32 - Waffenstillstand
Um 15.00 Uhr im Chatter.
Ich starrte auf diese Buchstaben und Zahlen an Lukes Fenster, als wären sie schon die ganze Zeit dort gewesen, ich hätte sie nur jetzt erst bemerkt.
Hatte ich etwas verpasst? Waren mein gestriges Auftreten und meine Worte an ihn nicht eindringlich genug gewesen? Das ergab einfach keinen Sinn. Ich musste darüber nachdenken, sobald ich in der Schule ankommen würde.
Nur zu blöd, dass ich ausgerechnet an diesem Tag wieder Literatur hatte. Die Blicke in meinem Rücken fühlten sich wie tausend Stiche an, die mich verletzten, jedes einzelne Mal, wenn einer mehr meine verletzliche Hülle suchte und ich diesen versuchte zu ignorieren.
Als der Kurs vorbei war, wunderte ich mich über ein kleines Vibrieren in meinem Rucksack und holte mein Handy heraus. Normalerweise hatte ich es immer auf stumm geschaltet, sobald ich die Schule betrat.
Kommst du heute auf die Party im Chatter? Beginn um 20.00 Uhr.
Der Gedanke daran, dass Luke und Oliver sich im Chatter über den Weg laufen könnten, verdrehte mir den Magen. Es war, als würde man seinen Doppelgänger in einer anderen Zeit treffen, sodass das Universum damit zu kollabieren drohte.
Doch Oliver war mein fester Freund, meine Eltern würden sicherlich nichts davon mitbekommen, wenn ich auf die Party gehen würde. Die waren sowieso viel zu beschäftigt mit der Berechnung von Parabeln und Längen, Schreiben und Lesen. Ab neunzehn Uhr störten sie mich nicht mehr in meinem neuen Element namens Zimmer.
Und irgendwie war ich auch neugierig, was Luke mir sagen wollte. Ich hatte noch Hoffnung auf eine Entschuldigung.
Kurz vor fünfzehn Uhr packte ich mein Handy und etwas Geld für Essen in eine meiner braunen, kleinen Taschen, schnappte mir mein Board und machte mich auf den Weg. Wie bereits erwartet waren meine Eltern jetzt schon zu beschäftigt, um mich auszufragen. Deshalb hinterließ ich einen kleinen Post-it auf dem Kühlschrank. Nachher würde ich dazu mehr erklären.
Als ich zitternd das Chatter betrat, roch ich wieder den Schwall rauchiger Wolken und erinnerte mich an den ersten Tag in Elizabeth City, an dem ich das erste Mal diesen grässlichen Geruch vernommen hatte.
Luke saß am Ende des Raumes in einer kleinen Nische und schaute auf sein Handy. Als ich näher kam, blickte er auf, legte sein Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch und stand auf. Ich konnte seinen Gesichtsausdruck nicht richtig deuten, ob ich auf eine Entschuldigung hoffen konnte oder ob er sich rechtfertigen wollte.
"Hey."
"Hi." - Ich setzte mich ihm gegenüber und auf einmal kam mir der Tisch kleiner vor, als er kurz zuvor noch gewesen war.
Er schaute mich an, ich schaute lieber auf meine Fingerspitzen, die nervös auf dem Tisch lagen. Ich traute mich irgendwie nicht aufzuschauen, denn was nun folgen würde, würde mich innerlich noch mehr zerbrechen lassen.
"Ich gehe Problemen nicht gerne aus dem Weg", sagte er zögernd.
Nun schaute ich doch auf. Jetzt war ich wirklich gespannt auf seine Ausrede.
"Wieso bist du hierhergekommen, wenn du gestern Abend nicht in der Lage warst mir zuzuhören?"
Sollte das jetzt ein schlechter Scherz sein? Er verbaute sich in diesem Moment seine Chance, dass er mein Gehör noch länger finden würde. Nun hatte er es schließlich geschafft, dass ich gekommen war und das war alles, was er dazu zusagen hatte?
"Ich versuche, aus dir schlau zu werden", begründete ich: "Gestern Abend war gestern Abend und jetzt ist heute. Ich hab' beschlossen, dass ich wissen möchte, was du zu sagen hast", antwortete ich.
"Tja, da wären wir schon zwei. Ich versuche, aus dir schlau zu werden", er stützte seinen Kopf auf seine Hände und blickte mich eindringlich an.
"Und jetzt? Sitzen wir nur hier rum und studieren den anderen still vor uns hin?"
