6 - Der Bruder der Schuldgefühle
Make-up? Kein Make-up?
Sonst hatte ich nie Make-up aufgetragen. Wieso auch? Schließlich war ich so ziemlich die Einzige, die meine Eltern zu Gesicht bekamen. Doch jetzt, wo ich das Interesse der Clique geweckt hatte, wollte ich unbedingt eine von ihnen sein. Und dazu gehörte nun einmal auch das Aussehen.
Ich entschied mich für etwas grauen Lidschatten, der nicht sonderlich zu erkennen war und leichtes Puder auf den Wangen, in der Hoffnung, nicht wegen meiner Röte aufzufallen, sobald ich Oliver sehen würde.
Der Kleiderschrank gab das Freizügigste her, das ich besaß. Ein rot kariertes Top mit Spaghettiträgern und eine kurze Hose, die mir gerade so über die Hüfte reichte. Ich hatte sie noch nie zuvor getragen, vielleicht einmal. Sie war eher eine Reserve, wenn die Sommer auf dem Wasser zu heiß wurden. Für gewöhnlich fand man mich aber nur in Badekleidung vor.
Es machte mich zwar noch lange nicht zu einer von ihnen, doch es kam dem sehr nah. Vielleicht hatte ich ja eine Chance, mich noch einmal zu beweisen.
***
Die Stunden zogen sich in die Länge. Man hätte meinen können, die Zeiger der Uhr bewegten sich eine Minute weiter, nur um dann wieder in ihre ursprüngliche Position zurückzufallen. Heute wurden nur Fächer unterrichtet, die ich nicht besonders willkommen hieß. Darunter Mathematik und Chemie.
Mein Blick verweilte beim Fenster, das mir einen Blick auf den Schulhof bot. Dort, wo ich schon in wenigen Minuten als Halbteil der Beliebten stehen würde. Ich konnte es kaum noch abwarten.
Leider war ich eine Klasse unter ihnen, sodass ich nicht den ganzen Tag mit ihnen verbringen konnte. So sehr wünschte ich mir, dass ich schon siebzehn wäre. Nur in Literatur und Geschichte hatte ich die Möglichkeit, den Altersunterschied kurz zu vergessen.
Wieder einmal schob ich mich über den überfüllten Flur, doch ich wurde früher als die meisten erlöst, als mich die Biegung zur Wiese der Beliebten ereilte. Mit Freude schlenderte ich selbstbewusst mit meinem Rucksack auf einer Schulter zu den anderen, die entspannt dasaßen. Cathrin mit einer Sonnenbrille in den Himmel blickend, sodass sie mich nicht kommen sah.
Oliver erkannte mich hingegen sofort und kam mir lächelnd entgegen, um mich freudig zu begrüßen. Auch Ethan, Jay, Dan, Scarlett und Aria bemerkten meine Anwesenheit und strahlten übers ganze Gesicht.
Erst als Oliver mich mit einem einfachen Hey begrüßte, blickte auch schließlich Cathrin verstohlen zu mir und schob die Sonnenbrille etwas höher auf die Nase.
"Hey. Seid ihr schon lange hier?", wollte ich spontan wissen. Schließlich ärgerte ich mich selbst über diese überflüssige Frage.
"Nein. Wir sind auch erst gerade gekommen", versicherte mir der Schwarzschopf und deutete auf seine Freunde hinter sich, die uns amüsiert beobachteten.
Für einen kurzen Moment verweilten wir so und schauten uns gegenseitig in die Augen. Ich vergaß kurz die Welt um uns herum.
Erst als Cathrin uns zurief, dass wir endlich zu den anderen stoßen sollen, lösten wir unsere Blicke voneinander. Innerlich keimte in mir sofort der Gedanke auf, dass sie uns nur zu sich zitierte, um uns weiterhin zu kontrollieren.
Trotzdem kamen wir ihrer Aufforderung langsam nach und gingen wieder zurück. Ein paar Meter, bevor wir den Platz erreichten, flüsterte Oliver mir verstohlen zu: "Du siehst anders aus. Gefällt mir", ohne, dass irgendjemand außer mir es hören konnte. Diese Worte waren nur für meine Ohren bestimmt gewesen.
Ein breites Lächeln legte sich auf meine Lippen, sodass es eigentlich auffallen musste, was in meinem Kopf gerade abging. Doch keiner reagierte darauf.
