Schwestern
Prompt 10 von "New Year, New You 2025":
Mit den ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings schimmert ein geheimnisvolles Licht auf der Wasseroberfläche eines nahegelegenen Sees.
***
Ich konnte mein Glück kaum fassen: der See hinter meinem Haus war endlich nicht mehr zugefroren. Ich reckte mein Gesicht den ersten warmen Sonnenstrahlen des Frühlings entgegen. "Danke, Prinzessin Frühling!", flüsterte ich dankbar.
Die vier Prinzessinnen waren die Eckpfeiler unserer Welt. So unterschiedlich sie auch waren, so brachte doch jede von ihnen besondere Fähigkeiten mit:
Prinzessin Sommer war lebensfroh und oft launisch: War sie glücklich, verwandelte sie jeden nass-kalten Tag in einen sonnigen Traum, den man nach Herzenslust genießen konnte. War sie zornig oder traurig, tobten Sturm und Gewitter.
Prinzessin Herbst war spielerisch und kreativ: Sie bescherte uns regnerische, windige Tage - aber nur, damit inmitten der Tropen farbenfrohe Blätter durch die Luft wirbeln und ihre Pracht entfalten konnten. Wollte man einem regnerischen Tag frische Luft schnappen, begrüßten einen goldene Herbsttage, bei denen Blätter einem ein Lächeln ins Gesicht zauberten.
Prinzessin Winter, sehr herzlich, lebte bevorzugt zurückgezogen. Wenn die Verantwortung unsere Welt zu gestalten in ihren Händen lag, dann fror sie alles ein und eine kühle Ruhe überzog das Land. Die Menschen zogen sich in ihre Heime zurück und genossen die Familienwärme. Sie erlaubte Winterzauber durch wilde Schlittenfahrten oder lustige Schneemänner.
Prinzessin Frühling war abenteuerlustig und enthusiastisch: Mit ihr fingen die Vögel wieder an zu singen, die Knospen streckten ihre Köpfe aus dem Schnee hervor und die ruhige Kühle wurde ersetzt durch freudiges Summen.
So unterschiedlich die Schwestern doch waren, so innig liebten sie einander. Denn auch wenn wir unsere Prinzessinnen selten zu Gesicht bekamen, so wusste ich von einem besonderen Ort. Der See hinter meinem Haus, an dem sich jedes Jahr geheimnisvolle Momente ereigneten.
Ich machte mich am Tag des Frühlingsanfangs auf den Weg zum See. Unweit kletterte ich auf einen der Bäume und wartete.
Wie jedes Jahr, begann um Punkt 12 Uhr die Wasseroberfläche des Sees zu schimmern. Das Licht zog mich in seinen Bann und verschlug mir dem Atem. Und wie jedes Jahr, geschah dann etwas Magisches: Aus dem See stieg Prinzessin Winter, während der Wind Prinzessin Frühling herbeiwehte. Die beiden Schwestern fielen sich in die Arme.
"Winter, zu lange ist es her," schluchzte Frühling in Tränen und drückte ihre Schwestern enger an sich.
"Ich habe dich so vermisst!", antwortete Winter ebenso gerührt. "Ein Jahr ist eine Ewigkeit und doch so kurz!"
"Ach Schwester", meinte Frühling wehmütig und trat einen Schritt zurück. "Lass mich dich ansehen. Du siehst erschöpft aus."
Winter nickte: "Du kennst die Bürde, die ich dir nun übertrage. Genauso wie meine Zeit vorüber ist und ich mich schlafen lege, so bist du nun an der Reihe unser Werk fortzusetzen."
Frühling setzte ein tapferes Lächeln auf. "Winter, wie geht es Herbst? Sie ist die Einzige, die ich nie zu Gesicht bekomme. Es schmerzt so sehr."
"Oh Frühling", sagte Winter, und nahm ihre Schwester erneut in den Arm. "Herbst geht es gut. Wir sprachen vor drei Monaten. Sie war erschöpft aber glücklich über die gelungene Ernte und dass sie ihre Aufgabe erfüllt hatte. Sie war bereit für ihren Schlaf um sich auf den nächsten Herbst vorzubereiten."