"Jenny, ich versuche mich gerade zu entschuldigen, was mir nicht leicht fällt, denn irgendwie tut es mir nur leid, dass ich dich immer wieder neu vor Oliver warnen muss. Aber du hältst dich trotzdem immer noch bei ihm auf", er legte den Kopf etwas schräger: "Willst du wirklich nichts mehr von mir hören, wie du es gestern gesagt hast?"
Ich musste kurz überlegen. Natürlich wollte ich den Kontakt aufrechterhalten, aber wie sollte das gehen, wenn die Clique es nicht erlaubte und Luke immer wieder von vorne anfing, mich vor Oliver zu warnen, was ich ganz sicher nicht mehr hören wollte? Die Wahrheit lag auf der Hand, dass ich mir dessen bewusst war, wie gefährlich diese Beziehung sein könnte, aber auf der anderen Seite wollte ich der Beziehung trotzdem eine Chance geben.
"Nein", ich schüttelte leicht mit dem Kopf: "Aber wenn du nicht aufhörst, mir immer wieder dasselbe zu sagen, sehe ich keinen Weg, dass wir länger befreundet sein können."
"Und was, wenn ich mich ändere und ich damit aufhöre?"
Ich schnaufte kurz lächelnd auf: "Das hast du gestern auch schon gesagt und wir wissen ja beide, wie das ausgegangen ist."
"Bitte Jenny. Ich versuche mich wirklich zu bessern, versprochen!"
Ich wusste nicht so recht, ob ich ihm Glauben schenken sollte. Er schien es wirklich ernst zu meinen und wahrscheinlich war es gestern nur eine Frage seines Durchhaltevermögens gewesen, keine Kommentare zu geben, was schlussendlich doch gescheitert war.
"Na schön. Ich gebe dir noch eine Chance, aber ich will wirklich nichts mehr von ihm hören, okay?" - Mein Atem ging flacher, als ich erleichtert lächelte.
"In Ordnung und zur Versöhnung spendiere ich dir einen Drink ohne Alkohol."
Nickend sagte ich: "Wie nett."
Lächelnd schaute er mich an und hob die Hand dabei, damit jemand von der Bedienung augenblicklich kam. Wie erwartet war es die Frau mit den verrückten Haaren und ihren Piercings.
"Hey, Kleines. Lange nicht gesehen", begrüβte sie mich, als sich unsere Augen trafen. Sie erinnerte sich also noch an mich.
"Hi, alles in Ordnung in Ihrem Laden?", antwortete ich nett.
Sie hob ihre Arme und wirbelte damit durch die Luft. - "Du sitzt drin, also denke ich mal, der Laden ist noch nicht abgebrannt."
Ich lachte leise.
"Wir hätten gerne zwei Banana-Smoothies", sagte Luke.
"Luke Britton?" - Sie schaute ihn verblüfft an - "Hätte nicht gedacht, dich hier noch mal zu sehen. Krass!" - Sie lächelte breiter als meine Mutter und machte sich auf den Weg zur Bar, um unsere Bestellung zu holen.
"Ihr kennt euch also auch?", bemerkte ich, als sie uns nicht mehr hören konnte: "Wie lange bist du denn bitte nicht mehr hier gewesen?"
"Schon einige Jahre nicht mehr."
Als unsere Smoothies kamen, probierte ich ihn gleich. Er hatte eine feine Note und eigentlich schmeckte er gar nicht so übel.
Ich blickte neben uns auf die Straβe. Es hatte mittlerweile wieder angefangen zu regnen. Die Menschen, die an dem Fenster vorbeikamen, rannten ungeschickt unter das nächste Dach. Einer hielt seine Aktentasche schützend über seinen Kopf, der andere zog sich seine Jacke tief ins Gesicht.
"An was denkst du?" - Luke folgte meinem Blick nach drauβen.
"Ich weiβ nicht. Vielleicht darüber, dass meine Mutter ihre Buchcharaktere wichtiger findet, als ihre eigene Tochter."
"Ich denke, dass du damit falsch liegst. Du bist für sie ganz sicher wichtiger als ihre fiktiven Charaktere."
"Ich weiβ nicht. Seit wir in Elizabeth City sind, ist nichts mehr so wie es mal war. Meine Eltern arbeiten immer mehr und haben kaum noch Zeit für mich." - Ich klang doch echt armselig. Wie jemand, der so sehr an seinen Eltern hing, dass er nicht ohne sie konnte.