"Was geht? Cool, dass du jetzt auch hier bei uns bist", meldete sich Ethan zu Wort, als wir eintrafen. Sofort kassierte er die feurigen Augen von Cathrin ein, schloss schnell den Mund und verzog das Gesicht.
"Danke. Ich freue mich, dass ich hier sein darf." Ehrlich gesagt war es mir relativ egal, ob ich Cathrin damit verärgerte, doch auf sie war wie immer Verlass: "Nur vorübergehend. Wenn du es nicht schaffst, heißt es in wenigen Sekunden Bye bye!"
"Ich bin davon überzeugt, dass sie es schaffen wird", verteidigte Oliver mich, wofür ich sehr dankbar war. Dass er sich im Vergleich zu seinen langjährigen Freunden für eine Fremde einsetzte und sich dafür sogar gegen seine beste Freundin auflehnte, fand ich in der Tat bemerkenswert.
Bei seinen Worten legte er seinen Arm um meine Schulter. Augenblicklich wurde ich rot. Das Puder, das ich mir extra für diesen Fall aufgetragen hatte, würde meine Deckung mit Sicherheit auffliegen lassen.
Ich schaute an ihm hoch. Er war einen Kopf größer als ich und obwohl ich ihm schon einmal so nah gewesen war, fühlte es sich wie das erste Mal an, dass ich bei ihm sein durfte. Auf Cathrin fixiert, merkte Oliver nicht, wie ich seine Züge neugierig begutachtete, während er seine Aussage stark zum Ausdruck brachte.
"Wie auch immer", verdrehte Cathrin die Augen. Sie wollte noch etwas erwidern, doch in diesem Moment wurden wir von einer Stimme unterbrochen, von der ich dachte, ich hätte sie schon einmal irgendwo gehört.
"Hey! Hey! Was sollte das gestern, mhh?" - Der Ton wirkte aufgebracht und herablassend.
Immer noch mich im Arm haltend, drehte sich Oliver genervt um und blickte in die Augen eines mir unbekannten Jungen.
Er besaß hellbraune Haare, grüne Augen und ein paar Sommersprossen im Gesicht, wenn auch nicht stark erkennbar. Vom Kleidungsstil unterschied er sich nicht besonders von der Clique; unter einer rotgrauen Strickjacke verbarg sich ein schwarzes Shirt. Der restliche Teil seines Looks bestand aus einer hellblauen Jeans und passend grauen Sneakern.
Sofort kam mir die Frage in den Sinn, wieso er nicht längst in der Gang war.
"Was meinst du?", äußerte sich Oliver von nichts wissend, obwohl ich annahm, er wusste längst, wovon der Fremde sprach.
"Du weißt genau was ich meine, Oliver! Meine Schwester wurde gestern von einem von euch von Wasser überrascht!"
"Chill mal, Britton! Ist doch nichts passiert. Du solltest froh sein, dass es nur Wasser war", lachte Jay egoistisch auf.
Britton rief mir irgendetwas ins Gedächtnis. Irgendwo hatte ich diesen Namen schon einmal gehört. Er musste ein Nachname sein.
"Nichts passiert?! Sie hat schon Vertrauensprobleme! Da kann sie so eine Aktion wirklich nicht mehr vertragen!"
"Und? Was willst du nun dagegen machen?", fragte Oliver total desinteressiert.
Meine Schuldgefühle schienen langsam zuzunehmen. Sofort wusste ich, dass dort der Bruder des Mädchens stand, an der ich meine Pflichtaufgabe gestern ausgeführt hatte. Am liebsten hätte ich mich jetzt ganz hinten in der letzten Ecke der Wiese versteckt.
"Ich verlange nichts. Nur, dass ihr endlich mal den Respekt vor anderen Menschen lernt", seine tiefe Stimme schien etwas abzuflachen.
Für einen kurzen Moment hielt ich es für sinnvoll, mich als Täter zu outen. Doch bevor ich zu einem klaren Entschluss kam und viel zu lange darüber nachdachte, zog der Fremde schon wieder ab.
Sofort brachen alle außer mir in Gelächter aus. Ich aber schwieg und blickte ihm nur still nachdenklich hinterher.
"So ein Loser!", stellte Scarlett fest. Alle stimmten belustigt zu.
