5 - Einladung ins Chatter
Der neue Tag begann für mich sehr früh. Ich stand vor meinen Eltern auf und war schon unterwegs, als sie sich gerade die Augen vor lauter Müdigkeit rieben.
Dies tat ich mir nur an, um Oliver, Cathrin und ihrer Gang nicht zu begegnen. Zumindest nicht vor der ersten Stunde. Ich konnte mich allein jetzt schon durch meine Gedanken nicht konzentrieren, die ständig riefen, dass ich mehr von Oliver wollte. Ich wollte mich als seine gute Freundin bezeichnen dürfen und wenn ich das dachte, meinte ich eigentlich mehr als das.
Cathrin wollte ich zudem sowieso nicht begegnen. Was, wenn Oliver ihr schon längst von unserer Zeit alleine erzählt hatte?
Nein, das glaubte ich nicht. Dann wäre sie sicherlich schon auf hundertachtzig und hätte mir längst die Haare ausgerissen. Und das wäre das Harmloseste, was ich ihr zutrauen würde.
Da mir heute einmal genug Zeit zur Verfügung stand, den richtigen Klassenraum aufzufinden, in dem ich Literatur hatte, genoss ich die Stille im Gebäude. Kaum ein Schüler war in der High School zu sehen, lediglich ein paar, die durch den Bus nicht später kommen konnten.
Auch wenn Mister Harris mir geraten hatte, mich weiter nach vorne zu setzen, beließ ich es vorerst in der Mitte. Ich wollte nicht die Streberin sein, die sich jedes Mal einen Platz ganz vorne ergattern wollte, damit der Lehrer aufmerksamer auf sie wurde.
Nach wenigen Minuten füllte sich der Raum langsam. Es kamen die Durchschnittsschüler, die nichts zu erzählen hatten, sich still auf ihre Plätze begaben und auf den Lehrer warteten.
Kurz vor Unterrichtsbeginn, vielleicht drei Minuten davor, erkannte ich Cathrin, die sich samt ihrer schlechten Laune auf einen der Stühle in der vorderen Reihe begab, dicht gefolgt von ihren Mädchen, die, wie ich fand, ihre Anhängsel verkörperten. Überall wo sie hinging, folgten ihr die zwei.
Mister Harris kam herein, stellte seine Aktentasche auf den Tisch und begrüßte die Klasse, die stillschweigend in die Luft schaute. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich wieder diejenige sein würde, die als Einzige dem Unterricht folgen und eigene Beiträge dazu leisten würde.
Mein Lehrer schnitt das erste Thema für heute an. Wieder einmal ging es um Stolz und Vorurteil von Jane Austen und die Reaktion, die das Buch in England und dem Rest der Welt im 19. Jahrhundert ausgelöst hatte.
Die Stunde verging wie im Flug. Ich zog den Unterricht allein mit Mister Harris durch, während von den anderen kaum ein Piep noch ein Papp zu hören war.
Am Ende der Stunde schien die Zeit eine kleine Pause einzulegen. Gebannt starrte ich auf die Uhr, die sich über der Klassentür befand und zählte die Sekunden herunter, in der Mister Harris nur Wissen vermittelte, das ich längst kannte und wusste.
Es verblieb lediglich eine Minute bis zur Pause. In meinem Kopf plante ich bereits die Schritte, den Klassenraum unbemerkt zu verlassen und mich still und heimlich in die letzte Ecke während der Pause zurückzuziehen.
***
Mit der Pausenklingel stürmten die Schüler wieder auf den überfüllten Flur. Chaos und Lärm brachen aus.
Eigentlich wollte ich eine Begegnung mit Oliver vermeiden, doch das ließ er sich nicht bis zum Ende des Schultages gefallen.
"Hey", rief Oliver mir hinterher, als ich schon auf dem langen Gang unterwegs zur Cafeteria war. Gespielt lächelte ich, als wäre nichts zwischen uns jemals vorgefallen und drehte mich zu ihm um: "Hi, ähm...ist Cathrin nicht bei dir?" - Suchend blickte ich hinter ihn.
"Nein, die müsste aber gleich kommen", sein Gesicht wurde freundlicher und auch zugegebenermaßen süß: "Also."
Mein Herz setzte aus. Wollte er jetzt wirklich das Thema vor aller Öffentlichkeit ansprechen?
"Wieso bist du so gut in Literatur?" Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich atmete erleichtert auf.
"Ich hab mir einfach unendlich viel Wissen in meinem alten Zuhause angeeignet. Es war dort kaum etwas los. Woher weißt du davon?" - Eigentlich konnte ich es mir schon längst denken, wie er davon mitbekommen hatte.