"Na wenigstens sind sie nicht so wie meine. Mein Dad und meine Tante Tava kümmern sich so übertrieben um Marilyn und mich, dass ich manchmal wünschte, sie würden einfach nur das Weite suchen. Der Umzug von euch war der einzige Grund, weshalb ich mal für einen halben Tag Ruhe vor meinem Dad hatte. Dabei hab' ich das Gefühl, er und meine Tante verlieben sich immer mehr ineinander, weil meine Mom kaum zu Hause ist, weil sie Flugbegleiterin und so gut wie nie zu Hause ist. Selbst an Marilyns Geburtstag nicht. Mein Geburtstag kann ihr ruhig egal sein, aber Marilyns? Sie ist noch so jung."
"Das muss schlimm sein, keine Mom zu Hause zu haben", gestand ich.
Er nahm einen Schluck von seinem Smoothie und blickte dann hinaus. - "Hey, wieso kommst du nicht einfach mal öfter vorbei? Dann bist du nicht alleine und mein Dad würde mich dann auch endlich mal in Ruhe lassen."
"Ja, klingt gut. Bin dabei."
Er lächelte mich herzlich an und richtete dann wieder den Blick nach drauβen - "Wie ist wohl der Name von der da?" - Er zeigte auf eine kleine Frau mit pechrabenschwarzem Haar, das ihr bis zur Hüfte reichte.
"Keine Ahnung. Vielleicht Mona oder so? Sie geht bestimmt heute noch Geschenke für ihren Sohn kaufen, der in einer Woche Geburtstag hat."
"Oder für ihre Tochter."
"Eher nicht. Sie sieht wie eine Mutter aus, die einen Sohn hat."
Lachend suchten wir uns eine weitere Person mit grauem Haar und einem Filzhut aus. Im Gegensatz zu den anderen rannte der Mann nicht vor dem Regen davon.
"Der freut sich sicherlich über den Regen", meinte Luke: "Bestimmt kommt er aus einem Land, wo man sich nach Regen sehnt. Sieh nur, wie er lächelt."
Ich tat es ihm gleich und fiel in sein Lachen mit ein. - "Und sein Name ist dann Mr. Rainman."
Ich schaute auf die Uhr. Oh man, es war mittlerweile schon fast siebzehn Uhr. Zeit zu gehen. Ich musste mich noch vorbereiten.
"Hey, ich muss gleich nach Hause, um mich für die Party heute Abend zurechtzumachen. Du solltest auch kommen."
"Party? Nein danke. Ich bin kein Party-Fan. Und du solltest auch nicht hingehen. Das hat nichts mit Oliver zu tun, aber der Alkohol bringt dich wirklich in Gefahr."
Ich wusste genau, dass er auf Oliver anspielen wollte. Mal wieder. Aber ich ließ es so stehen. Die Atmosphäre zwischen uns schien kurzzeitig wieder makellos zu sein.
"Gar nicht wahr", verteidigte ich mich.
Er schaute mich mit gerunzelter Stirn an.
"Okay, das mit dem Ertrinken war einmalig. Ach komm schon. Beim letzten Mal warst du sowieso da, als du mich gerettet hast."
"Ja, aber dafür gibt es diesmal keinen Grund, denn du wirst nicht dort hingehen."
"Okay, Vorschlag. Wenn du etwas auf dieser Gitarre spielst,-", ich deutete auf eine, die an der Bühnenwand angebracht war: "-gehe ich nicht hin."
Luke schüttelte kurz den Kopf. Er schaute erst die Gitarre, dann mich an. Sein Gesichtsausdruck von eben verblasste allmählich. -"Nein, das erinnert mich zu sehr an Oliver."
"Sagst du mir wieso?"
Zu meiner Überraschung verriet er mir den Grund. - "Oliver und ich haben früher zusammen Gitarre gespielt. Wir waren deshalb beste Freunde geworden. Aber das ist lange her", winkte er ab.
"Okay, also wenn du nicht spielst, dann spiele ich eben,-", ich stand auf und blickte ihn ein letztes Mal an: "-aber ich warne dich. Ich hab noch nie gespielt."
Sein Lächeln kehrte zurück in sein Gesicht.
"Na schön. Lass mich ran. Du blamierst dich nur. Aber ich denke, ich kann es auch nicht mehr so gut. Ich hab' es sicherlich schon verlernt", gab er schließlich nach und folgte mir Richtung Bühne.
