𝟸𝟻 | 𝐴𝑙𝑙𝑦
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Das leise Kratzen meiner Feder war das Einzige, das an diesem Nachmittag in der Bibliothek zu hören sein sollte.
Fast alle meiner Mitschüler genossen ihren freien Tag in der wärmenden Frühlingssonne. Doch der Berg an Hausaufgaben, den ich während der Versorgung etlicher Tierwesen vernachlässigt hatte, hielt mich hinter den Mauern gefangen.
Ich hatte mich für einen Platz in der hintersten Ecke entschieden. Für den Fall, es sollte sich jemand zufällig zwischen den Bücherregalen verirrt haben, würde man mich nicht direkt entdecken. Nach einem lockeren Gespräch über Zauberkunst oder Beschwerden wegen des vielen Lernstoffs war mir überhaupt nicht zumute.
Obwohl ich mich gerade mit Kräuterkunde beschäftigte, fiel es mir schwer mich auf die wundersamen Pflanzen samt deren Verwendung zu konzentrieren.
Seufzend starrte ich auf die Pergamentrolle, die ich genau vor mir platziert hatte. Mehrere Kräuterkunde Bücher lagen aufgeschlagen um mein spärlich beschriebenes Blatt verteilt, zusammen mit einigen fein säuberlich gestapelten Aufschrieben aus dem Unterricht.
Mit meinem Zeigefinger tippte ich fieberhaft auf den Federkiel. Wo war ich gerade?, ging es mir durch Kopf. Nachdenklich begann ich auf meiner Lippe zu kauen.
Die Mandragora, auch bekannt als Alraune, ist eine magische Pflanze. Ihre Wurzeln sind in der Lage gefährliche Schreie von sich zu geben, sofern man sie ausgräbt.
Bei ausgewachsenen Individuen sind diese Schreie für jeden, der sie hört, tödlich. Junge Pflanzen können bereits für Bewusstlosigkeit in einem Zeitraum von mehreren Stunden sorgen.
Im ausgereiften Zustand dient die Mandragora als Hauptzutat für einen Wiederbelebungstrank.
Erschöpft stellte ich die Feder zurück in das Tintenfass. Ich konnte die ausgewählten Kapitel in den Lektüren so oft lesen wie ich wollte, sobald meine Augen am Ende angelangt war, musste ich abermals von vorne anfangen. Es wollte einfach nicht in meinem Kopf hängen bleiben.
Heute ist nicht mein Tag.
Die Wärme der kommenden Jahreszeit, die bis in das Innere des Schlosses vorgedrungen war, setzte mir zu. Sie staute sich allmählich in dem gestrickten Pullover meiner Schuluniform. Die weißen Fasern des darunter liegenden Hemds kratzten unangenehm auf der Haut und auch die Krawatte, die viel zu eng um meinen Hals gebunden war, machte es mir schwer nach Luft zu schnappen. Obwohl es nicht der Fall war, fühlte sich meine Kehle wie zugeschnürt an.
Ich wollte mich gerade dazu hinreißen lassen die Ärmel hochzuziehen, um mir zumindest ein wenig Erleichterung von den steigenden Temperaturen zu verschaffen, als ich noch in der Bewegung erstarrte.
Nein. Das geht nicht.
Ein stechender Schmerz zuckte durch meinen Schädel. Reflexartig drückte ich mir meinen Zeige- und Mittelfinger gegen die Schläfe. In gleichmäßigen Kreisbewegungen versuchte ich den Druck in meinem Kopf weg zu wischen. Erfolglos.
Die Gefühle, die ich die ganze Zeit über hinter einem Schutzschild versteckt gehalten hatte, krochen langsam in mir hoch.
Wie eine Pflanze, die zur Sonne wuchs, sprossen sie aus mir heraus an das Tageslicht.
Ich will das nicht fühlen.
Aus Angst jemand in dieser menschenleeren Büchersammlung könnte meine Gedanken mit angehört haben, zog ich den Stoff bis über mein Handgelenk. Zur Sicherheit hielt ich mit der rechten Hand meinen linken Unterarm fest, um selbst den unwahrscheinlichen Fall ausschließen zu können, dass der Ärmel von alleine hoch rutschen und genau in diesem Moment jemand zwischen den Bücherstapeln hervor springen würde.