"Wer war denn das?", wollte ich wissen und blickte zu Oliver, dessen Gesichtszüge augenblicklich wieder in die Tiefe sanken.
"Das ist ein Niemand! Komm bloß nicht auf den Gedanken an irgendetwas, das du getan hast, zu zweifeln. Dann bringst du es zu nichts!", verkündete Oliver und löste sich aus unserer Umarmung, was ich nicht besonders willkommen hieß.
"Wieso ist er denn hier auf der Wiese der Beliebten, wenn ihr ihn nicht ausstehen könnt?"
Jay blickte mit zusammengekniffenen Augen zu mir und meinte dann bestimmt: "Weil er Footballer ist. Die haben sowieso Anspruch auf die Wiese. So ne dumme Schulordnung."
Meine Gedanken bewegten sich zwischen Schuldgefühlen und dem, was Oliver gemeint hatte. Sollte ich mir wirklich keine Schuld eingestehen und nicht zu dem stehen, was nun einmal passiert war?
Während Oliver mit den anderen beschäftigt war, über den Fremden zu lästern, schlich ich mich mit einem leisen Ich bin gleich zurück von ihnen weg und ging zu einem der Mülleimer, um eine leere Twix-Packung wegzuschmeißen, die ich aus irgendeinem Grund noch in der Hosentasche aufbewahrt hatte. Anscheinend hatte ich im letzten Sommer, in dem ich die Hose getragen hatte, einen kleinen Snack unbedingt nötig gehabt.
"Du solltest nicht mit diesen Leuten abhängen", riet mir diese Stimme wieder. Dieser Britton saß auf der Bank, gleich neben dem Mülleimer und stemmte seine Unterarme auf seinen Oberschenkeln. Den Blick auf mich genaustens fixiert.
"Ach ja? Wieso nicht? Weil du sie anscheinend nicht leiden kannst oder wie?", fragte ich genervt. Vielleicht zeigte Olivers Rat ja doch eine Wirkung.
"Sie denken nicht nach, bevor sie handeln. Sie benutzen dich, ohne dass du es bemerkst." - Seine Stimme schien klar und obwohl er es anscheinend sehr ernst meinte, musste ich über diese Worte grinsen.
"Das glaub ich nicht. Sie sind doch voll nett. Ich denke, du siehst die Sache etwas kritisch, findest du nicht?" - Ich wurde etwas freundlicher ihm gegenüber. Tief im Inneren wusste ich, was er meinte. Ich stimmte ihm ja zu. So harmlos sie auch aussahen. In Wahrheit waren sie es nicht.
"Wenn du meinst. Ich halte an meiner Meinung fest. Du wirst schon sehen, was ich meine, wenn die Zeit dafür gekommen ist." - Mit diesen letzten Worten stand er von der Bank auf und verließ mich. Seine Schritte wurden von dem Pausengong geleitet, der sogleich ertönte. Dem folgten schließlich auch alle anderen und ich.
***
In der nächsten Stunde fasste ich mir an meinen Glücksbringer, ein Bernstein. Nichts Besonderes. In all der Zeit, in der ich mich zurechtgemacht hatte, hatte ich ihn nicht einmal abgelegt. Ich ließ ihn niemals unbeaufsichtigt zurück. Die Erinnerungen, die ich mit diesem Stein verband, wollte ich überall mit hinnehmen.
Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, wäre das in dieser Zeit wohl, dass die Zeit einen Marathon veranstaltete. Ich wollte nur noch raus ins Freie. In den Sommer.
Meine Augen verfolgten die Jugendlichen, darunter wieder einmal Cathrin, Aria und Scarlett, die sich auf der Straße auf den hinteren Teil des Pick-ups setzten und ans Meer losrasten. Wie gerne wäre ich mitgefahren. Ich hätte alles lieber getan als Mathemathik. Dieses Fach hatte mir noch nie wirklich Freude bereitet.
***
Endlich war Schulschluss. Bevor ich meine Sachen in meinen Rucksack stopfen konnte, hatten meine Mitschüler den Raum schon längst verlassen. Es wunderte mich nicht besonders. Sie packten ihre Hefte und Bücher schon während der Stunde zusammen.
Ich schritt die Stufen vom Hauptgebäude hinunter und bemerkte schnell, dass der Parkplatz schon so gut wie leergefegt war. Keine Menschenseele war mehr hier.
