Kapitel 6: Recruiting
"Sehr schön", sagte Bert zu Frau Koch, während ringsum alle einpackten und aufbrachen.
Die Antwort war nur ein knappes Nicken. Keine Frau vieler Worte; ihr Vortrag war ebenfalls knapp und präzise gewesen. Bert mochte das. Er hoffte sehr, dass sie ihre schriftliche Ausarbeitung genauso gestalten würde.
Die Diskussion war auch nicht lang gewesen; der Vortrag hatte wenige Fragen offen gelassen. Herr Kasper hatte keinen Mucks mehr gemacht, nachdem Frau Koch Rumpelstilzchens Sich-in-den-Bogen-Stampfen mit ihrem Fuß untermalt und Kasper dabei angesehen hatte.
Bert machte sich noch schnell eine Notiz und stand auf. Da bemerkte er erst, dass Frau Koch und eine weitere Studentin vor ihm standen und warteten. Ein Busch lockiger Haare, hochgewachsen, das Gegenteil von Frau Koch, aber immer in ihrer Nähe... Frau Bohn, genau; Thema Rapunzel.
"Ähm, haben Sie noch Fragen?", sagte er.
"Ja", sagte Frau Bohn und grinste verlegen, "allerdings an Ihre Kusine."
"Oh", sagte Bert. Er war sich nicht sicher, ob das in Ordnung war, aber Karola würde das selbst regeln.
"Ich find das sooo toll", sagte Frau Bohn mit begeisterter Miene zu Karola. "Das ist doch bestimmt voll schwer, Personenschützerin zu werden, oder? Da muss man doch bestimmt viel für können!"
"In erster Linie muss man fit sein", sagte Karola. "Sich in Topform halten. Wenn einem das liegt, ist das aber nicht so schwer."
"Ich müsste mich da schon ganz schön anstrengen", sagte Frau Bohn und zeigte lachend ihre Armmuskeln.
Gar nicht so schlecht, dachte Bert. Wahrscheinlich würde er beim Armdrücken unterliegen. Natürlich nichts im Vergleich zu Frau Koch.
"Nützt alles nichts, wenn man die Mindestgröße nicht erreicht", sagte die.
"Stimmt leider", sagte Karola. "Ich habe aber gehört, die Regel soll endlich gekippt werden, um mehr Spezialistentum zuzulassen. Eigentlich haben die in erster Linie IT-Spezialisten im Blick, aber wenn die Hürde fällt, kann man im Prinzip in jede Verwendung."
"Personenschützer müssen also nicht groß sein?", fragte Bohn.
"Es kann von Vorteil sein, wenn man eine gewisse Körpergröße hat", sagte Karola. "Wenn jemand zwei Meter hoch und zwei Meter breit ist, kann man das schon mal zur Abschreckung einsetzen. Aber wir bevorzugen es eigentlich unauffällig, und da ist geringere Größe natürlich vorteilhafter."
"Aber..." Frau Bohn schaute verschwörerisch und senkte die Stimme. "Muss man sich nicht im Notfall einer Kugel in den Weg werfen?"
"Und die würde einem über den Kopf fliegen, wenn man zu klein ist?", fragte Karola. War da ein amüsierter Unterton in ihrer Stimme? "Das wäre realistisch gesehen wohl kein wesentliches Problem. Außerdem besteht der Großteil unserer Arbeit darin, dafür zu sorgen, dass es nicht so weit kommt. Schon aus eigenem Interesse."
"Natürlich, klar", sagte Frau Bohn und lachte. Frau Koch lachte nicht und sagte nichts, hörte aber intensiv zu.
"Was muss man denn sonst noch so können? Bestimmt super schießen?", fragte Frau Bohn.
"Das auch", sagte Karola. "Und Erste Hilfe."
"Erste Hilfe?" Frau Bohn machte große Augen.
"Man kann nicht immer alles von der Schutzperson abhalten", sagte Karola. "Und manchmal passieren auch dumme Unfälle, wie bei anderen Menschen auch."
"Ja, sicher", sagte Frau Bohn und lachte wieder. "Mir bestimmt. Hey", sagte sie und stupste Frau Koch an, "ich könnte da mal einen guten Kurs gebrauchen. Der vom Führerschein war nicht so dolle. Wie ist's mit dir?"
"Können wir machen", sagte Frau Koch, wandte den Blick aber nicht von Karola ab.
"Wenn Interesse besteht", sagte Karola und sah dabei Frau Koch in die Augen, "online sind alle Informationen zum Bewerbungsverfahren leicht zu finden. Änderungen an den Einstiegsvoraussetzungen werden da auch immer sofort veröffentlicht."