"Ich weiß doch, was in meiner High School vor sich geht. Die Augen sind überall", dabei zeigte er mit zwei Fingern auf seine eigenen Augen: "Ich wusste es schon von Cathrin, Aria und Scarlett. Sie haben mir das schon am Montag erzählt oder sich vielmehr darüber aufgeregt", gab er zu.
"Aria und Scarlett. Freunde von dir und Cathrin?", fragte ich neugierig nach. Daraufhin nickte er mit dem Kopf: "Und Mitglieder der Clique."
"Und wie kommt man in die?" - Ich hatte nicht vorher gründlich darüber nachgedacht, stellte die Frage einfach, um sie loszuwerden.
Oliver musste grinsen und ich nahm ein kleines Lachen gefolgt von einem Räuspern wahr: "Das wird man nicht einfach so. Man muss heiß aussehen, sich nicht viel aus Schule machen, am besten beliebt sein", sein Blick stach auf meinen Verblüfften, der alles verriet: "Aber für den Anfang musst du eine Prüfung bestehen."
"Und wer sucht die aus?" - Irgendwie hatte ich die Hoffnung, dass er es sein würde, der mein Schicksal in der Hand hielt, weil er vielleicht Nachsicht mit mir haben würde. Doch er machte mir einen Strich durch die Rechnung, als er daraufhin mit Cathrin antwortete und nebenbei ergänzte: "Sie war diejenige, die die Clique gegründet hat. Wir haben zwar alle ein Mitspracherecht, aber die Aufnahme von Neuen ist ihre Aufgabe."
Das Thema konnte ich dann wohl abhaken. Wenn Cathrin die Prüfung aussuchen musste, würde sie sie besonders schwer für mich machen. Das stand fest.
"Und wann kann ich die machen?", erkundigte ich mich weiter bei ihm.
"Mit Glück schon heute", antwortete er: "Wir und die Clique gehen später ins Chatter. Komm doch auch." Zwinkernd klopfte er mir noch auf die Schulter, bevor er auch schon auf die Wiese der Beliebten verschwand. Ich blieb alleine auf dem Flur zurück und ließ mich von den Schülern mit in die Cafeteria ziehen.
***
Am Nachmittag schnappte ich mir mein Handy und betrachtete den Screen. Es war schon vierzehn Uhr. Schnell hinterließ ich meinen Eltern eine Notiz auf einem kleinen Zettel. Vermutlich waren sie momentan vertieft in ihre Arbeit in ihrem Büro, wo sie auch noch Stunden zubringen würden.
Ich schnappte mir mein Board und sprang nach draußen an die stickige Luft. Ein Blick in den Himmel ließ mich diesmal sichergehen, dass es gleich nicht regnen und es wieder so werden würde, wie noch am zweiten Tag in Elizabeth City. Ich würde mich bis auf die Knochen blamieren.
Ich schaute noch einmal an mir herab, damit auch wirklich alles gut saß und aussah. Dann fuhr ich schließlich ins Verderben eines Nachmittags los, an dem alles passieren konnte.
***
Im Chatter angekommen, öffnete ich die Tür und wurde mit dem vertrauten Gestank von Alkohol und Zigaretten konfrontiert, den ich kein bisschen vermisst hatte.
Im Hintergrund lief das Lied Macarena in einer Karaoke Version, zu der niemand sang. Nicht einmal den berühmten Tanz führte hier jemand auf.
Mein Blick wanderte zu der kleinen Bar, die wieder randvoll mit Alkohol gefüllt war. Die Frau mit den wilden pinken Haaren hatte erneut Dienst. Ob sie die Einzige war, die rund um die Uhr hier schuftete?
Meine Gedanken wurden von einer bekannten Stimme durchlöchert, die mir sofort ein Lächeln aufs Gesicht zauberte. Ich drehte mich zu ihr um und erkannte irgendwo hinter düsterem Licht die Gestalten einer Gruppe, die mich bereits erwartete.
Schnell schritt ich mit meinem Countrylook in Richtung des Tisches, an dem die einzigen Besucher des Ladens wieder Platz genommen hatten.
"Howdy Cowgirl!", begrüßte Oliver mich und stellte dabei pantomimisch eine Begrüßung aus dem wilden Westen dar, in der er den Cowboyhut abnahm, den er illustrierte, ein Bein hinter das andere schwang und sich vor mir verbeugte.
Augenblicklich wurde ich rot im Gesicht. Waren mein rot-weiß-schwarz kariertes Flanellhemd und die brauen Stiefel mit den Bändchen zu übertrieben? Außerdem; war es hier eben schon so heiß?
