Kapitel 5: Deeskalation
Bert sprach seine üblichen Schlussworte, klappte das Manuskript zu und atmete tief durch. Die Vorlesungsteilnehmer waren bereits auf dem Weg nach draußen. Auf der positiven Seite war zu vermelden, dass er seinen Text ganz gut herausbekommen hatte, und dass niemand versucht hatte, ihn zu töten. Auf der negativen Seite war Herr Melcher heute da.
Herr Melcher war Gaststudent, Teilnehmer am Programm "Studium im Alter". Die meisten Leute, die dieses Bildungsangebot für Menschen im "mittleren und höheren Erwachsenenalter" wahrnahmen, waren freundlich und unauffällig, stellten nach der Vorlesung gelegentlich mal eine interessante Frage.
Herr Melcher war fordernd und aufdringlich. Er hatte keine Fragen, er hatte Feststellungen, die praktisch Korrekturen waren, zu Berts Ausführungen im Speziellen und der Erzähl-Forschung der letzten 50 Jahre im Allgemeinen.
Und jetzt kam er auf Bert zu. Unausweichlich.
Bert wappnete sich. Nicht aufregen, möglichst wenig sagen, unverbindlich bleiben. Und hoffen.
Herr Melcher war fast auf Gesprächsreichweite, als plötzlich Karola zwischen ihm und Bert stand.
"Haben Sie noch ein Anliegen?", fragte sie.
"Das habe ich in der Tat, junge Dame. Entschuldigen Sie, ich glaube, wir kennen uns noch nicht. Melcher ist mein Name."
"Kunz, angenehm. Ich unterstütze Dr. Hinz bis auf Weiteres. Wir müssen heute direkt weiter. Können wir Ihr Anliegen bis zum nächsten Termin zurückstellen? Sie können sich sonst auch gerne schriftlich an uns wenden und wir beantworten Ihre Anfrage so schnell wie möglich."
"Ähm, ja. Ja, das geht natürlich. Vielleicht schreibe ich das Wichtigste auf und schicke es, oder bringe es das nächste Mal mit?"
"Sehr gerne", sagte Karola.
"Danke, sehr freundlich. Einen guten Tag wünsche ich noch." Und damit ging Herr Melcher einfach.
Bert war wie vom Donner gerührt. "Wie hast du das gemacht?", fragte er, sobald Melcher zur Tür hinaus war.
"Du warst dabei, du hast es gesehen und gehört", sagte Karola.
"Ja, aber – wieso hat es funktioniert? Der Mann ist durch nichts zu bremsen; der redet Koryphäen in Grund und Boden!"
"Deeskalationstraining", sagte Karola. "Konfrontationen vermeiden, Gefährdungssituationen gar nicht erst entstehen lassen. Frauen sind da angeblich besser drin als Männer. Aber er wollte nur reden? Du hast ausgesehen, als ob du mindestens eine Attacke mit faulen Eiern erwartet hättest."
"Mit verbalen faulen Eiern!"
"Gehen wir?", fragte Karola. "Bevor er noch zurückkommt?"
Bert nickte eifrig.
👩💼
Zurück im Büro ließ Bert sich auf seinen Bürostuhl plumpsen und knallte das Skript auf den Tisch. Am sicheren Ort.
"Das war doch easy", sagte Karola.
"Findest du?", fragte Bert.
"Es war nicht übermäßig voll, und das Publikum in deiner Vorlesung entspricht zum Großteil absolut gar nicht dem Gefährderbild."
"Du kannst die Bosheit an der Stirn ablesen?"
"Nicht wirklich, aber in diesem Fall können wir Frauen als Bedroher weitgehend ausschließen, ebenso Männer, die deutlich vom traditionellen Weltbild der 'Rechten Ordnung' abweichen."
"Und woran machst du sowas fest?"
"Ein bärtiger Student hatte ein Kleid an."
Bert stutzte. Ja, das stimmte; am Anfang des Semesters war ihm der auch noch aufgefallen.
"So", ergänzte Karola, "würde ein PRO-Anhänger nicht einmal zur Tarnung herumlaufen."
"Ist das nicht ein bisschen zu einfach gedacht?"
"So einfach ist es nicht wirklich", sagte Karola. "Aber zusammen mit dem Verhalten der Person kann man das Risiko einstufen. Und hier ist es sehr niedrig."
"Na, das ist doch beruhigend", sagte Bert.
"Im Hörsaal haben wir auch eine vorteilhafte Situation: Wir stehen, alle anderen sitzen. Wir sind beweglich, ein Angreifer müsste erst einmal Bewegungsfreiheit gewinnen."
Bert schluckte. "Dir ist schon klar, dass ich auch noch Seminare gebe, in Seminarräumen, in denen ich dann auch sitze?"
"Ist auf dem Plan", sagte Karola. "Da haben wir es dann aber auch mit einer kleinen, namentlich bekannten Teilnehmerzahl zu tun. Alle sind schon länger dabei, es kann sich also keiner mehr einschleusen für den alleinigen Zweck, dich anzugreifen."
"Das stimmt", sagte Bert. "Aber..."
"Kein aber. Wir haben das Szenario im Griff. Konzentriere du dich darauf, dass sich der Aufwand lohnt – für deine Studenten. Musst du noch was vorbereiten?"
"Ähm – heute sollte ich vielleicht mal meine Notizen durchgehen, damit ich nachher mehr bei der Sache bin."