"Wir schauen auf jeden Fall mal", sagte Frau Bohn. "Danke schön!"
Frau Koch nickte. "Danke", sagte sie, dann gingen die beiden hinaus.
Bert sah Karola an. "Gehört Recruiting auch zu deinen Aufgaben?"
"Das war eher ein bisschen Öffentlichkeitsarbeit. Die gehört allgemein zum Polizeidienst dazu."
"Na dann – Pflicht erfüllt. Gehen wir?"
Karola nickte.
Irgendwie konnte Bert sich Frau Koch schon als Personenschützerin vorstellen.
👩💼
"Du!" Ein athletischer Typ im Anzug kam den Gang zum Seminarraum herangeschritten, den Zeigefinger wie eine Waffe nach vorn gestreckt, auf Bert zielend.
Bert blieb stehen.
Der Mann schritt ungebremst weiter, als wollte er Bert mit seinem Schwung aufspießen. Keine drei Schritte entfernt hob er auch den anderen Arm, wie ein Fechter.
Karola schoss von hinten an Bert vorbei.
"Nein!", brachte Bert heraus.
Ein paar schnelle Bewegungen, dann lag der Mann auf dem Boden und Karola stürzte auf Bert zu.
"Stopp!", rief Bert und hob die Hände. "Freund! Freund!"
Karola drückte trotzdem, gegen Berts chancenlosen Widerstand, seinen Kopf runter, schob ihn ein Stück weiter und griff gleichzeitig in ihr Jackett.
"Stopp!", rief Bert noch einmal. "Das ist ein Freund!"
Karola blieb stehen und sah sich um. Wenn sie dasselbe sah wie Bert, dann waren das sehr verschreckte Studenten und ein sehr verblüffter Mann, der reglos auf dem Rücken lag.
"Georg", rief Bert, "alles okay?"
"Au", sagte Georg. Es klang nicht nach einer ernsthaften Verletzung.
"Dürfte ich dich darum bitten", sagte Bert, "solche Aktionen zu unterlassen, während meine Kusine mit mir Personenschutzmaßnahmen erprobt?"
Georg kam ächzend ein Stück hoch und sah Bert und Karola an. "Die Bitte kommt ein bisschen spät", sagte er. "Aber ja, ich sehe gute Gründe, ihr zukünftig Folge zu leisten. Darf ich dann auch wieder aufstehen?"
"Ja", sagte Karola. "Aber langsam, bitte."
"Kein Problem", sagte Georg und rappelte sich mühsam hoch. "Bert, was ich sagen wollte: Was hast du denn angestellt! Ich meine..." Er sah sich um, nahm die immer noch verschreckten Zuschauer wahr. "Du weißt schon", fuhr er fort.
"Nein, weiß nicht ich nicht", sagte Bert. Dann wandte er sich an die Umstehenden – unter anderem auch Frau Koch und Frau Bohn. "Alles gut", wiederholte er. "Das ist nur eine Übung. Bitte gehen Sie weiter, es gibt nichts zu sehen!"
Georg lachte auf. "Jedenfalls kein brennendes Haus, aus dem Leute springen. Nur ein bisschen zerknitterten Stolz."
"Entschuldigung", sagte Karola.
"Keine Ursache", sagte Georg. "Ich bin sehr beeindruckt. Das nächste Mal aber gerne auf einer Matte." Er rieb sich Schulter und Hinterkopf.
Bert war immer noch den Studenten zugewandt, die zögernd tatsächlich weitergingen.
"Wow", sagte Bohn. Sie hob den Daumen, dann wandte sie sich mit Koch zum Gehen.
Georg streckte Karola die Hand hin. "Georg Müllenhoff."
Karola sah sich noch einmal um, ergriff dann vorsichtig die Hand. "Karola Kunz."
"Wie wär's mit einem Kaffee auf den Schreck?", fragte Bert.
"Gute Idee", sagte Georg. "Automat? Ich lade ein."
"Kaffee ist gut", sagte Karola. "Aber ich zahle selbst."
"Das wird schwierig", sagte Georg. "Man kann nur mit Unicard bezahlen, damit keine Außenstehenden auf ein Heißgetränk hereinschneien und der umliegenden Gastronomie das Geschäft entgeht. Dafür ist der Kaffee auch besonders schlecht."
"Dann verzichte ich", sage Karola.
"Ich frage Frau Sauer, ob wir bei ihr einen Kaffee bekommen", sagte Bert, "und wir trinken bei mir. Ist das okay?"
