1. Nächtliche Wanderungen (2)
Mit einem Kreischen fährt die U-Bahn ein. Das grelle Licht blendet mich und ich wende den Blick ab. Sobald die Frau und ich eingestiegen sind, fallen die Türen hinter uns wieder zu und die Bahn fährt weiter. Erschöpft lasse ich mich in einen der blauen Sitze fallen – nur sechs Stationen, sage ich mir, dann hast du es geschafft.
Schräg gegenüber auf der anderen Seite sitzt ein Mädchen, welches irgendwie meine Aufmerksamkeit erregt. Müde wie ich bin beginne ich trotzdem, sie zu mustern. Was mag sie wohl um diese Uhrzeit hier machen? War sie auf einer Party?
Nein, dafür ist sie zu normal angezogen. Und zu jung. Ich schätze sie auf dreizehn, vielleicht vierzehn. Nicht älter als vierzehn. Was macht sie alleine hier? Ihre blauen Augen starren aus dem Fenster und wirken irgendwie erschrocken und verwundert. Als würde sie meinen eindringlichen Blick bemerken, wendet sie den Kopf und starrt mich an. Mein Nacken beginnt zu kribbeln.
Sie sieht mir direkt in die Augen, hebt fragend eine Augenbraue und formt mit ihrem Mund ein Wort. Im ersten Moment denke ich, sie hat meinen Namen geflüstert, doch das wäre zu absurd.
Ich schüttele einfach den Kopf und sehe wieder aus dem Fenster. Wahrscheinlich hatte sie einen Kaugummi oder so. Oder die Aufregung und das Adrenalin in mir lassen mich Dinge sehen, die nicht real sind.
Während die U-Bahn eintönig dahinrattert, schweifen meine Gedanken in die Ferne. Das Mädchen ist jetzt wohl in dem Alter, in dem es bei mir angefangen hat. Ich war dreizehn, zwei Monate, bevor ich vierzehn geworden bin. Da hatte ich mein erstes Blackout.
Das allererste Blackout war eines der schlimmsten. Ich bin ruckartig aufgewacht und befand mich plötzlich auf einem Waldweg. Mutterseelenallein in meinem Pyjama in der Dunkelheit. Der Wald war endlos und bedrohlich, ich mehr als nur verängstigt. Ich folgte dem Pfad, weinend, zitternd, unterkühlt, hatte keine Ahnung, ob das nur ein böser Traum war oder wirklich mit mir geschah. Ich wanderte stundenlang umher, bis ich auf einen Feldweg stieß, der schließlich zu einer Straße wurde. Wie aus dem Nichts erschien eine Busstation. Dort brach ich in dem Häuschen zusammen und weinte mich in den Schlaf, in der Hoffnung, dass es doch nur ein schlimmer Traum war.
Geweckt wurde ich nicht, wie ich gefleht hatte, von meiner Mutter in meinem Bett, sondern von dem Busfahrer. Er schien mir nicht zu glauben, was passiert war, doch er setzte mich in den Bus und gab mir seine Jacke. Der Bus brachte mich bis zum Stadtrand, wo ich dann mit der U-Bahn nachhause zurückkehrte.
Es war fast Mittag, als ich ankam und meine Eltern waren außer sich vor Sorge. Ich versuchte, es ihnen zu erklären, doch sie verstanden mich nicht. Sie glaubten mir nicht, dass ich einfach woanders aufgewacht war. Stattdessen warfen sie mir vor, ich wollte abhauen. Wir stritten, der heftigste Streit, den wir je hatten, ich schrie und tobte und an seit diesem Tag war das Verhältnis zu meinen Eltern nicht mehr das, was es einmal war. Und meine Welt auch nicht mehr.
In jener Nacht des ersten Blackouts legte ich über 40 Kilometer zurück. Heute sind meine Erinnerungen daran getrübt – ich hatte versucht, sie zu verdrängen, mir das Geschehen auszureden, es schönzureden. Bis zum zweiten Blackout hatte ich noch Hoffnung. Ich erwachte auf einem Spielplatz, nicht unweit von unserem Haus entfernt.
