7. Erste Begegnungen
Morgens springe ich unter die Dusche bevor Avas Wecker läutet.
Ich richte für uns beide das Frühstück her und als Ava das sieht, umarmt sie mich übermütig und strahlt über das ganze Gesicht. Augenblicklich hebt sich meine Stimmung bei ihrem Anblick. Den Weg zum Unterricht legen wir schweigend zurück, wir beide hängen unseren Gedanken nach. Es ist schon komisch, wie schnell ich mein altes Leben hinter mir gelassen habe und bereit war, alles auf Anfang zu setzen. Selbst wenn ich hier noch kaum Leute kenne fühle ich mich, als wäre ich hier schon immer zur Schule gegangen.
Klar, die Tagesabläufe sind ein wenig ungewohnt – gleich nach der Schule zu Hause sein, beziehungsweise gar nicht nach Hause zu gehen, beziehungsweise immer zu Hause zu sein – doch alle sind super nett, die Lehrer sind kompetent und noch hat niemand meine seltsamen Wanderungen bemerkt. Ein wenig ängstigt es mich schon vor den kommenden Nächten – werde ich wandern? Werde ich bemerkt werden? Was wird passieren, wenn man mich bemerkt? Was tue ich, wenn ich wandere? So viele Fragen und keine Antworten.
Ava reißt mich aus meinen Gedanken, als sie mir mein Englischbuch in die Hand drückt und mich umarmt.
„Wir sehen uns später, heute haben wir zumindest zwei Stunden gemeinsam!"
„Ja, bis dann!", antworte ich und betrete den Klassenraum. Ich lasse mich auf den selben Platz wie gestern neben Celine nieder und automatisch schweift mein Blick durch die Klasse.
Gestern war, bis auf Alec, niemand von der Elite in meinen Kursen – heute sehe ich, dass Alec nicht hier ist, dafür stehen hinten in der Ecke der braunhaarige Junge von gestern mit der Brille, der zu seiner Lederjacke eine hellblaue Jeans trägt. Neben ihm lehnt ein Mädchen mit dunkelblonden Haaren an der Wand.
Die Glocke unterbricht meine Beobachtungen, die Stunde beginnt.
Als es zur Pause läutet, verlassen Celine und ich das Klassenzimmer, um uns die Beine zu vertreten. Plötzlich taucht eine leicht verschwitzte Ava vor uns auf.
„Neela! Da bist du ja, ich muss mit dir reden!" Verwundert sehe ich sie an. Ava packt meine Hand und ich folge ihr auf die Mädchentoilette, Celine dicht auf unseren Fersen.
„Was ist denn?", frage ich aufgebracht, während Ava unter den Türen durchsieht, ob sich jemand darin aufhält.
„Gleich." Nach der letzten kontrollierten Kabine richtet sich das zierliche Mädchen auf.
„Ava, es läutet in einer Minute ..."
„Ja, ich weiß, und ich bin auch nicht umsonst den ganzen Weg zu euch gerannt!"
„Sag schon, was ist?", meint Celine, ihr Gesicht beunruhigt.
„Ich habe vorhin Cora mit Alec über dich reden hören, Neela. Sie haben über dich geredet! Und nicht nur, als wärst du nur eine neue Schülerin, nein, als würdest du schon zu ihnen gehören! Sie meinten, es wäre nur eine Frage der Zeit, bis du zu ihnen gehören würdest. Heute wird sich einer von ihnen mit dir unterhalten – ich habe dir gestern davon erzählt, das machen sie bei jedem ... bitte pass auf, was du sagst, okay? Sie werden dir Fragen stellen – versuche einfach, diese so wenig wie möglich zu beantworten und versuch einfach total uninteressant zu wirken, ja?"
Verwirrt nicke ich zögernd.
„Bitte, Neela, tu es für mich! Ich möchte nicht schon wieder jemanden an die Elite verlieren! Du passt nicht zu denen, du bist keine von ihnen!"
