich noch andere Dinge zu tun."
Es ist wirklich anstrengend, sich mit ihm zu unterhalten.
„Dann lass' mich doch mal aussprechen!"
Ich lasse ein Seufzen vernehmen, aber mache keine weiteren Anstalten, ihn am Reden zu hindern. So wie ich ihn kenne, sitzen wir sonst noch bis morgen hier. Oder auch noch länger.
„Also, weder Mum noch Dad schicken mich. Nein, ich bin heute einfach mal aus freien Stücken zu dir gekommen. Wir haben uns länger nicht gesehen und ... und außerdem möchte ich deine Hilfe. Möchte, nicht brauche", fügt er sofort hinzu, als er den Blick sieht, den ich ihm zuwerfe.
Ich werde nicht bestreiten, dass ich schonmal damit angefangen habe zu überlegen, welchen Vorteil ich aus seiner Misere ziehen könnte.
Süffisant verziehe ich die Mundwinkel nach oben: „So, welche Hilfe möchtest du denn von mir?"
Ganz ehrlich, ich habe echt keine Ahnung, was er von mir wollen könnte. Ich hab ja noch nicht einmal eine Vermutung, was er in den letzten Wochen gemacht hat. Er tanzt nur bei mir an, wenn meine Erzeuger etwas von mir wollen oder er ein schlechtes Gewissen hat, weil wir uns seiner Meinung nach als Geschwister zu wenig sehen.
Und von mir braucht er nicht zu erwarten, dass ich irgendwann bei ihm aufkreuzen könnte.
Ivan lehnt sich etwas weiter zurück und verschränkt die Arme in einer irgendwie wissenden, überheblichen Art. Bevor mich das große Kotzen überkommt, starre ich lieber gleich durch ihn hindurch.
„Ich habe mich ein wenig über deine Arbeitsstelle hier erkundigt und ich habe mitgekriegt, dass du hier in den nächsten drei Wochen nicht arbeiten kannst. Du weißt schon, diese Renovierungsarbeiten."
„Und? Problem damit?", konfrontiere ich ihn angriffslustiger als beabsichtigt.
„Überhaupt nicht", lächelt mich Ivan unschuldig an.
So, jetzt kommt's. Diese wahnsinnig gute Idee, auf die er – dem Funkeln in seinen Augen nach zu urteilen – richtig stolz ist?
„Hast du Lust auf Urlaub?", platzt er schließlich damit heraus.
„Hm?", mache ich nur überrascht. Irgendwie hatte ich jetzt etwas anderes erwartet.
„Darren, willst du Urlaub machen? Es gibt da so eine Insel, der absolute Geheimtipp. Das Hotel muss der Oberkracher sein – und die Partys dort erst! Ich wette, du würdest es dort lieben. Und -", meint er verschwörerisch und beugt sich etwas näher zu mir, „Ich habe mir sagen lassen, dass man für das Essen dort morden könnte."
Gelangweilt stütze ich mein Kinn auf meine Hand und trinke den letzten Rest seines Drinks aus. Während ich ihn überlegend mustere, lasse ich das Glas auf dem Tresen kreisen.
„Und? Willst du dort hin?", fragt er mich dann gespannt. Seine Füße tippeln auf und ab, registriere ich aus dem Augenwinkel. Mann, da muss verdammt viel hinter meiner Entscheidung stecken.
Also lasse ich mir auch verdammt viel Zeit, um das Ganze unnötig in die Länge zu ziehen.
„Mhm ... nee. Kein Interesse."
„Nicht dein Ernst", empört sich Ivan. „Warum bitte nicht? Du müsstest noch nicht einmal dafür bezahlen!"
„Das war mir klar, aber du hast etwas vergessen."
„Was meinst du genau?"
„Du hast vergessen, mir vom Haken zu erzählen."
„Welcher Haken?"
„Ach, ich bitte dich, Ivan. Man lockt nicht mit solch großen Versprechungen, ohne ein Messer im Ärmel zu verstecken."
Er fährt sich mit einer nervösen Bewegung über die Jeans, bevor er kleinlaut das Wort ergreift: „Okay. Da gibt's noch eine kleinere Sache: Falls du dich dazu entschließen solltest, dorthin zu reisen, wirst du im Auftrag eines geheimen Projektes da sein."
