Kapitel 8 - Geteilte Einsamkeit
Csaba konnte zwar nicht sagen, wohin der Radpanzer fuhr, der in den Hagelsturm in tiefe Nacht hinausschoss, aber er wusste, wie viel Sprit so ein Radpanzer fraß, wenn man ihn wie von der Tarantel gestochen lenkte. Das und sein grobes Ortsgedächtnis vom Vortag gaben ihm zumindest Aufschluss, in welchem Radius sie suchen mussten, um Asavi zu folgen, damit er den seltsamen Deal mit dem Engel einhalten konnte.
Merkwürdigerweise blieb der Schneeberg trotz des flüchtenden Pandurs dunkel. Izabela schickte keinen einzigen Helikopter hinter dem Gefährt her, in dem – laut dem Engel, der ihn keine vier Stunden zuvor aufgesucht hatte – Asavi saß und Reißaus nahm. Der Peilsender wog in seiner Westentasche weitaus mehr, jetzt da er derjenige war, der angepeilt wurde und die Drohung des Engels nistete in seinem Kopf – mietfrei. Folge Asavi, oder stirb.
Csaba war solche Motivation gewohnt, schließlich war sein Halbbruder Joska ein Meister darin mit Drohungen von Folter oder tatsächlicher Folter zu bekommen, was er wollte. Csaba hatte viele dieser Befehle selbst vollstreckt. Geriet er ihm jetzt noch einmal unter die Augen, würde er am anderen Ende dieser Befehle sitzen und vermutlich jeden einzelnen seiner Zähne verlieren, ehe Joska sich seinen Fingernägeln, Fingergliedern und schließlich seinen Augen widmete. Csaba war kein Freund von sinnloser Folter. Wenn jemand sterben musste, dann mit einem gezielten Schuss.
Dummerweise war es ihm nicht möglich, dem Radpanzer zu folgen. Golfballgroße Hagelkörner schmetterten auf den umliegenden Wald und die verlassenen Gebäude nieder, sodass sie Schutz suchen hatten müssen. Jazmin, die auf die orangene Tigerkatze in dem kleinen Bauernhaus aufpasste, hatte mehrmals versucht, ihm diese ganze Sache auszureden. Den Engel zu ignorieren, den Peilsender wegzuwerfen und weiter vor Joska zu flüchten, der ihnen immer noch auf den Fersen war. »Wie wär's mit einer Kreuzfahrt?«, hatte sie müde vorgeschlagen.
Trotzdem saß Csaba mit seinem Feldstecher samt Nachtsichtfunktion so hoch oben auf der bewaldeten Hügelkuppe, wie es ihm möglich war, um die anfängliche Richtung des Fluchtfahrzeugs festzulegen. In den Süden also. So, wie der Engel gesagt hatte, war das die einzige Straße, die aus dem Schneeberg und somit Izabelas Hauptquartier hinausführte.
Csaba drückte sich fest gegen den Stamm der Fichte und verfluchte sich selbst. Warum ließ er den Engel nicht einfach Engel sein? Warum kümmerte es ihn überhaupt, was mit Asavi passierte? Er hatte auf Jazmin aufzupassen, die seinetwegen desertiert war und Erbse zu versorgen, die mit ihrem viel zu gutgläubigen Gemaunzte bestimmt von einem Wolf gefressen wurde.
Die Worte des Engels gingen ihm aber nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht suche ich nach all den Jahren sinnlosen Tötens nach einer Alternative. Weil ich Heimweh habe. Und diesen Ort hier hasse. Dieselbe weltoffene Menschlichkeit in seiner Stimme und in seinem Blick hatte Csaba an Asavi erinnert und einen Funken in ihm geweckt, den er die vergangenen Jahre unter Joskas brutaler Führung mit aller Kraft erstickt hatte. Er war es so leid, zu töten.
Dafür würde er auch in einem Hagelsturm stehen und einen Weg finden, vielleicht einen Teil dessen wiedergutzumachen, was er die vergangenen Jahre verbrochen hatte.
Er ließ den Feldstecher sinken, da der Radpanzer in der Nacht verschwand und die Signallampen am Garagentor des militärischen Stützpunkts der Varai kein Licht mehr ausstrahlten.
»Das ist wirklich dein Ernst«, konfrontierte ihn Jazmin, kaum war er durch die stürmische Nacht zurück beim Bauernhaus angekommen. Sie rümpfte aufgrund seiner nassen Kleidung die Nase und suchte in den Taschen, in die sie über den Nachmittag sämtliche, brauchbaren Dinge aus der verlassenen Stadt gesammelt hatten, nach trockenen Sachen.
Csaba trat die schiefe Tür des Bauernhauses ins Schloss, um den prasselnden Regen auszusperren, und schenkte Jazmins verärgertem Ausruf keine Beachtung. Nachdem er ihr vorhin die groben Details ihres weiteren Vorgehens geschildert hatte, war sie bleich geworden, hatte aber nicht widersprochen.