Ihre Worte lassen mich innehalten, aufhorchen. In ihrer flehenden Stimme war etwas, was mich dazu drängte ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Ein bittender, sehnlicher Unterton, als hätte sie wirklich Angst, mich zu verlieren.
„Keine Angst, Ava, ich will gar nicht zu denen. Die sind unheimlich."
Ava stößt die Luft aus und die Glocke scheucht uns aus der Toilette.
„Das wollte ich hören. Danke", flüstert sie mir noch im Vorbei sprinten zu.
Zurück auf meinem Platz kann ich nicht anders, ich muss über die Panik in Avas Stimme nachdenken. Wie es aussieht, geht ihre Abneigung gehen die Elite viel tiefer als ich dachte.
„Celine, was hat Ava damit gemeint, dass sie jemanden an die Elite verloren hat?", murmle ich ihr zu. „Bitte. Ich will es nur verstehen", hänge ich an, nachdem ich die Zurückhaltung in ihrem Ausdruck sehe.
Celine streicht sich das glatte Haar hinter die Ohren. „Die meisten von uns haben ihre Gründe, warum sie die Elite nicht mögen. Manche der Gründe greifen tiefer und manche beruhen auf Oberflächlichkeit. Bei Ava ... vor dir hat sich Ava mit ... mit Cora das Zimmer geteilt. Die beiden kannten sich schon, seit sie klein waren. Sie gingen immer auf dieselbe Schule, in die gleiche Klasse. Die beiden waren unzertrennlich. In St. Canice wohnten sie gemeinsam, bis Cora auf einmal begann, mit der Elite Zeit zu verbringen. Sie wurde Mitglied der Elite, ist bei Ava ausgezogen und ins Haus der Elite eingezogen. Ava blieb alleine zurück."
Celine verzieht den Mund.
„Sie waren beste Freundinnen, Neela. Die allerbesten Freundinnen. Doch sobald Cora bei der Elite war, ließ sie Ava links liegen. Sie haben seitdem kaum miteinander geredet. Cora ignoriert sie total. Nur, weil sie der Elite angehört. Und Ava eben nicht."
„Sie haben nicht mehr miteinander geredet? Und waren davor beste Freundinnen?"
Celine nickt. „Ja. Cora ist eines Tages einfach so aus ihrem Zimmer verschwunden. Hat jeden Kontakt abgebrochen. Anja informierte schlussendlich Ava darüber, dass Cora zur Elite zieht. Ava ... war danach lange alleine in ihrem Zimmer. Sie war am Boden zerstört – sie hat ihre beste Freundin von einem Tag auf den anderen verloren, ohne jegliche Begründung. Jedes Mal, wenn Ava mit ihr deswegen reden wollte, hat sie abgeblockt. Nicht einmal Jonah konnte Ava aufmuntern. Das Ganze ist noch gar nicht so lange her – gerade mal ein Jahr. Sie hat sich so sehr gefreut, als sie erfahren hat, dass sie eine neue Mitbewohnerin bekommt – und zwar eben dich."
Ich lächle zaghaft.
„Enttäusche sie nicht. Ava mag dich wirklich."
„Ich habe nicht vor, mich der Elite anzuschließen." Ich meine es wirklich.
„Gut. Noch einmal hält das Ava nicht aus."
In der vierten Stunden kommt tatsächlich jemand in die Klasse. Die Türe geht einfach auf und der eingebildet wirkende blonde Junge aus Schauspiel, dessen Namen ich vergessen habe, steht im Türrahmen.
„Entschuldigung", meint er zu unserem Lehrer, „Ich bräuchte Neela für einen Augenblick."
Ein Raunen geht durch den Klassenraum. Ich spüre, wie jedes Augenpaar auf mich gerichtet ist. Hinter mir wird wild getuschelt.
Herr Polk nickt und der Blonde deutet auf mich.
„Kommst du?"
Seine Frage ist grässlich herablassend.
Kurz bin ich versucht, sitzen zu bleiben und abzuwarten. Ich unterdrücke den Drang, die Arme vor meiner Brust zu verschränken. Der Fuß des Blonden wippt unausgelastet und ich entscheide mich dann doch anders.
