Kapitel 9: Einschläge
"Ähm, natürlich", sagte Bert. "Frag ruhig." Ein schneller Seitenblick sagte ihm, dass die Seminarteilnehmer auch gespannt waren.
"Wenn ich das richtig verstanden habe", sagte Karola, "dann liegt ein Hinweis auf ein Adstrat vor, wenn etwas in der Sprache integriert wurde, was dort zuvor nicht typisch war, in einer Nachbarsprache aber schon?"
"Äh, ja, das kann man ungefähr so sagen", sagte Bert. Hatte das in den Einsteigerwerken gestanden? Hatte Karola da wirklich reingesehen?
"Aber Fremdwörter werden nicht zu diesem Phänomen gerechnet?"
"Das ist richtig", sagte Bert. "Wenn ein Wort oder eine Wendung bewusst aus einer anderen Sprache genommen wird und quasi ein Fremdkörper in der Sprache bleibt, wird das nicht dem Adstrat-Phänomen zugerechnet. Erst wenn eine Assimilation, eine Angleichung stattgefunden hat und die Grenze zum Lehnwort überschritten ist, kann man darin eine Adstrat-Wirkung sehen."
"Dann sind die Fremdwörter, die im Vortrag aus dem Text zitiert wurden, also eigentlich keine Adstrat-Beispiele?"
Bert sah zu Herrn Kasper hinüber. Er konnte nur vermuten, dass sein eigener Kopf ähnlich rot war; heiß fühlte er sich jedenfalls an. Er hatte wirklich nicht gut aufgepasst.
"Ähm – können wir die entsprechende Folie noch einmal sehen?", fragte Bert. Natürlich hatte Herr Kasper seinen Vortrag mit einer Präsentation begleitet; er war genau der Typ dafür.
Während der zurückblätterte, ließ Bert den Blick über die anderen Studenten schweifen. Er sah ein paar besorgte Gesichter, während Frau Bohn von Ohr zu Ohr grinste und Karola einen Daumen hoch gab. Sogar Frau Koch lächelte.
👩💼
"Wir machen einen super Erste-Hilfe-Kurs!", erzählte Frau Bohn freudestrahlend. "Als wir gefragt haben, was man bei einer Schussverletzung tun soll, hat der Kursleiter das echt mit uns durchgenommen!"
"Hat er gefragt, in was für einer Gegend ihr wohnt?", fragte Karola lächelnd zurück.
Frau Bohn lachte. "Wir wohnen in einer total friedlichen Gegend. Aber er wollte schon wissen, wie wir darauf kommen."
"So, so", sagte Karola.
Frau Koch sah etwas peinlich berührt aus. Herr Kasper war auch stiller als sonst, obwohl er sich in der Diskussion zu Karolas Kritikpunkt an seinem Vortrag doch noch recht gut geschlagen hatte.
Bert sah Karola an.
"Wir müssen weiter", sagte Karola zu ihrem Fanclub.
"Schade", sagte Frau Bohn. "Du, wenn du mal Zeit hast, können wir uns mal treffen, auf ein Eis oder einen Kaffee oder so. Hier ist meine Nummer..." Sie riss schnell einen Streifen Papier aus ihrem Notizbuch, schrieb ihre Nummer groß darauf und überreichte ihn Karola. "Wenn du Lust hast, ruf an!"
"Danke", sagte Karola, schenkte Frau Bohn noch ein kostbares Lächeln und wandte sich dann mit Bert zum Gehen.
"Kriegst du viele Telefonnummern?", fragte Bert auf dem Flur.
"Oh, du bist wieder wach, schön", sagte Karola. "Und nein, kriege ich nicht. Ich werde gelegentlich nach meiner gefragt; das übliche Spiel. Hast du bestimmt auch schon gespielt."
"Ähm, nein", sagte Bert.
"Verstehe", sagte Karola. "Nun, ich bin jedenfalls gespannt, ob Max sich die Nummer merken konnte."
"Was? Wer? Oh – Herr Kasper? Aber, wie...?"
"Er hat beim Aufschreiben sehr aufmerksam zugeschaut, und die Ziffern sind extra groß."
In Berts altmodischem Hirn schalteten ein paar Relais mit vernehmbarem Klicken, während es die Schlussfolgerungen aus diesen Beobachtungen errechnete. Er sah Karola an, doch die checkte an ihm vorbei die Umgebung.
