Prolog
Der Regen trommelte leise gegen die Fensterscheiben der Hütte, in deren Inneren eine junge Frau mit blondem Haar und stechend grauen Augen saß. Da Wohnzimmer der Hütte war lediglich durch einige Kerzen erhellt, deren flimmernder Schein die Schatten an den Wänden tanzen ließ. Im Schoß der Frau lag ein aufgeschlagenes Buch, in welchem sie jedoch nicht zu lesen schien. Ihr Blick lag auf der Holztür, die als Eingang in ihr Heim gedacht war. Offenbar erwartete sie jemanden. Ihren Geliebten? Einen Freund? Wohl kaum. Wer gleich durch diese Tür treten würde, würde ihr das Wichtigste in ihrem Leben wegnehmen, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Traurig blickte sie zu der Treppe, die ins zweite Stockwerk führte, aber sie wusste, dass sie es nicht verhindern könnte, es war unmöglich, sich gegen ihn zu wehren. Das Klopfen gegen nasses Holz schreckte die Blonde auf, die mit zitternden Beinen aufstand und zur Tür taumelte. Ihre zittrigen Finger drückten die Türklinke nach unten, woraufhin die Tür aufschwang. Vor ihr stand ein Mann mit dichtem, schwarzen Haar und ernstem Ausdruck in den Augen. Er strahlte pure Kälte aus, so dass die junge Frau sich wünschte, sie hätte zuvor eine Jacke angezogen. Nun war es zu spät. Langsam neigte sie den Kopf, sie gab sich geschlagen. Bereits dreimal war er bei ihr gewesen, dieses Mal konnte sie sich ihm nicht entziehen.
"Du wirst sie mir wegnehmen...", flüsterte sie, während der Schwarzhaarige eintrat. Er machte sich nicht die Mühe, seinen Mantel abzulegen, immerhin würde er nicht lange brauchen. Vielleicht schmerzte es ihn ein wenig, denn er musste an seine eigenen Kinder denken. Er hätte viel für sie getan, alles, um genau zu sein. Wenn ihm jemand seine Kinder stehlen wollen würde...innerlich schüttelte er den Kopf.
"Es tut mir leid, Irina...", seine Augen waren ehrlich, auch wenn seine Taten dagegen sprachen. Seine Geschwister und ihre Kinder wollten dieses kleine Kind nicht aufwachsen sehen, sie hatten Angst. Sie fürchteten sich vor ihrer Macht, vor der Prophezeiung, die sie erhalten hatten. Bevor er noch einen weiteren unnützen Gedanken daran verschwenden konnte, ob was er tat, wirklich richtig war, machte sich der Mann bereits auf den Weg in das zweite Stockwerk, in welchem er nur drei Türen sah. Ihre Zimmertür erkannte er sofort, denn ihr Name war daran geschrieben: Calina. Langsam öffnete er die Tür, woraufhin er ein junges Mädchen erblickte, die friedlich in ihrem Bett schlief. Die schwarzen Locken waren über das ganze Kissen ausgebreitet, ihre Augen waren geschlossen und sie machte keine einzige Bewegung. Für den Bruchteil einer Sekunde erschrak er, weil sie so tot aussah, doch dann erkannte er, dass sich ihre Brust hob und senkte. Ihre Mutter trat leise ein und schritt zu dem kleinen Bett. Sie waren eine arme Familie, die diese Hütte hier geerbt hatten, jedoch hatten sie ein enges Band zueinander. Etwas zögerlich ging auch er zu dem Bett, um sich neben Irina zu setzen, die sanft ihre Tochter weckte.
"Mami?", sie schlug ihre Augen auf und der Schwarzhaarige zuckte zusammen. Sturmgrau blickte in Tiefbraun, aber sie hatte keine Angst. Es war dasselbe stechende Grau, das auch ihre Mutter in ihren Augen hatte, jedoch wirkte es bei Irina weniger wild und wütend, weniger stürmisch.
"Calina...das hier ist Hades, er wird dich...mitnehmen", flüsterte die blonde Frau mit tränenerstickter Stimme, dann zog sie die Sechsjährige in ihre Arme und wiegte sie hin und her, obwohl das Kind ganz ruhig blieb.