Karola warf einen prüfenden Blick auf Georg.
Der hob die Hände. "Ich benehme mich, Ehrenwort! Vor allem, wenn Bert guten Kaffee besorgt!"
"Na schön", sagte Karola.
Zehn Minuten später saßen sie in Berts Büro, jeder mit einem sehr unterschiedlichen Becher voll Kaffee. Es handelte sich um Frau Sauers eigenen Vorrat an Bechern, aus denen sie abgezweigten Chef-Kaffee trank. Sie war nicht begeistert gewesen, Georg einen zu geben, aber als sie hörte, dass Karola ihn unsanft auf den Boden befördert hatte, wollte sie "mal nicht so sein". Ihr böses Grinsen ging Bert nicht aus dem Kopf. Er hatte nie verstanden, warum Frau Sauer Georg so wenig mochte.
"Tja", sagte Georg und sah auf Markus Schreibtisch. "Markus ist 'plötzlich und unerwartet verstorben', wie es offiziell heißt. Und ausgerechnet an dem Abend, an dem ihr beide zu der Party wolltet. Und jetzt gibt es auf einmal diesen Modellversuch mit dir als Versuchsperson. Und du – darf ich 'du' sagen?", frage er Karola.
Karola nickte.
"Du bist seine Kusine? Ihr seid euch jetzt nicht wirklich ähnlich – außer in eurer betont lebhaften Art vielleicht."
Karola und Bert sahen ihn einfach nur an.
"Okay, schon gut, vergesst es. Auf jeden Fall bist du jetzt hier, um ihn zu beschützen, quasi als Forschungsprojekt, 'Beschützung eines Akademikers unter besonderer Berücksichtigung des universitären Umfelds'?"
"Ganz genau", sagte Karola.
"Hah!", sagte Georg und nahm einen Schluck. "Und vor was für bösen Buben beschützt du Bert? Drittes Kalifat? Neo-RAF? Clan-Kriminelle?"
"Vor allen, die sich verdächtig verhalten", sagte Karola. "Zum Beispiel, indem sie drohend auf Bert zustürmen."
"Touché", sagte Georg. "Versteh schon, alle sind verdächtig, man kann nicht vorsichtig genug sein. Na gut." Er stand auf. "Ich muss weiter. Dann bleib weiterhin so wachsam, Karola. Nicht, dass das Seminar noch so einen Schlag verkraften muss. Danke für den Kaffee! Bringst du den Becher für mich zurück? Wir sehen uns."
Karola begleitete ihn zur Tür, sah sich noch einmal im Gang um und schloss ab. Sie blickte aufs Handy, dann setzte sie sich wieder. "Das ist ja 'ne Marke", sagte sie.
"Georg? Ja, der ist schon ein bisschen eigen."
"Ist dir etwas aufgefallen?"
"Außer, dass er uns aushorchen wollte? Ich hoffe, ich habe nichts verraten, was ich für mich behalten sollte."
Karola schüttelte den Kopf. "Nein, alles gut. Aber hast du gemerkt, wen er nicht als Verdächtige genannt hat?"
Bert überlegte kurz. "Keine Gruppierungen aus dem rechten Lager. Nur böse Ausländer und Linksextremisten." Er blickte in seinen leeren Kaffeebecher. "Verdammt."
"Das muss nicht viel bedeuten", sagte Karola. "Was hast du jetzt noch auf dem Plan?"
Bert hob seinen Becher. "Die hier zurückbringen. Nach Post schauen. Noch zwei Bücher aus der Bib holen. Dann können wir nach Hause. Oh, ich sollte einkaufen. Das geht doch, oder?"
"Klar", sagte Karola. "Du wolltest doch bestimmt schon immer mal alle Supermärkte der Stadt kennenlernen?"
Bert stöhnte.
👩💼
Bert saß auf dem Sofa im Wohnzimmer und ließ die Hiobsbotschaften aus aller Welt auf sich einprasseln: Bürgerkriege, Naturkatastrophen, blutige Niederschlagung von friedlichen Protesten gegen Diktatoren, Austritte aus Schutz-Abkommen. Immer wieder Bilder von Frauen, die weinend, warnend, wütend vor die Kameras traten. War das Zufall?
Plötzlich holte eine Nachricht ihn aus der großen, weiten Welt direkt nach Hause.