Ich legte mein Skateboard, das zuvor unter meinem Arm geklemmt hatte, auf die Straße, stieg auf und fuhr nach Hause. Die Hitze der Sonne drückte wieder unerträglich. Ich hätte mir besser eine Sonnenbrille mitnehmen sollen.
Selbst auf dem Weg zu Quantum war die Straße immer noch menschenleer. Als könnte die Sonne ihnen etwas anhaben und deshalb müssten sie sich schnellstens in ihre Häuser flüchten.
Zuhause angekommen, schmiss ich meinen vollen, schweren Rucksack auf das Sofa und rief: "Bin wieder da!" - So langsam verstand ich, weshalb Oliver auf einen Rucksack verzichtete. Im Homeschooling hatten meine Unterlagen immer brav auf dem Schreibtisch gewartet und mussten nicht über unendlich viele Straßen, Gänge und Wege geschleppt werden.
Nach wenigen Sekunden kam mein Dad geeilt und umarmte mich. - "Hey, Schätzchen!" - Seine Klamotten hatte er wieder einmal irgendwo aus einer Mülltonne gezogen und sein Gesichtsausdruck sah gestresst aus. Auf seiner Nase hatte er eine Lesebrille sitzen, was mir Auskunft darüber gab, dass er mitten in der Arbeit steckte.
"Lass dich nicht stören", meinte ich und schlenderte in die Küche, um mir eine Schüssel Müsli zu holen. Ein richtiges Mittagessen gab es bei uns nicht sehr oft. Zum einen war es nicht sehr praktisch, wenn man bedachte, dass wir auf einem Schiff lebten. Anderseits waren meine Eltern viel zu sehr mit ihrer Arbeit beschäftigt und überhaupt; wie hungrig war man schon bei so einer unerträglichen Hitze?
"Mmhhh...", nuschelte mein Dad und kramte in einem Stapel von Unterlagen. Sicherlich war er nicht aus seinem winzigen Arbeitszimmer gekommen, nur um mich zu begrüßen, sondern eigentlich den Unterlagen zuliebe.
Meine Mom tauchte gar nicht erst auf. Typisch für sie. Wenn sie erst einmal in einem Schreibfluss steckte, war es für sie schwer, aus diesem wieder auszubrechen. Ich verübelte es ihr nicht.
Kaum war mein Dad wieder in seinem Büro verschwunden, fing ich leise an zu summen. Irgendeine absurde Melodie, um meinen Kopf von den ganzen Worten und Ratschlägen zu säubern, die mir heute in die Ohren gekommen waren.
Was mir auf jeden Fall auffiel, war, dass Oliver und dieser Britton sich ziemlich verabscheuen mussten. So verhasst sie sich gegenseitig angesehen hatten und miteinander umgesprungen waren.
Der eine riet mir, mich von dem jeweils anderen fernzuhalten und nicht so zu werden wie er. Sie hatten anscheinend schon öfter miteinander zu tun gehabt. Vermutlich wegen des Footballs.
Ich setzte mich an den Esstisch vor meine Schale mit Müsli und schnappte mir ein Buch aus dem kleinen Bücherregal an der Wand, das sich für mich halbwegs spannend anhörte. Die meisten Bücher in diesem winzigen Boot hatte ich bereits durchgelesen.
Ich stand nicht auf diese albernen Klischeebücher, wo es ein Happy End gab. Das Mädchen trifft auf einen Badboy, der ihr den Kopf verdreht. Sie verliebt sich in ihn und wird von ihm verletzt, aber am Ende können sie beide nicht ohne den jeweils anderen leben und kommen wieder zusammen und schwören sich ewige Treue und Liebe.
Mein Typ war eher ein Buch mit einer unerwarteten Wendung und am Ende kommt alles anders, als man es am Anfang für möglich gehalten hatte.
Das Buch, das ich in der Hand hielt, war so eines. Ich konnte es einfach nicht mehr zurücklegen. Viel zu sehr ersehnte ich mir das dramatische Ende. Und so verbrachte ich den ganzen Abend mit dem Lesen, bis irgendwann einmal meine Eltern aus ihrem Arbeitsleben heraustraten und merkten, dass sie auch noch eine Tochter hatten.
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