Nicht jetzt, dachte ich mit einem Anflug von Panik. Wenn ich könnte, würde ich diese Gefühle am liebsten für immer verstummen lassen.
Mit einem Mal tauchte das Bild von Remus vor meinem Inneren Auge auf, als er mir so nahe war wie noch nie. Doch es war nicht seine körperliche Nähe, die mich berührt hatte. Es war seine Seele, die er für mich geöffnet hielt, während er gleichzeitig in meine zu blicken vermochte.
Aber wenn nicht jetzt, wann dann?
Mir wurde bewusst, dass ich es immer weiter verdrängen würde, wenn ich es jetzt nicht zuließe. Ich würde es immer weiter vor mir her schieben.
Vertraue darauf, was Remus dir geraten hat.
Ich atmete tief ein und aus, versuchte mich zu sammeln. Diesmal würde ich mich nicht mehr dagegen wehren.
Dann passierte es.
Ich wurde von der absoluten Dunkelheit in meinem Inneren eingeholt. Es waren Hilflosigkeit, Verzweiflung und Enttäuschung, aber auch das zerreißende Gefühl auf dieser Welt alleine gelassen worden zu sein. Die Eindrücke, die ich über so viel Zeit mit mir getragen hatte, brachen über mich herein wie eine niemals endende Nacht.
Es war wie den Sonnenuntergang zu beobachten, nur um dann mit einem Schrecken festzustellen, dass es tatsächlich finster wurde.
Ich hätte es kommen sehen müssen.
Zum ersten Mal fühlte ich es wirklich. Ich ließ mich von den Emotionen davon tragen — an einen Ort, den ich nie betreten wollte.
All die Dinge, die die Finsternis in meiner Seele Tag für Tag ein bisschen mehr wachsen ließen, rauschten an mir vorbei.
Zu viel auf einmal.
Mir wurde so schwindelig, dass meine Welt schwankte. Es war, als würde ich in meinen Gefühlen ertrinken, während ich versuchte sie anzunehmen und zu akzeptieren.
Ich musste lernen zu schwimmen, um nicht unterzugehen.
Die Angst, nicht wieder an die Oberfläche zu finden, mischte sich dazu wie ein schwarzer Tintenklecks in klarem Wasser.
Es ist okay. Keiner kommt um dich zu retten. Du musst selbst wieder aufstehen.
Ich stellte mir die furchteinflößenden Todesser vor, die ihre Macht eiskalt ausnutzten. Das Gefühl der Unterlegenheit. Erniedrigung. Todesangst.
Das dunkle Zeichen auf meiner Haut, das für den gefürchteten und grausamsten Zauberer unserer Geschichte stand — und ich als Teil davon. Nichts lag mir ferner als ihm zu folgen, in seinem Namen widerwärtige Taten zu vollbringen.
Eine Träne nach der anderen rann über meine geröteten Wange. So viele, dass es schmerzte.
Alles war schief gegangen, was schief gehen konnte. Dabei war alles, was ich mir gewünscht hatte, eine unvergessliche Zeit mit Severus in Hogwarts zu genießen. Mit ihm die schwierigsten Zaubertränke zu brauen bis tief in die Nacht und mich den magischen Geschöpfen widmen. Beides zu verbinden und eines Tages Magizoologin werden. Glücklich sein.
Dieser Traum hätte nie unerreichbarer sein können.
Ich stellte mir die Reaktion meiner Mutter vor, als sie erfuhr, dass ich eine Slytherin geworden war. Ihre Gleichgültigkeit mir gegenüber. Die Zurückweisung richtete in mir mehr an als ich jemals zu glauben gewagt hätte. Es hatte etwas Grundlegendes verändert. Die Unsicherheit verwurzelte sich tief in meiner Seele.
Was habe ich nur falsch gemacht?