"Der Vorstand der Partei der Rechten Ordnung, PRO, erhob in einem offenen Brief an das Innenministerium schwere Vorwürfe gegen die Ermittlungsbehörden wegen der Festnahme von Harald Brun, einem der Spitzenkandidaten der Partei. Die Festnahme erfolgte im Zusammenhang mit der Ermordung zweier Personen, darunter Else Möller, bis vor kurzem ebenfalls Spitzenkandidatin der Partei. Die Vorwürfe gegen Brun seien haltlos, so der Vorstand der PRO, die Beweislage gegen einen weiteren Verdächtigen dagegen erdrückend. Das Innenministerium lehnte eine Stellungnahme mit Hinweis auf die laufenden Ermittlungen ab."
Einen weiteren Verdächtigen? Wer, bitte schön? Wollte Brun die Tat auf seine Komplizen abwälzen? Nun, wenn er der Polizei dafür die Namen nannte, war für Bert sogar etwas dabei gewonnen.
Es sei denn... Bert lief ein Schauer über den Rücken. Es sei denn, sie waren so dreist, ihn zu beschuldigen. Drei Aussagen gegen eine.
Er warf Karola, die die Nachrichten vom Sessel aus verfolgte, einen panischen Blick zu.
Die sah ungerührt zurück, wie immer. "Wenn du irgendwelche Fragen zu den Ermittlungen hast: Ich kann sie dir nicht beantworten. Ich bekomme die Informationen nicht, es sei denn, sie betreffen die Gefährdungslage."
"Und... du hast keine neuen Informationen zur Gefährdungslage?", fragte Bert.
"Wenn wir die Maßnahmen verschärfen müssen oder runterfahren können, wirst du es zeitnah erfahren."
Das klang nicht sehr beruhigend.
Bert ließ noch desinteressiert den Sport über sich ergehen, dann kam das Wetter: kühle Temperaturen, wechselnde Winde, Nieselregen.
Er schaltete den Apparat ab. Sein Gehirn projizierte gesehene und ungesehene Schreckensbilder auf die schwarze Fläche. Er lenkte seinen Blick stattdessen auf das bunte Durcheinander seines Bücherregals.
"Du hast eine Menge Bücher hier", sagte Karola. "Reichen die in der Bibliothek nicht?"
"Eigentlich schon", sagte Bert. "Es ist aber praktisch, einige Standardwerke auch zu Hause zu haben. Es sind auch ein paar Einsteigerwerke dabei; die habe ich noch aus dem Studium."
"Und die ganzen Märchenbücher, das ist dein Forschungsmaterial?"
Er schmunzelte. "Nicht ganz. Die habe ich als Kind bekommen. Sie haben mich sicher auch zu meinem jetzigen Forschungsthema gebracht, aber da brauche ich dann meist historische und wissenschaftliche Ausgaben." Offenbar dachte Karola, er würde nur für die Wissenschaft leben. Wenn sie seine Sammlung von Science-Fiction-Filmklassikern im Schrank sehen könnte...
"Hast du was dagegen, wenn ich ein paar Bücher lese?"
Seine Augenbrauen schnellten unwillkürlich nach oben. "Märchen?"
Sie wandte den Blick zu ihm. "Ja. Oder auch Einsteigerwerke."
Berts Hand ruderte vage einladend Richtung Regal. "Bitte, bedien dich."
"Danke. Kannst du etwas für Anfänger empfehlen?"
Bert stutzte, dann stand er auf, ging zum Regal, orientierte sich kurz, zog drei Bücher heraus. "Die hier wären wirklich der allererste Einstieg. Das hier ist sogar eine Einführung von der Fachschaft, für Erstsemester; nicht mehr ganz aktuell, fürchte ich."
"Danke", sagte Karola, nahm die Bücher entgegen und studierte Titel- und Rückseiten.
Bert beobachtete sie verblüfft. Was hatte das zu bedeuten?
👩💼
Der nächste Tag verlief sehr unspektakulär. Bert hatte keine Veranstaltungen oder sonstige Pflichttermine an der Uni, also blieb er im Arbeitszimmer. Zu Mittag gab es Essen vom Lieferdienst; chinesisch. Am "sicheren Ort" aß Karola sogar mit. Auf dem Weg zurück zum Schreibtisch warf Bert einen Blick ins Wohnzimmer. Da lag tatsächlich eins der Einführungswerke aufgeschlagen auf dem Couchtisch. Erstaunlich.
Als Berts bald darauf mit dem dringend nachfüllbedürftigen Kaffeebecher in der Hand in den Flur trat, landete Karolas Tasche vor seinen Füßen. Verdattert sah er sie an.
"Gut, dass du sowieso gerade rauskommst", sagte Karola.
"Du gehst?", fragte er.
"Ja. Meine Ablösung müsste jeden Moment hier sein."
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