»Csaba«, forderte sie ihn jetzt ein weiteres Mal auf, ihr zu antworten.
»Was?«, schnappte er ungehalten und schälte sich aus seiner nassen Kleidung. Er warf die kugelsichere Weste auf den Boden neben der mottenzerfressenen Couch, die in der kleinen Wohnküche vor dem Kamin stand, in dem allerdings kein Feuer brannte, und pfefferte sein Shirt angespannt daneben. Er war ausgelaugt, konnte aber noch nicht einmal daran denken, sich auszuruhen. Viel zu viel stand auf dem Spiel.
Jazmin seufzte. »Sprich wenigstens mit mir. Ich kann keine Gedanken lesen und du machst mir Angst.«
Csaba drehte sich zu ihr um und nahm das Handtuch entgegen, das sie ihm hinhielt, um sich damit die triefenden Locken zu trocknen. »Du brauchst keine Angst haben.«
Jazmin stieß die Luft durch den Mund aus und fuhr sich erschöpft über das Gesicht. »Hast du denn keine Angst? Sei ehrlich. Kein Führungskaderscheiß.«
Csaba hielt inne, sich abzutrocknen und warf ihr einen Blick zu. »Wovor genau?«
»Joska? Deiner Begegnung mit dem Engel? Der mit dir gesprochen hat?«, listete Jazmin entgeistert auf und ihr Blick huschte wie auf Geheiß zu den verbarrikadierten Fensterläden hin, vor denen immer noch der Sturm wütete. »Er kann jeden Augenblick zurückkommen, vor allem, nachdem du immer noch seinen Peilsender bei dir trägst! Ein Engel, der spricht!«, würgte sie hervor und verschränkte die Arme fest vor der Brust. »Unsere gesamte Realität geht hier gerade den Bach runter und du stehst hier in Unterhosen, als würde dich gar nichts jucken!«
Csaba zog sich die Socken aus und wühlte in der Tasche nach einem neuen Paar. »Jazmin«, sagte er fest, aber erschöpft. »Gibst du mir die Landkarte?«
Jazmin seufzte frustriert, starrte ihn einen Augenblick weiterhin an und seufzte dann noch einmal, aber leiser. Sie ging zum Tisch hinüber und zog die Landkarte zwischen den Munitionsschachteln hervor. »Ich folge dir, egal wohin, nicht, weil ich es muss, oder keine andere Wahl habe, sondern weil ich dich schätze. Aber manchmal«, sie warf die Karte neben ihn aufs Sofa, »bist du ein riesen Arschloch.«
Csaba schloss den Knopf der Jeans, in die er sich zwängte, und griff nach der Karte. Er kniete sich neben die Couch und breitete sie darauf aus. Die Straße, die aus dem Schneeberg führte, verlief durch die Ausläufer der Ostalpen über den Wechsel und dann weiter in den Süden.
»Csaba? Hallo?«
Ein Pandur war zwar geländetauglich, aber selbst sein Allradantrieb würde querfeldein im wilden Gebirge Probleme bekommen. Er fuhr mit dem Finger die Linie der einzigen, großen Autobahn nach, die in der Nähe über den Wechsel führte und glich die Richtung mit dem Eindruck ab, den er oben auf der Hügelkuppe ergattert hatte.
»Willst du Sex haben?«
Der schwierigste Teil würde wohl jener werden, unbemerkt unter dem Radar von Izabelas Truppeneinheiten hindurch zu tauchen, die bestimmt den Himmel füllten, sobald der Sturm nachließ.
»Nein? Okay. Wusstest du, dass ich die vergangenen Jahre jeden Tag in dein Essen gespuckt habe?«
Er griff nach einem trockenen Shirt und zog es sich über den Kopf. Ihr einziger Vorteil war der, dass Izabela nicht nach ihnen suchte und sie bis auf den Peilsender keine nennenswerte Elektronik bei sich hatten.