Hatte diese Frau ihre Augen überall?
👩💼
Bert hatte schon wieder vergessen, wie das neue Hotel hieß, zu dem sie gerade "nach Hause" fuhren. Die Straße kannte er aber schon, auch wenn sie völlig aus seiner üblichen Richtung lag. Jahrzehntelange Stadtplanung mit dem Ziel der Verkehrsberuhigung von Wohngebieten hatte dafür gesorgt, dass man mit dem Auto zwangsläufig immer auf ein paar wenigen Durchgangsstraßen landete. Fahrradfahren war da nicht nur gesünder und umweltfreundlicher, man hatte auch mehr Freiheiten.
Ehrlich gesagt hatte Bert sich an das Auto gewöhnt. Es war mehr Zuhause als die Hotelzimmer sein konnten. Sicher, er hatte sein Büro in der Uni. Die Rückbank des Wagens war aber sozusagen sein privates Wohnzimmer. Sogar mit Ledersofa. Vielleicht sollte er sich mal ein Buch mitnehmen. So konnte er sich nur damit begnügen, seine Fingerspiele mit dem Kugelschreiber zu perfektionieren.
Plötzlich bremste der Wagen ab. Bert sah nach vorn: Ein Lastwagen hatte angehalten und blockierte die Straße mit einem umständlichen Abbiegemanöver. Der dünne Mann tippte an den Innenspiegel.
Karola sah an Bert vorbei durch die Heckscheibe. Bert folge ihrem Blick. Von hinten näherten sich zwei fette Geländewagen mit Angebergestänge vor dem Kühlergrill. Bestimmt super praktisch, wenn einem mitten in der Stadt ein Wasserbüffel vors Auto läuft.
Der dünne Mann murmelte etwas von "Ewok" – wie kam er da jetzt drauf?
"Festhalten!", sagte Karola und griff mit einer Hand in ihr Jackett.
Bert erwischte gerade noch eine Stange der Kopfstütze bevor der Wagen abrupt nach hinten schnellte. Er wandte sich wieder um und sah entsetzt, wie die Geländewagen jetzt mit doppelter Geschwindigkeit auf sie zukamen. Dann schleuderte der Wagen herum, war unvermittelt in einer Seitenstraße und brauste davon.
"Was, zum Teufel, ist los?", fragte Bert, während er seine Gliedmaßen wieder an die richtigen Stellen sortierte und nach dem Kugelschreiber tastete.
"Mögliche Angriffssituation", sagte Karola. "Wir drohten, eingekeilt zu werden. Halt dich weiter gut fest."
"Du meinst, die wollten uns was? Auf offener Straße? Aber der Wagen ist doch gepanzert!"
"Wir gehen besser kein Risiko ein. Eine absolut sichere Festung ist das hier nicht, deshalb haben wir evakuiert."
Ah, "Evak", nicht "Ewok". Berts Finger fanden den Kugelschreiber. Mit der anderen Hand streichelte er über den Lederbezug. Karola sollte sein Wohnzimmer nicht schlechtreden!
👩💼
Als Bert am nächsten Tag in der Uni Svetlana von der wilden Fahrt erzählte, lud sie Bert und Karola spontan für den frühen Abend zu sich nach Hause ein.
"Dann fahrt ihr einen ganz anderen Weg", sagte sie zu Karola. "Meine Mitbewohnerin ist gerade nicht da, wir haben die Wohnung ganz für uns. Und wir", sagte sie zu Bert, "können wieder zusammen kochen. Einfach ein anderes Risotto? Was Passendes habe ich auf jeden Fall zu Hause."
Bert zögerte. Eine Einladung von Svetlana konnte er ja praktisch gar nicht ausschlagen, nur... der Ort war nicht gerade perfekt.
"Das Licht ist inzwischen repariert!", sagte Svetlana. "Ich habe denen die Hölle heiß gemacht, dass das sofort in Ordnung kommen muss!"
Bert stutzte. Svetlana machte jemandem die Hölle heiß? Nun ja, warum nicht? "Also, das ist... toll!" War das ein gutes Wort? "Ich freue mich total über die Einladung! Karola, geht das, oder... verstößt das gegen die Regeln... des Modellversuchs?"