"Warum, Mami? Liebst du mich nicht mehr?", fragte sie leise. Keine Emotion war in dem zarten Gesicht zu erkennen. Hades wusste, dass sie einmal die Schönheit einer Göttin haben würde, nur etwas unnahbarer, etwas kälter. Erschrocken ließ Irina ihre Tochter los und schüttelte stürmisch ihren Kopf, Tränen rollten ihre Wange herunter.
"Sag das niemals, mein Kind...ich liebe dich so sehr", sie breitete ihre Arme aus und zeigte ihrer Tochter ein zittriges Lächeln. Das kleine Mädchen nahm die Hände ihrer Mutter und lächelte leicht, auch wenn das Lächeln ihre Augen nicht erreichte.
"Ich hab dich lieb, Mami...", sie schlang die dünnen Ärmchen um den Hals ihrer Mutter, die wieder begann, bitterlich zu weinen. Hades' Herz tat weh bei diesem Anblick. Plötzlich dachte er darüber nach, dass die Götter auf dem Olymp ein Kind umbringen wollten, ein Kind, da so von seiner Mutter geliebt wurde. Er dachte an Maria di Angelo, die einzige Sterbliche, der er jemals sein Herz geschenkt hatte. Langsam legte er Irina eine Hand auf die Schulter.
"Es wird Zeit...fürchte dich nicht...ihr wird nichts passieren, das schwöre ich beim Styx", er hörte das Donnergrollen und ihm wurde bewusst, was er geschworen hatte, doch er konnte das nicht zulassen. Ein kleines Mädchen umzubringen, weil sie einmal eine Gefahr werden könnte, ergab für ihn keinen Sinn.
"Pass gut auf sie auf!", bat die Blonde ihn, bevor sie das Mädchen in seine Arme legte. Mit großen, ehrlichen Augen blickte Calina zu Hades auf und er erlaubte sich ein schwaches Lächeln. Ein letztes Mal küsste ihre Mutter Calina auf die Stirn, dann wurden die beiden in die Schatten des Zimmers gezogen und verschwanden.
Hades setzte sie in der Unterwelt ab bei seiner Frau, die in ihrem Garten wartete und sich um die Blumen, Früchte und Bäume dort kümmerte. Als sie die beiden erblickte, stellte sie ihre Arbeit ein und sah ihren Ehemann verständnislos an, doch dann sah sie die Augen des Kindes auf seinem Arm.
"Ich passe auf sie auf, Hades", mit einem Lächeln nahm sie das Kind auf ihren Arm. Calina schlang die Arme um Persephones Hals und schaute in den Garten.
"Ich sollte deine Pflanzen nicht berühren", flüsterte sie leise. Die Göttin schüttelte den Kopf.
"Das solltest du vermutlich nicht, mein Kind, aber du kannst mir trotzdem helfen...", und während sie Calina erklärte, was diese zu tun hatte, verschwand Hades, um mit seinem Bruder zu sprechen. Er würde ihm jedoch nicht die Wahrheit sagen...er würde lügen, um dieses Kind zu schützen. Kurz darauf spuckten die Schatten ihn vor den abwartenden Gesichtern der anderen Götter aus. Er blickte seinen Brüdern in die Augen und er spürte seinen eigenen Hass auflodern. Sie hatten ihn in die Unterwelt verbannt, Zeus hatte ihm seine Kinder nehmen wollen...
"Das Kind war tot, bevor ich eingetroffen bin", eine schlechte Entscheidung, denn die Unterwelt war der Ort, an dem sie das Mädchen niemals finden würden.
"Was meinst du damit, Hades?", fragte Zeus misstrauisch. Blaue Augen starrten auf den Gott der Unterwelt herab, der unter dem stechenden Blick jedoch nicht einmal mit der Wimper zuckte.
"Ihre Mutter hat ihr das Leben genommen, bevor einer von uns das tun konnte", er neigte den Kopf, um sich zu verabschieden. Kein weiteres Wort wollte er an seine Geschwister verschwenden. Die Schatten verschluckten ihn erneut und brachten ihn in sein Heim, zurück in den Garten, in welchem seine Ehefrau Seite an Seite mit Calina die toten Blumen aussortierte. Das Mädchen blickte auf und winkte schüchtern, Persephone lächelte und Hades wusste, dass sie nichts verraten würde.
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