"Das ist gut. Das ist sehr gut," meinte Frühling wehmütig.
"Sie hat mir einen Brief für dich dagelassen", meinte Winter und drückte ihrer Schwester einen Brief in die Hand, auf dem ein getrocknetes Herbstblatt klebte.
Frühling berührte das Blatt ehrfürchtig: "Herbst ist so kreativ. Sie hat wieder etwas wundervolles geschaffen." Frühling steckte den Brief ein.
"Wie geht es Sommer?", fragte Winter.
"Als ich Sommer zuletzt sah, war sie sehr traurig. Ich denke die Trennung setzt ihr sehr zu. Sie ist noch launischer als sonst. Ich hörte die Erdlinge darüber reden, dass der vergangene Sommer sehr stürmisch gewesen sein soll und dass sie sich einen ruhigeren, sonnigeren wünschten."
Winter nickte traurig. "Das klingt nach Sommer. Aber wir müssen durchhalten: Noch ein Zyklus und dann sind wir alle wieder vereint. Auch wenn es nur für einen Tag ist."
Dieser Gedanke zauberte Frühling ein Lächeln ins Gesicht. "Du hast recht. Nicht den Kopf hängen lassen. Winter, ich danke dir für dein Werk. Dürfte ich dir ebenfalls etwas mitgeben?", fragte Frühling.
Winter nickte und lächelte, als hätte sie nichts anderes erwartet. Frühling hob ihre Hand über die Schneeschicht und ein Schneeglöckchen reckte schüchtern ihren Kopf aus der Schicht hervor. Frühling holte die Pflanze mitsamt der Wurzel aus der Erde. "Winter, könntest du das Herbst überbringen. Und mit deinen kühlen Händen schützen bis dahin?"
"Von Herzen gerne," meinte Winter und die Pflanze verschwand in ihrem flauschigen Mantel.
"Es ist an der Zeit," ergänzte Winter. Sie spürte wie ihre Augenlider schwer wurden.
"Erhole dich gut, Winter. Bis in einem Jahr.", sagte Frühling und umarmte ihre Schwester ein letztes Mal.
Winter sank mit geschlossenen Augen und einem friedlichen Lächeln im Gesicht zurück in den See. Der See schimmerte erneut auf und nahm die tiefschlafende Prinzessin mit offenen Armen auf. Sie sank tiefer und tiefer und würde erst in neun Monaten wieder das Licht der Welt erblicken. Prinzessin Frühling schaute ihrer Schwestern noch lange hinterher. Dann atmete sie tief durch und schaute mit entschlossenen Augen nach vorne.
"Ans Werk" und sauste mit dem Wind davon.
Mit gebanntem Blick und angehaltenem Atem hatte ich die Szene verfolgt.
Diese Schwestern waren ein Herz und eine Seele. Den selben Schmerz würde Prinzessin Frühling in drei Monaten wieder empfinden, wenn sie ihre Schwester Sommer am Ende ihrer Zeit wiedersah und selbst in einen tiefen Schlaf fiel. Oder Prinzessin Sommer, wenn sie Herbst in den Arm nahm. Oder Prinzessin Herbst, die das Geschenk von Prinzessin Frühling erhalten und in Tränen ausbrechen würde. Und Winter, die ihre Schwester Herbst in den Schlaf schicken, und Monate später, wie heute, ihre Schwester Frühling begrüßen und den Staffelstab übergeben würde. Ein endloser Zyklus.
Doch es schien, als ob ein besonderer Tag näher rückte. Eine Ausnahme. Und das stimmte mich einerseits glücklich für die Schwestern, jedoch wurde mir Angst und Bange.
Was wäre an dem Tag, an dem Frühling, Sommer, Herbst und Winter aufeinander treffen würden? Was würde mit meiner Welt passieren?
Ich konnte es mir kaum ausmalen. So schaute ich noch ein letztes Mal auf den magischen See. Er schimmerte nicht mehr. Ob das geheimnisvolle Licht in einem Jahr Glück oder Unglück bringen würde, das vermochte ich heute nicht zu sagen.
So drehte ich dem See den Rücken zu und lief zurück zu meinem Haus. Auch ich hatte eine Aufgabe zu erledigen.
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