Karola antwortete nicht sofort. "Ich denke, das können wir einmal machen", sagte sie schließlich. "Letztendlich warst du noch nie wirklich bei Svetlana, richtig? Das ist jetzt auch sehr kurzfristig; keiner würde dich da erwarten. Ihr dürftet es dann aber bis dahin auch keinem erzählen."
"Gut", sagte Svetlana. "Kein Problem." War das eine erhobene Augenbraue?
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Bert war ganz froh, dass er andere Risotto-Varianten noch nicht alleine erprobt hatte. Für Svetlana war es ganz selbstverständlich, dass einige Zutaten in einem zweiten Topf gekocht werden mussten; für ihn erhöhte das die Komplexität des Kocherlebnisses ganz erheblich. Er versuchte sich zu überzeugen, dass das alles ganz einfach war, dass er sich nur darauf einlassen musste. Trotzdem fühlte er sich leicht überfordert.
Zwischendurch blieb sein Blick an etwas Vertrauterem hängen: an Büchern. Sie waren leicht versteckt unter einem Karton mit einem Sammelsurium aus Gewürzdöschen. Er linste unauffällig nach den Titeln. "Studentenkochbuch". "Risotto für Anfänger". Die Bücher sahen ziemlich neu aus; aus einem ragte der Kassenzettel. Vielleicht von der Mitbewohnerin? Lernte die auch Kochen von Svetlana? Er hatte keine Zeit zu fragen, es ging längst weiter.
Das Ergebnis schmeckte auf jeden Fall sehr gut, obwohl der Geschmack für Bert neu war. Karola wollte diesmal nicht mitessen, probierte aber wenigstens und äußerte sich positiv; immerhin. Svetlana bestritt den Großteil der Tischunterhaltung mit Neuigkeiten aus der Uni. Munter, wenn auch leicht betroffen, erzählte sie, wie Frau Sauer mal wieder Georg ganz böse hatte auflaufen lassen.
Als Svetlana gerade aufzählte, wo sie gerne mal hinfahren würde, vielleicht auch mal mit Bert, wenn der Modellversuch beendet war, erklärte Karola, dass sie mal eben telefonieren müsse. Svetlana bot ihr Zimmer dafür an und Karola akzeptierte dankend.
Kaum war Karolas Stimme undeutlich im Hintergrund zu hören, beugte Svetlana sich vor und sah Bert intensiv in die Augen. Bert schluckte.
"Bert", sagte Svetlana. "Dass Karola dich beschützt – das ist nicht nur einfach ein Modellversuch, oder?"
Bert schwieg verdattert.
"Deine Wohnung ist wirklich abgebrannt", fuhr sie fort. "In den Nachrichten heißt es, es war Brandstiftung. In deinem Flur. Das ist schon ein sehr großer Zufall. Und jetzt bedrängen euch Autos auf der Straße."
"Das... das war doch gar nicht ernst", brachte Bert heraus. "Die Ewok... Evakuierung war nur eine Vorsichtsmaßnahme. Eine Ad-hoc-Übung, quasi."
Svetlana zögerte. "Wahrscheinlich darfst du gar nicht darüber sprechen. Wahrscheinlich bist du wirklich in ganz, ganz großer Gefahr. Und das ist alles meine Schuld." Sie wandte den Blick kurz ab, dann sah sie ihm wieder in die Augen. "Ist Karola wirklich deine Kusine?"
Berts Augen mussten so groß sein wie Suppenteller.
In dem Moment kam Karola wieder herein.
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"Alles okay?", fragte Karola, als sie in seinem Hotelzimmer waren. "Auch mit Svetlana und dir?"
"Geht schon", sagte Bert. In Wahrheit hatte er absolut keine Ahnung.
Was dachte Svetlana? Was fühlte sie – für ihn? Hatte Karola das überhaupt richtig eingeschätzt? Galt das noch? Hatte er es längst vermasselt?
Er wollte jetzt nicht darüber nachdenken. "Und bei dir? War das Telefonat etwas Wichtiges? Ändert sich irgendetwas, und ich darf es erfahren?"
Karola zögerte. "Ja und Nein. Ich hatte gefragt, ob wir Verstärkung kriegen können."
Bert stutzte. "Warum?"