Ich stellte mir ihre Verachtung vor. Ihren abwertenden Blick, wenn sie von dem Dunklen Mal erfahren würde. Wie sie mir sagen würde, ich sei nicht länger ihre Tochter. Dass Ally Greene an jenem Tag gestorben sei, als sie sich für die falsche Seite entschieden hatte.
Sie darf es nie erfahren. Dieses Geheimnis werde ich mit mir ins Grab nehmen müssen.
Ich stellte mir all diese düstersten Momente vor.
So oft, bis sie mir nichts mehr anhaben konnten.
So oft, bis es nicht mehr weh tat.
Und zurück blieb die Leere.
Ich wusste nicht, wie ich sie füllen sollte.
Doch für mich stand fest, dass ich es nicht bereute mich für Slytherin entschieden zu haben — auch wenn es bedeutete, es mit der ganzen Welt aufnehmen zu müssen.
Selbst, dass mich das Schicksal für das Dunkle Mal gewählt haben sollte, würde ich nicht ändern.
Nicht, wenn meine Schwester stattdessen diese Bürde tragen müsste.
Und trotzdem zerriss es mich.
„Wir haben nur gerade einen schwachen Moment", murmelte ich mir selbst zu. „Das geht vorbei."
Hoffentlich.
Allmählich tauchte ich auf und fand mich in der Bibliothek wieder. Mein unkontrolliertes Zittern überspielte ich mit nervösem Hin und Her rutschen auf dem gepolsterten Stuhl.
Ich starrte abermals auf die Seiten und blätterte bedeutungslos umher, wieder ohne irgendetwas zu lesen oder genauer zu betrachten. Ich nahm die Zeichnungen diverser Kräuter wahr, aber ich sah sie nicht. Dann, als mich mit einem Mal eine erleichternde Ruhe durchflutete, fing ich mich wieder.
Mit mir kehrte die Konzentrationsfähigkeit zurück.
Ich schnappte mir ohne zu zögern die Feder und schrieb los. Der sanfte Widerstand des Papiers erzeugte die ein oder andere verwackelte Linie.
Ich setzte die Feder ab, als ich meinen nächsten Satz zerdachte. Tinte staute sich an ihrem Kiel. Gemächlich nahm sie die Form eines Tropfen an, ehe sie sich löste und gebündelt in den Strängen des Papiers verlief.
Gut, dass es keine Noten auf Schönschrift und Gestaltung gibt.
Ich hing so vertieft zwischen meinen Zeilen, dass mir die Flecken auf dem Pergament entgangen waren.
Versehentlich verschmierte ich die glänzende Flüssigkeit.
Typisch. Es geht doch nichts über eine tintenbefleckte Hand.
Die verwischten Punkte auf meinem Aufsatz erinnerten mich an aufgeplatzte Blaubeeren, mit denen ich bereits einige Male versucht hatte den Niffler aus seinem Versteck zu locken.
Was er wohl gerade macht? Vermutlich irgendetwas anstellen, vielleicht Münzen stehlen oder...
Weiter kam ich nicht.
Das Knallen einer Tür, gefolgt von dem Klang eines mir nur allzu vertrauten Gangs ließ mich von meinen Gedanken aufsehen.
Mein Herz machte einen ungesunden Hüpfer.
Severus kam mit schnellen Schritten und wehendem Umhang auf mich zu geeilt.
Doch es war nicht das dicke Buch, das er sich unter den Arm geklemmt hatte, was mich stutzig machte. Seine Miene war ungewohnt starr, fast schon ausdruckslos.
Mir blieb keine Zeit darüber zu rätseln, was ihn dazu gebracht haben könnte. Er blieb abrupt vor mir stehen. „Warum sitzt du ausgerechnet hier?", kam es nur von ihm.
„Ich schreibe deinen Aufsatz für Kräuterkunde."
Schon wieder, fügte ich im Stillen hinzu.
Severus beugte sich über den Tisch, auf dem ich meine Unterlagen ausgebreitet hatte.
„Alraunen helfen gegen Versteinerungen?", las Severus ungläubig vor. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Warum sollte man sowas brauchen?"