"Setz dich. Keine Sorge, wir beißen nicht. Jedenfalls normalerweise", flunkerte der Schwarzschopf und drückte mich auf einen der Stühle, ausgerechnet an die Front des Tisches. Er kniff Cathrin belustigt in die Wange, um sie aus ihrer angespannten, wütenden Phase zu befreien. Über seine Bemühung war ich etwas erleichtert, auch wenn es nicht viel an ihrer Stimmung änderte.
"Also, Jenny", begann Oliver das Gespräch zu erheben, gleich nachdem er sich hingesetzt, seine Füße locker auf den Tisch gelegt und sich zurückgelehnt hatte: "Cathrin und Dan kennst du ja bereits von gestern. Das wären dann noch Aria, Scarlett, Ethan und Jayden."
"Nur Jay", korrigierte der Junge mit den dunkelbraunen Augen und lächelte dabei freundlich zu mir, dann verärgert zu Oliver.
"Ja, ja, ja, blah, blah, blah. Er ist etwas pingelig, wenn es um seinen Namen geht", zwinkerte Oliver mir wieder zu, woraufhin ich verlegen lachte.
"Dan stellst du auch nicht mit Daniel vor. Du weißt ganz genau, dass ich Jayden hasse. Das klingt einfach scheiße!", schaltete sich der aggressive Ton wieder ein.
Oliver ignorierte seine Bemerkung und fuhr fort: "Also, was gibt's über dich zu erzählen?"
Mein Gesicht verzog sich augenblicklich, als alle Blicke auf mich trafen. Ich wollte nichts über meine Vergangenheit auf dem Wasser erzählen. Dann würde ich erst recht nicht aufgenommen werden.
Zu meinem Glück antwortete Cathrin überheblich, wie man es von ihr gewohnt war: "Ach Quatsch! Über sie gibt es ganz sicherlich nichts Spannendes zu erzählen. Sie ist bestimmt nur hierhergezogen wegen ihres hohen IQs, weshalb sie mehr Forderung auf unserer Schule brauchte oder so."
Ich kniff die Augenbrauen zusammen und musterte die verwöhnte Blondine. Ich war noch nicht einmal fünf Minuten hier und Cathrin schaffte es, dass ich mich gleich hundertmal unwohler vor der Gruppe fühlte.
"Eigentlich", korrigierte ich herablassend: "War der Umzug wegen meiner Eltern, die ihre Arbeitsstelle gewechselt haben."
Sofort verkniffen sich die zwei Laufmädchen von Cathrin ein lautes Auflachen. Soeben hatte ich sie anscheinend wieder vor allen bloßgestellt, an derselben Stelle wie das erste Mal.
Cathrin reagierte darauf mit einem gefährlichen Knurren und schaute mich zuerst böse an, bevor ihr Blick zu Oliver schwang. Dieser musste sich schon selbst ein Lachen verkneifen, was er nur tat, um Cathrin zu versichern, auf welcher Seite er stand.
Cathrins Blick verriet alles: Wieso hast du die mit angeschleppt?!
"Als was arbeiten deine Eltern denn?", wollte Ethan, der Blondschopf, wissen.
Ich wollte das nur ungern sagen. Soweit ich mitbekommen hatte, spielten die Jobs und die Stellung in der Stadt eine große Rolle in der Welt der Beliebten.
"Sie sind beide als ranghohe Beamte in der Stadtverwaltung in Kanada tätig gewesen, aber jetzt sind sie hergewechselt", log ich voller Tadel.
"Und wieso?", fing das Mädchen mit den braunen, kurzen Haaren und blauen Augen anzufragen, dessen Name Aria war.
"Sie hatten keine Lust mehr auf die schlechte und niedrige Bezahlung der Stadt." - Wieso fühlte ich mich bei meinen Lügen nicht selbst hintergangen? Eigentlich sollte ich mich doch dafür in Grund und Boden schämen, meine Eltern so sehr ins rechte und perfekte Licht zu rücken. Doch anderseits würde es mir so leichter fallen, in die Clique zu kommen.
"Jenny hat mich gefragt, ob sie eine Aufnahmeprüfung machen könnte, um in die Clique zu kommen", verriet Oliver Cathrin gegenüber offen, die mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Augen dasaß und mich musternd anschaute.
"Also ich denke, sie hätte eine Chance verdient", lächelte Scarlett amüsiert und schüttelte dabei ihre langen, braunen Locken. Für ihre Unterstützung dankte ich ihr jetzt schon, obwohl ich nicht wirklich daran glaube, dass sie Cathrin damit herumbekam.