Ich war noch verzweifelter als beim ersten Mal, weil ich nicht verstand was da mit mir passierte.
Und selbst heute verstehe ich es nicht.
Zuerst waren sie ganz selten, dann immer regelmäßiger. Inzwischen wache ich mindestens dreimal in der Woche an einem anderen Ort als in meinem Bett auf. Und ich habe absolut keine Ahnung, was ich in dieser Zeit, in der ich nicht bei mir bin, tue. Ich weiß nicht, was mein Körper tut, was mich steuert, wohin ich gehe, warum ich dorthin gehe. Ich weiß nur, dass es passiert. Und muss mit dieser Ungewissheit leben.
Endlich fährt die U-Bahn in die richtige Station ein und ich springe aus dem Wagen. Meine Füße tragen mich flott nach Hause – durch die vielen Wanderungen und der nicht seltenen halsbrecherischen Flucht danach, wenn ich entdeckt wurde, ist mein Körper gestärkt worden, meine Beine kräftiger, meine Ausdauer länger, meine Kondition besser.
Erfreuliche Nebenwirkungen einer nicht so erfreulichen Sache. Ebenfalls habe ich mein Talent zum Schauspielern entdeckt – ich weiß gar nicht mehr, wie viele Charaktere ich schon nachts in einer Notsituation erfunden habe. Eigentlich ist es eher weniger Schauspielern, sondern mehr Lügen – mich aus Sachen herausreden, drum herumreden, Geschichten auftischen. Inzwischen bin ich zu gut darin geworden, fremden Menschen fast alles mögliche einzureden.
Vor mir ist endlich unser Haus aufgetaucht. Es ist nicht groß – doch ich habe den Vorteil, dass mein Zimmer im Erdgeschoss liegt. So kann ich jederzeit durch mein Fenster hinein und hinaus. Leise öffne ich die leicht knarrende Gartentür und schleiche wie ein Einbrecher durch den kleinen Garten mit den dunklen Holundersträuchern. Mein Fenster steht offen, der milchig weiße Vorhang weht heraus. Ächzend stemme ich mich am Fensterbrett hoch und ziehe mich ins Zimmer. Einer alten Angewohnheit folgend schließe ich das Fenster mit einem kleinen Schlüssel ab und verstecke diesen unter einem Blumentopf.
Ich dachte einst, so kann ich die Blackouts verhindern – einfach, indem ich nicht hinauskann. Doch mein Körper findet immer einen Weg dorthin, wo er hin muss, egal, wie viele Türen ihm im Weg stehen. Abgesperrte Fenster oder Türen halten ihn nicht auf. Wenn mein Körper im Blackout ist, ist alles möglich.
Umständlich schlüpfe ich aus meiner Kleidung und den Schuhen und wechsle ins Pyjama. Seufzend falle ich ins Bett. Meine Augen sind schon fast zugefallen, da bemerke ich etwas unter mir. Erschöpft krame den zerknitterten Zettel hervor und sehe, dass es mein versauter Physiktest ist. Im Vergleich zu den Blackouts ist die schlechte Note ein wahrlich kleines Übel. Doch in der Welt meiner Eltern gibt es nichts Schlimmeres. Ich schlucke. Morgen werde ich ihnen den verhauten Test beichten müssen - falls sie ihn nicht schon gesehen haben.
Ich werfe einen Blick auf die Uhr neben meinem Bett. Es ist 03:06. Bisschen mehr als drei Stunden, bis ich aufstehen muss. Ich höre jetzt schon die abfälligen Kommentare meiner Mitschüler und verziehe in der Dunkelheit das Gesicht. Doch dem muss ich mich erst morgen stellen – jetzt darf mein Körper endlich ruhen. Fast augenblicklich überkommt mich die warme Umarmung des Schlafes.
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