»Erbse ist tot.«
»Was?« Csabas Blick schoss zuerst zu Jazmin, dann durch den Raum, bis er Erbses kleinen Körper zwischen den Kleidertaschen zu einer orangenen Kugel zusammengerollt schlafen sah. »Ihr geht's gut. Sie schläft dort.«
Jazmin winkte verärgert ab und setzte sich auf die zusammengeklaubten Sitzpölster neben der Couch. »Ich hab dich Arschloch genannt. Keine Reaktion?«
Csaba runzelte die Stirn und klappte die Karte sorgfältig zusammen. Ein Ziel vor Augen zu haben half, sich zu beruhigen. »Du wolltest doch, dass ich den Führungskaderscheiß weglasse. Deshalb habe ich diese Bemerkung ignoriert. Ich hoffe, es hat dir geholfen, in mein Essen zu spucken. Und nein. Ich habe keine Lust auf Sex.«
Jazmin kämpfte mit einer dünnen Decke, die sie sich um die Beine zu wickeln versuchte. »Toll. Das war übrigens eine Lüge. Ich hab nicht in dein Essen gespuckt.«
Csaba betrachtete Jazmin dabei und starrte dann auf seine Hände hinunter. Er legte die Karte beiseite und blickte auf die Uhr. Es war kurz nach Mitternacht. »Doch, ich habe Angst.«
Jazmin hob den Kopf und Csaba stellte mit Unbehagen fest, dass ihre Augen feucht waren. Er schluckte befangen und ließ sich dann mit dem Rücken ebenfalls zur Couch neben sie sinken, half ihr, die Decke zu entwirren und breitete sie über sie beide aus. »Seit der Engel mich am Abend abgefangen hat, habe ich nichts anderes als Angst. Aber deswegen müssen wir jetzt etwas unternehmen. Angst zu haben bringt niemandem was und hilft uns nicht weiter.«
Jazmin stieß die Luft durch die Nase aus. »Geht jemand, der Angst hat, inmitten von so nem Sturm in den Wald? Ich habe dich noch nie eine passende Reaktion auf das Gefühl der Angst äußern sehen. Du sagst zwar, dass du Angst hast, aber du siehst aus, wie immer.«
»Einer musste es ja machen. Reicht es nicht, dass ich dir sage, dass ich Angst habe?«
Jazmin zuckte minimal mit den Schultern. »Warum müssen? Wieso bist du so wild darauf, diesem Engel zu helfen?«
»Weil er uns umbringt, wenn ichs nicht mache, Jazmin«, sagte er ein wenig gereizt und wandte ihr den Kopf zu. »Weil uns hier alles und jeder umbringt, wenn wir nicht kooperieren. Sei es die Natur, ein Engel, Izabela, ein zusammenfallendes Gebäude. Oder Joska.«
Jazmin starrte auf ihre angewinkelten Knie. »Ich dachte auch, dass ich meine Angst mit Arbeit ersticken kann. Aber dann ist Helene gestorben und-«, sie stockte kurz und wischte sich über die Augen. »Und dann war die Welt plötzlich ... da. Und gleichzeitig auch fort. Helene war wie meine Schwester, kapierst du?«
Csaba ließ seinen Kopf nach hinten gegen die Couch sinken und biss die Zähne fest zusammen. Du hast versagt.
»Sie war alles, das ich in dieser beschissenen Welt hatte. Oder brauchte. Als du gesagt hast, sie sei tot«, fuhr Jazmin fort und zwängte die folgenden Worte durch ihre Tränen hindurch, »war für mich klar, dass ich keinen weiteren Tag in Mischkolz bleiben werde. Joskas Gemeinschaft hat mir nichts bedeutet. Gar nichts. Man hat sich eingefügt, weil man musste und weil die Alternative schlimmer war. Los, schieß mir in den Kopf, zieh meine Zähne, es ist wie es ist und so sage ich es auch.«
»Es tut mir leid, dass ich Helene nicht retten konnte.« Und dass er ein entscheidender Teil von Joskas Gemeinschaft war, aber das sprach er nicht aus.
»Ich weiß«, weinte Jazmin leise und zog die Nase hoch. »Ich will ohne sie nicht mehr weitermachen, aber du sagst, wir müssen. Und vielleicht ist das besser, als zu sterben.«
Csaba wandte ihr den Kopf zu und starrte auf die Träne, die ihr die Nase entlang hinunterrann. Sie löste sich zitternd und fiel auf die Decke. Jazmin wischte sich, wie sie hoffte, unauffällig über die Wangen. Natürlich bemerkte es Csaba. Die Leute unterschätzten oft, wie viel er aufschnappte, ohne dass er es sich anmerken ließ. Joska allen voran. Zugleich wusste er, dass seine steife Unnahbarkeit genau das war, weshalb Jazmin davon aus ging, dass er nicht mitbekam, wie verletzt sie war. Er merkte es, natürlich, wie sollte er auch nicht? Nur darauf zu reagieren fiel ihm schwer.
»Nur rettet mich kein Tatendrang der Welt davor, Angst zu haben vor einer Realität, in der ich vollkommen alleine bin«, sagte sie, sobald sie ihre Stimme einigermaßen unter Kontrolle hatte.
Csaba hob den Arm und legte ihn Jazmin um die Schulter. »Du bist nicht alleine. Weder hier noch mit deiner Realität. Ich bin schlecht in sowas. Aber Asavi meinte letzte Woche zu mir scheiß auf Joska, und für mich war der entscheidende Augenblick, in dem ich wusste, ich würde keinen weiteren Tag in Mischkolz bleiben, der, in dem er versucht hat, dich zu erschießen.«
Jazmin zog die Nase ein weiteres Mal hoch und blinzelte ihn mit einem halben Lächeln an. »Danke.«
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