War ja klar. Ich verdrehe die Augen. Wo sind wir hier, in unserem Garten von vor 25 Jahren, während wir als Kinder Geheimagenten spielen?
„Kriege ich vielleicht noch ein paar mehr Infos?"
„Ich darf dir nicht besonders viel verraten. Nur, dass ich da mit ein paar Freunden was am Laufen habe. Ein Projekt."
„Ja, soweit waren wir schon", unterbreche ich genervt. Falls der Eindruck entsteht, dass ich es mag, meinen Bruder in den Wahnsinn zu treiben – ja, genauso ist es. Zufrieden beobachte ich, wie er sichtlich angespannt versucht tief durchzuatmen und die Fassung zu bewahren.
„Im Grunde reisen wir unauffällig umher und versuchen, die Lügen und Betrügereien von Hotels aufzudecken. Du glaubst gar nicht, was wir schon alles zu Gesicht bekommen haben. Es erweckt fast schon den Anschein, dass die Leute nicht mehr wissen, wer die Erde zuerst für sich entdeckt hat. Die Natur. Wir Menschen sind eigentlich die Nachzügler. Aber was auf manchen Inseln abgeht und was die mit unseren Meeren machen ..." Er schüttelt ergriffen den Kopf.
„Und das heißt jetzt im Klartext?"
„Ey, wir sitzen in der Öffentlichkeit in 'nem luxuriösen Restaurant! Ich werde doch jetzt nicht alle Einzelheiten eines illegalen Projektes vor dir ausbreiten."
„Mein Bruder gründet also ein illegales Projekt und will mich jetzt auch noch mit reinziehen. Was werden Mummy und Daddy bloß sagen ...?"
Das lasse ich im Raum schweben und beobachte mit verhaltener Freude, wie sich seine Gesichtsfarbe in ein mattes Weißgrau verwandelt.
„Ich warne dich – wenn du irgendjemandem auch nur ein Wort davon verrätst, wirst du die Konsequenzen zu spüren bekommen!", lässt er drohend vernehmen, „Wir lassen dort kleinere Sachen steigen, sabotieren mal hier und mal da, konfrontieren andere Gäste mit den Missständen und versuchen natürlich an so viele Informationen wie möglich dranzukommen. Das Ganze wird in einem finalen Showdown öffentlich gemacht; bloß lief der bisher immer ziemlich chaotisch und knapp ab. Also, ja ... da habe ich halt vorgeschlagen, jemanden mit Erfahrung dazu zu holen."
„Erfahrung?"
Ehrlich, seine Gesichtsausdrücke sind die beste Abendserie, die man sich reinziehen kann. Natürlich meine ich nicht alles so, wie er es auffasst, aber genau das macht einfach so herrlich viel Spaß.
„Na ja, du ... du hast halt früher ein paar Dinge gemacht. A-also habe ich angenommen, dass du für sowas bestimmt Erfahrung mitbringst."
„Die Zeiten sind vorbei", stelle ich eine Spur zu scharf fest.
Ivan ist knallrot angelaufen und sieht aus, als würde er jetzt und auf der Stelle im Erdboden versinken wollen.
„Es ... es tut mir leid. Ich verstehe schon, du wirst nicht dabei sein", murmelt er geknickt.
Whoa, jetzt habe ich ihn wohl wirklich traurig gemacht. Eigentlich könnte ich es nun dabei belassen und mich wieder meinem wirklichen Leben zuwenden; doch trotzdem hält mich etwas zurück.
Warum eigentlich nicht? Einmal weg von diesem Ort und etwas Gutes machen ... und dabei vielleicht jemandes Zuspruch erlangen, dessen Bestätigung und Lob ich noch nie verspürt habe?
Einen Versuch habe ich.
Ein Ticket für eine neue Chance.
Vielleicht sollte ich es einlösen, bevor es verfällt.
Ich verdrehe die Augen. „Eigentlich solltest du mich kennen, Bruder. Sofern etwas Ordentliches für mich dabei rausspringt, bin ich immer dabei."
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