"Also schön", sagte Cathrin zu meinem Erstaunen: "Wenn sie so toll ist, soll sie es beweisen."
Mir fiel ein Stein vom Herzen, auch wenn mir ihr rachsüchtiges Gesicht Angst einjagte.
"Siehst du das Mädchen da?", Cathrin deutete auf ein schwarzhaariges Mädchen, das ich erst jetzt bemerkte. Sie hielt ein Buch in der Hand und saß mit einer Tasse Tee am Rande des Raumes. Im Dunkeln entdeckte man sie erst wenig später.
Cathrin reichte mir ein Glas mit Leitungswasser, woraus sie eben noch getrunken hatte.
"Ich bezahle", meinte sie. Ich nahm das Glas an und stotterte daraufhin: "Was? Du willst, dass ich ihr Wasser über den Kopf schütte?"
Amüsiert lächelte sie und meinte dann: "Mach es so, wie du es bei mir gemacht hast. Das kannst du doch so gut, nicht wahr, Jennifer?" Es verschaffte mir eine Gänsehaut, wie wütend und langsam betonend sie meinen Namen aussprach, doch ich gab mich ihrer Herausforderung hin.
Es war schließlich nur ein Glas Wasser, nichts Schlimmes wie Bier. Und sie war nur ein Mädchen, das las. Das wird außer der Clique und der Barkeeperin, die sowieso auf der Seite der Jugendlichen stand, keiner mitbekommen.
Langsam näherte ich mich dem Mädchen. Meine Hand zitterte so sehr, dass es mir beinah aus der Hand fiel. Ich blickte noch einmal unsicher zurück zu den anderen, die es kaum erwarten konnten, wie sich das Wasser über den unschuldigen Kopf ergoss. Mit einer Handbewegung und einem leisen Na los von Aria, schlich ich weiter voran.
Nur einmal und mein Leben würde einfacher werden. Wieso nicht ein Leben für einen kurzen Moment zur Hölle machen und dafür selbst jahrelang glücklich sein?
Bevor ich mir noch weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, setzte ich die Aufgabe in die Tat um. Unberührt schaute ich dabei zu, wie sich das kalte Wasser über ihr glänzendes Haar ergoss und sie aufschreien ließ.
Die Schwarzhaarige sprang auf, ließ ihr vollkommen nasses Buch zu Boden fallen und rannte raus. Schwer zu beurteilen, ob sie dabei weinte. Ich bereute es sofort. Ich wollte unschuldige Menschen nicht leiden sehen. Das war nicht ich.
"Gut gemacht, Recruiting!", lobte Cathrin mich zum ersten Mal und klopfte mir auf die Schulter.
"Ähm...warte...was meinst du mit Recruiting?", hakte ich verwirrt nach.
"Du darfst mit uns abhängen, aber du gehörst noch nicht dazu. Das wäre ja viel zu einfach!", lachte Cathrin, spannte sich ihre pinke Tasche etwas weiter über die Schulter und verließ mit dem Rest das Chatter.
"Hast du gut gemacht", lobte mich nun auch Oliver wie ein Hündchen, das soeben Sitz gelernt hatte, aber noch ganz weit von der Belohnung entfernt war.
"Es wird schon klappen. Wart's ab! Cathrin wird schon die richtige Aufgabe für dich finden! Wir sehen uns morgen auf der Wiese der Beliebten!" - Oliver entfernte sich immer weiter von mir, bis er irgendwann ganz aus dem Laden verschwunden war und mich mutterseelenallein zurückließ.
Gut gemacht? Recruiting? Wollten die mich auf den Arm nehmen? So schwer hatte ich mir das eigentlich nicht vorgestellt. Wenigstens durfte ich jetzt mit ihnen zusammen abhängen. Das war aber auch schon die einzig positive Sache daran. Ich hatte ein unschuldiges Mädchen innerlich beschädigt für zusammen abhängen?
Beschämt fuhr ich nach Hause und stürzte aufs Bett. So hatte ich mir das ganz und gar nicht ausgemalt. Ich betrachtete noch einmal das Buch, das das Mädchen fallen gelassen und ich mitgenommen hatte, in der Hoffnung, mich irgendwann bei ihr dafür zu entschuldigen, was heute vorgefallen war.
Genervt und zutiefst verzweifelt weilte ich langsam in Träume. Zuerst fühlte ich mich benommen und schließlich überkam mich ein Zustand, den man als eine Art Schlaf beurteilen konnte.
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