Ich war froh. Erstens, weil er doch noch locker gelassen hatte und zweitens, weil er mir dabei geholfen hatte, endlich ein Stück weiterzukommen, das Geheimnis zwischen Oliver und ihm zu lüften. Sicherlich hatte er den Campingausflug mit Oliver und der Clique zusammen gemacht.
"Ja! Endlich jemand, der hier Gitarre spielen kann", klatschte die Barkeeperin in die Hände, als Luke sich die Gitarre nahm, sich auf die Stufe zur Bühne setzte und sanft über die Saiten strich. Ein leiser, perfekter Ton entstand. Er schloss die Augen und verinnerlichte diesen Klang.
"Das war mal meine", gestand er: "Sie klingt noch genauso wie das letzte Mal, als ich sie in der Hand gehalten habe."
Ich erschauderte. Zu gerne würde ich ihn nach dem Grund fragen, wieso sie hier im Chatter und nicht bei ihm zu Hause hing. Doch ich hielt meinen Mund und lauschte ihm zu, wie er die Akkorde zu einem unbekannten Song spielte. Der Song klang wunderschön. Irgendwie machte ich ihn zu meinem Lieblingssong. In ihm schwang dieser harmonische Klang mit.
Der Laden war total leer. Doch ich stellte mir vor, wie schon in nicht einmal drei Stunden betrunkene Schüler hier tanzen und Spiele ab achtzehn spielen würden.
"Wie war das?", erkundigte Luke sich, als er nach seinem kleinen Auftritt aufschaute. Seine Augen versprühten Leben und in ihnen glänzte das Licht der Deckenbeleuchtung.
"Echt schön, ganz ehrlich", gestand ich und kam ein paar Schritte dichter auf ihn zu: "Du solltest öfter spielen."
"Vielleicht tue ich das. Es hat sich gut angefühlt, mal wieder so ein Ding in der Hand nach drei Jahren zu halten", antwortete er, stand mit der Gitarre im Arm auf und hing sie wieder hinter sich an die Wand.
"Drei Jahre?", fragte ich verblüfft und wunderte mich dabei viel mehr über die Zeitspanne, in der Oliver und er kein Wort mehr miteinander geredet haben mussten. Drei Jahre waren vergangen, seit sich alles zwischen ihnen geändert haben musste. Das war sicherlich kein leichter Streit gewesen.
Luke lächelte etwas belustigt zur Zustimmung und stieg wieder von der Bühne. - "Also. Du gehst nicht zur Party, wie abgemacht?", fragte er ernst.
"Ja, ich werd' schon nicht hingehen", meinte ich sarkastisch mit verstellter Stimme. Er wollte wirklich nicht, dass ich hinging. Das ärgerte mich so sehr, denn er durfte nicht darüber bestimmen, was ich tat oder ließ. Am liebsten hätte ich ihm das auch gesagt, aber ich wollte die Stimmung nicht schon wieder vernichten. Nicht nach dem Streit von gestern und der anschließenden Versöhnung mit leckeren Smoothies, dem Identitätsspiel und dem Gitarrenauftritt.
Ich nahm mir meine Jacke, die ich bei meiner Ankunft achtlos auf die Bank in der Nische geworfen hatte und legte sie mir über die Schultern. Luke machte es mir mit seinem dünnen Hemd gleich und fügte anschließend hinzu: "Sicher, dass du schon gehen willst, jetzt wo du nicht auf die Party gehst? Ich meine, es ist sehr heiß draußen und wenn du noch etwas wartest, wird es kühler sein."
"Keine Chance", lächelte ich: "Ich muss los. Ich habe meinen Eltern versprochen, dass ich bald wieder zu Hause sein werde." - Das war allerdings nicht die ganze Wahrheit.
"In Ordnung. Auf die Vorschriften der Eltern sollte man um jeden Preis hören."
Er hielt mir wieder die Tür auf und als wir an seinem Pick-up auf dem Parkplatz hinter dem Chatter ankamen, trennten sich unsere Wege. Wir verabschiedeten uns, er stieg in seinen Wagen, ich auf mein Board.
Ich hatte es ihm verboten mich zu fragen, ob ich mitfahren wollen würde. Autos waren immer noch schädlich fürs Klima.
Zu Hause angekommen gab ich Gas, um unter die Dusche zu kommen, damit ich noch genug Zeit fürs Haare-Föhnen hatte und um ein gutes Kleid herauszusuchen. Heute Abend würde ich strahlen wie ein Stern.
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