"Der Vorfall auf der Straße war schon etwas merkwürdig. Andererseits dachte ich, du könntest wenigstens kurzfristig ein bisschen mehr Bewegungsfreiheit gebrauchen; mit mehr Leuten kriegen wir das hin."
Bert verstand Karola weniger denn je. Mehr Gefahr, mehr Freiheit? Was ergab das denn für einen Sinn? Er sah sie fragend an.
"Mein Chef hat klipp und klar abgelehnt. Es ist einiges los; die Gefährdungsstufe einiger Personen ist hochgesetzt worden. Er hat sogar diesen Einsatz in Frage gestellt."
Bert vergaß das Atmen.
"Das aber nur für den Fall, dass wir unsere Ressourcen noch weiter strecken müssen", fuhr Karola fort. "Und solange deine Gefährdungsstufe nicht runtergesetzt wird, wird man eine Schutzlösung für dich finden. Allerdings kannst du dann unter Umständen nicht mehr in die Universität gehen, sondern musst dich an einen geschützten Ort zurückziehen."
Bert schwankte ein wenig. Der Boden unter seinen Füßen schien nicht mehr ganz fest.
"Vorerst ändert sich nichts", fügte Karola hinzu.
Bert holte tief Luft. "Okay", sagte er. Daran konnte er sich festhalten.
👩💼
Am nächsten Morgen hieß es mal wieder auschecken; Hotelwechsel.
Der dünne Mann hielt Wache während Karola die Formalien erledigte und Bert einfach dastand, wartete und Stiftkunststücke machte. Er war langsam halbwegs gut darin.
"Wenn Sie bitte noch hier unterschreiben würden", sagte die Dame an der Rezeption.
Karola versuchte es.
"Schreibt der Stift nicht?", fragte die Dame. "Moment, ich gebe Ihnen..." Sie blickte sich suchend um. "Da hat doch wieder irgendwer... Warten Sie, ich hole eben..."
Bert blickte auf seine Hand. Er stoppte seine Finger und hielt Karola seinen Kuli hin.
"Danke, ich hab schon", sagte Karola und nahm Berts Kuli.
"Ah, das ist sehr... Ich danke Ihnen. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Aufenthalt und wir können Sie wieder einmal bei uns...?"
"Ja, danke", sagte Karola und gab dem dünnen Mann ein Zeichen. Der ging vor, durch den Hinterausgang zum Parkplatz, mit den Koffern. Bert blieb stehen. Er kannte die Routine ja: Der dünne Mann bekam ein paar Minuten Vorsprung zum Einladen und den Wagen startklar machen, dann konnte er direkt einsteigen und es ging los. Kein ganz ideales Vorgehen, aber der Personalmangel... Wie viele Male hatten sie das jetzt schon gemacht?
"Komm", sagte Karola.
Bert schreckte auf und setzte sich in Bewegung. Karola öffnete die Tür, dann ging er wieder vor, wie immer. Der Hotelparkplatz war im Innenhof; es gab nur diesen Zugang und die Ein- und Ausfahrt. Kein sicherer Ort, aber ein relativ sicheres Gelände. Obwohl der Hof recht schattig war, schaffte es ein von einem Fenster reflektierter Sonnenstrahl, Bert zu blenden. Karola musste ihn sanft zur Seite schieben, als ein Mann ihnen entgegenkam. Bert blickte nach hinten, um dem Licht zu entgehen. Selbst von hinten konnte man den wilden, schwarzen Rauschebart des Mannes sehen. Und an der Hand, mit der er nach der Tür griff, fehlten ein paar Finger.
Er hatte einiges verloren, wurde Bert klar, aber zumindest war er bisher körperlich unbeschadet geblieben; seine Finger waren noch alle da. Aber etwas fehlte doch. Er fasste in die Innentasche. Er probierte die anderen Taschen.
Der Kuli war nicht da.
"Warte", sagte er zu Karola. "Ich hab was vergessen."
"Was Wichtiges?", fragte Karola.
Bert zögert. "Ja", log er. Oder war es nicht gelogen?
"Dann schnell", sagte Karola und deutete zur Tür.
Kaum hatte Bert sich umgedreht, ertönte ein gewaltiger Knall; eine riesige Faust boxte ihn in den Rücken und warf ihn um.
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