Die Blicke der ganzen Klasse auf meinem Rücken spürend, stehe ich auf und gehe durch die Tischreihen zu ihm nach vorne. Beim Rausgehen drehe ich den Kopf, sehe noch Celine, die mir ein zaghaftes Lächeln und einen Daumen nach oben zeigt.
„Du machst das schon", soll es wohl heißen.
Ich blicke verzweifelt zurück.
Er führt mich aus dem Gebäude hinaus und über das Internatsgelände, bis wir am Waldrand stehen.
Die ganze Zeit sagt er kein Wort. Es ist ein wenig seltsam, wie er so schweigend vor mir hergeht. Wie er erwartet, dass ich ihm ohne Widerrede folge. Überheblich.
Der Junge betritt den Wald und zuerst denke ich, wir stehen direkt im Unterholz, doch dann bemerke ich den kleinen, fast unsichtbaren Pfad am Boden. Hier im Wald ist es düster, das Licht hat wenig Chance, den Boden zu berühren.
Kaum merklich entspanne ich mich. Die Düsternis gibt mir Kraft und birgt Vertrautheit, auch, wenn ich mich immer vor den Blackouts fürchte. Manchmal genieße ich sie auch.
Das alles verschluckende Schwarz der Nacht, die Ruhe, die in die Welt einkehrt, wenn die Sonne untergeht. Mein Körper fühlt sich in der Dunkelheit einfach wohl. Alles wäre er dort zu Hause.
Kurz bevor ich von einem Blackout aufwache, gibt es diesen einen knappen Moment der Freude, der Glückseligkeit. Den Augenblick, in dem ich – oder mein Bewusstsein – nur das Dasein genieße, bevor ich realisiere, wo ich bin und warum ich dort bin, in dem mein Körper entspannt ist, weil er gerade irgendetwas gemacht hat, dass sich auf mich glücklich auswirkt.
In diesem Zeitpunkt sind alle Sorgen vergessen und ich lebe nur für mich.
Urplötzlich bleibt der Blonde stehen. Ich knalle in ihn hinein, versunken in meinen Gedanken.
„Ups, sorry-", entschuldige ich mich. Er dreht sich um und sieht mich aus seinen Augen an, Augen, die mich an geschmolzenes Gold erinnern. Es ist das erste Mal, dass ich seine Augenfarbe erkennen kann.
„Kein Problem. Ich bin übrigens Jordan." Jordan ... ist das nicht auch ein Mädchenname?, ist mein allererster Gedanke und ich muss ein Kichern unterdrücken. Die Situation ist viel zu merkwürdig.
„Neela ... aber das weißt du ja sicher schon", antworte ich. „Weißt du eigentlich, dass das ganze hier ziemlich komisch ist?", spreche ich ihn darauf an.
Verständnislos sieht er zu mir hinunter. Er ist groß, bestimmt zwei Köpfe größer als ich. „Komisch? Nein. Vielleicht für dich, ... aber es ist notwendig. Du wirst es irgendwann verstehen."
Hä? Was soll ich denn mit dieser Aussage anfangen? Wann werde ich verstehen, warum er Leute aus dem Unterricht einfach in den Wald entführt? Wie gruslig ist das eigentlich?
Wie auch immer, die Antwort hat mein Interesse geweckt. Wenn ich schon einmal mit einem der Elite reden muss, dann möchte ich auch einiges erfahren.
„Komm, wir sind fast da", meint er und setzt seinen Weg fort. Mir bleibt nichts anderes übrig, ich folge ihm.
Ungefähr eine Viertelstunde Fußweg später bleibt er abermals stehen. Vor uns ist eine kleine Lichtung aufgetaucht, von großen Bäumen umrandet. Auf der rechten Seite liegen riesige Felsbrocken im Gras, die teilweise zu Figuren und Skulpturen gemeißelt wurden. Sogar ein halber Torbogen steht am Rande der Lichtung. Während ich ihn betrachte, überkommt mich ein Gefühl, als wäre ich schon einmal hier gewesen. Bei einer Art großen Tisch aus Stein lässt Jordan sich im Gras nieder und ich folge seinem Beispiel.