Meine Augen huschten zu dem aufgeschlagenen Buch. „Durch den indirekten Augenkontakt mit einem Basilisk werden Versteinerungen bei den Betroffenen ausgelöst. Ein direkter Blick führt hingegen zum sofortigen Tod", wiederholte ich die schwarz gedruckten Worte auf den vergilbten Seiten.
Obwohl Severus die Frage gestellt hatte, schien ihn die Antwort kaum zu interessieren. Er blickte kritisch drein.
„Unnützes Wissen", kommentierte er wenig überzeugt und zuckte fast schon gelangweilt mit den Schultern.
Ehe ich etwas erwidern konnte, ließ er sein mitgebrachtes Buch auf meine Pergamentrolle fallen.
„Ich hab es geschafft."
Verwirrt sah ich zwischen ihm und dem Lehrbuch hin und her.
„Ich verstehe nicht-", hob ich an.
Kurzerhand schnappte sich Severus den Stuhl eines Nachbartisches und schob ihn zu mir. Sein lautes Quietschen verschluckte meine restlichen Worte und ließ mich erschrocken von der Höhe der Frequenz zusammen fahren.
„Hier."
Schwungvoll zog er seinen Zauberstab und zeigte mit ihm auf sein Mitbringsel. Während er sich setzte, klappte das Buch von selbst die richtige Seite auf. Beeindruckt stützte ich mich auf meinen Ellenbogen nach vorne. „Wie hast du das gemacht?"
Er fuhr konzentriert mit den Finger über die Zeilen, als würde er etwas bestimmtes suchen. „Nicht der Rede wert", murmelte er schulterzuckend.
Ich traute mich nicht ihn in seinem Tun zu unterbrechen, aber die Neugierde wurde mit jeder Sekunde, die verging, größer — bis ich es schließlich nicht mehr abwarten konnte.
„Was ist das?" Meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Es schien ihm wichtig zu sein, so sorgfältig und bedacht wie er damit umging.
Doch er zögerte.
Worauf wartet er?
„Es ist das, was die meisten als dunkle Künste abstempeln würden. Aber es enthält einige nützliche Sprüche."
Eine Frage nach der anderen ploppte auf.
Wieso klingt er so reserviert? Wie ist er an dieses Werk rangekommen? Warum versucht er sich zu rechtfertigen? Wissen ist keine Schande.
Er musste mir das Wirrwarr in meinem Kopf angesehen haben, denn er fügte mit gedämpfter Stimme ein nervöses „Regulus hat es mir ausgeliehen" hinzu.
„Zeig mal." Gespannt warf ich einen genaueren Blick darauf. Kaum ein Zauber oder Begriff kam mir in irgendeiner Weise bekannt vor. Viel verstehen konnte ich nicht.
„Das sieht kompliziert aus", meinte ich schließlich. „Aber interessant."
Severus beäugte mich misstrauisch, als hätte er nicht erwartet, dass ich so reagieren würde. „Es gefällt dir?", fragte er überrascht.
Ich nickte. „Was meintest du vorhin? Was hast du geschafft?"
Er sah mir so tief in die Augen, dass ich das Gefühl hatte in den Sternenhimmel zu fallen. Als er seine kühle Hand auf meinem linken Unterarm platzierte, fielen die ersten Sternschnuppen.
Doch für diesen Moment hatte ich nicht einen einzigen Wunsch.
Um sicherzugehen, dass uns niemand belauschen konnte, kam er dicht an mich heran.
„Ich habe einen Zauber gefunden, mit dem man dunkle Brandmale verdecken kann."
Seine Lippen berührten beinahe mein Ohr, als er endlich mit der Sprache rausrückte.
Das Blut schoss mir in die Wangen. Hatte er wirklich für mich danach gesucht?
„Aber Sev, das ist weit fortgeschrittene Magie, wir können nicht-"
„Doch", unterbrach er mich. „Wir kriegen das hin."
Mit diesen Worten stand er einfach auf und rauschte davon. Das Buch schlug sich selbst zu und flog ihm hinterher. Er streckte die Hand aus und pflückte es aus der Luft.
Er verhält sich irgendwie anders, fiel mir abermals an seiner angespannten Haltung auf.
Und ich werde herausfinden, warum.
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