„Was ist das hier?"
„Früher muss hier wohl eine Art Tempel gestanden haben – diese Steinplatte war wahrscheinlich ein Altar. Er scheint recht alt und nur wenige Leute kennen diesen Ort. Selten verirren sich Leute aus der Stadt hierher, meist abergläubische Gottesanbeter. Das passierte in meiner Internatszeit bisher Gott sei Dank nur dreimal." Er wirft mir einen schnellen Blick zu. „Es ist einer meiner Lieblingsorte am ganzen Gelände."
„Bedeutet das, in Richtung des Waldes gibt es keinen Zaun? Also der Zaun, der ganz St. Canice einschließt?"
Jordan schüttelt den Kopf. „Nein. Der Zaun führt vielleicht noch ein paar hundert Meter geradeaus, dann hört er mitten im Wald auf. Aber dorthin kommt sowieso niemand, das ist zu nah an unserem Haus. Der andere Canice-Zaun führt ein paar Kilometer ins Innere des Waldes, falls du dich das jetzt fragst. Im Wald verlaufen mehrere Trampelpfade, sie führen eigentlich ins Nirgendwo. Sollte man sich verirren und ihnen folgen, kommt man entweder zum Internat, auf die umliegenden Felder oder in die Nähe der Stadt."
Ich nicke. Weitläufige Felder, Anbauflächen der Landwirte, gibt es hier in der Gegend zur Genüge, das konnte ich bei meiner Fahrt nach St. Canice zu meinem Unmut feststellen.
Mich überrascht nicht, dass der eiserne Internatszaun nicht vollständig ist. Das Internatsgelände an sich ist schon riesig und was für einen Sinn macht es, den Zaun im Wald weiterzuführen, wo sich ohnehin niemand hinein verirrte? Wir Schüler können zu jeder Zeit das Internat durch das Haupttor verlassen, solange wir uns abmelden.
Meine Augen gleiten über den uralten Altar und mir fallen die verschnörkelten Verzierungen auf. Eine sticht mir dabei besonders ins Blickfeld – zwei zueinander gewandte Dreiecke, welche fast ein Rechteck bilden. Sie werden von einer Art Spirale zusammengedrückt.
Auf einmal blitzt vor meinen Augen ein Bild auf.
Da ist eine junge Frau, hier, auf der Lichtung. Es ist tief in der Nacht. Sie trägt Kleidung, die durch die Dunkelheit schwer in ihren Einzelheiten auszumachen ist.
Im Streifen Mondlicht kann man ihr langes Haar erahnen. Urplötzlich erklingt tief in mir eine Stimme.
Die Stimme ist so überraschend laut, dass ich mich erschrecke. Sie dröhnt, brüllt in meinen Gedanken, sie ruft nach ihr, nach der Frau. Bestimmend, bettelnd, flehend. Sie ruft ihren Namen, einen Namen, den ich nicht verstehen kann. Doch ich weiß, dass sie gemeint ist. Und die Frau weiß es auch. Sie dreht sich um.
Ihre Körperhaltung ist mir ungeheuer, in ihr liegt eine Macht, die mich erzittern lässt. Sie wirkt ehrfürchtig und mächtig, anders und fremd. Wie ein Wesen, nicht von dieser Welt.
Das Licht fällt auf ihr Antlitz. Ich erkenne den Schwung ihrer Wangen, die Kontur ihres Gesichtes, den Teint ihrer Haut.
In ihrem Gesicht, ganz schemenhaft, glaube ich, mich selbst zu sehen.
Die Frau breitet die Arme aus, lächelt, nickt als Antwort der Stimme zu. Dann macht sie sich leichtfüßig auf den Weg.
Ich blinzle. Ich glaube, ich verliere den Verstand.
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