"Tu das", sagte Karola.
Bert nickte und holte die Notizen heraus. Eigentlich war das nicht wirklich nötig. Das Seminar ging über sein ureigenstes Thema, "Adstrate in volkstümlichen deutschsprachigen Erzählungen des 19. Jahrhunderts"; er hatte alles im Kopf und konnte notfalls improvisieren. Nur wer wann mit welchem Referatsthema dran war, das wussten manchmal die betroffenen Studenten selber nicht. Heute war das Thema... Dornröschen? Nein, das war doch schon letztes Mal dran gewesen. Dann jetzt Rotkäppchen? Nein, das war ganz sicher nächste Woche. Dann war heute... Bert blätterte, bis er den aktuellen Plan mit den vielen handschriftlichen Änderungen fand. Heute war der... Dann wäre dran... Oh. Ausgerechnet.
Sein Bauch fühlte sich schon ziemlich leer an, nach der Aufregung.
"Karola?", fragte er.
"Ja?"
"Das Seminar ist erst nach dem Mittag. Wie halten wir es mit dem Essen? Ich gehe immer in die Mensa."
Sie schüttelte den Kopf. "Ab jetzt nicht mehr. Die Mensa ist zu unübersichtlich; solche Orte sollten wir grundsätzlich meiden. Noch kritischer ist das Stichwort 'immer'. Feste Gewohnheiten, feste Wege – das macht es Angreifern viel zu leicht."
"Okay", sagte Bert. "Was machen wir dann?"
Karola checkte kurz ihr Handy. "Hast du schon mal nepalesisch gegessen?"
👩💼
Bert setzte sich an den Tisch, den Karola ausgesucht hatte, und sah sich um. Das Restaurant war eher klein und, nach einem unfachmännischen Urteil, vage asiatisch dekoriert – authentisch kitschig. Sehr authentisch war auch die Speisekarte. Die Namen der Gerichte sagten Bert gar nichts. Die angedeuteten Erklärungen in Deutsch waren unfreiwillig komisch, trugen aber nicht viel zur Erhellung bei.
"Was nimmst du?", fragte er Karola.
"Nichts", sagte sie. "Ich passe auf."
"Oh." Das war ihm etwas peinlich. Karola etwas vorzuessen war nicht sein Plan gewesen. Jetzt einfach wieder zu gehen wäre auch peinlich, besonders, nachdem sie extra hierhergefahren waren. Er musste da jetzt durch. "Kennst du dich aus? Kannst du mir etwas empfehlen?"
Sie tippte auf ein Gericht. "Versuch das."
Er sah sich den Eintrag an. Wenn es irgendetwas Schlimmes war, konnte er das nicht erkennen. "Gut, dann nehme ich das. Danke."
Er bestellte; dass Karola nichts nahm, wurde verwundert aber höflich akzeptiert.
Als das Gericht ankam, war Bert immer noch nicht schlauer. Es war vor allem... gelb. Currysauce? Extra scharf? Die Bedienung würde auf Nachfrage mit Sicherheit beteuern, es sei gar nicht scharf, wie damals in dem... Was war das noch für ein Restaurant gewesen, ein indonesisches?
Ein vorsichtiger erster Bissen, das Gefühl von, oh, doch reichlich würzig, dann die erste Schärfe, dann mehr, viel mehr Schärfe, Tränen in den Augen, Rufe nach Milch...
"Zu heiß?", fragte Karola.
Berts Blick fokussierte wieder, zeigte ihm den unberührten Teller. "Ich... probier mal." Er fischte mit der Gabel ein mundgerechtes Stück irgendwas aus dem Gelb, pustete sicherheitshalber noch einmal, dann nahm er es in den Mund, kaute. Mild, es war sehr mild. Nach dem Schlucken auch noch. "Geht schon. Und schmeckt gut."
Karola nickte nur.
"Isst du sowas regelmäßig?", fragte er.
"Nein", sagte sie. "Regelmäßigkeit ist für mich von Berufs wegen nicht gut. Und ich mag Abwechslung."
Er aß nachdenklich weiter. Abwechslung. Er war nicht völlig dagegen, aber Regelmäßigkeit war ihm lieber. Das war jetzt gerade schlecht; er musste weniger berechenbar sein. Hoffentlich wurde das nicht allzu extrem; er wollte schließlich kein anderer Mensch werden.
"Ich brauche von dir eine Liste der Orte, die du gerne besuchst, die du aber nicht besuchen musst", sagte Karola.
"Wozu?", fragte Bert. "Ich meine, ich kann mir denken, dass ich da bis auf Weiteres nicht mehr hingehen sollte, aber das weiß ich ja jetzt und kann es einfach lassen."
"Damit wir auf dem Schirm haben, dass es sich um einen riskanten Ort handelt, wenn wir doch einmal dort landen."
Bert wollte fragen, wie das passieren sollte, aber er musste sich eingestehen, dass er ein Gewohnheitsmensch war. Vielleicht würde er doch mal einen Ort ansteuern, ohne darüber nachzudenken. "Okay", sagte er. "Du meinst sowas wie den Germanisten-Stammtisch?"
"Gutes Beispiel", sagte sie. "Der findet wahrscheinlich in einer Kneipe statt?"
"Ja, im 'Grünen Haus'."
"Notiert", sagte Karola. "Die Adresse suche ich raus. Weiter?"
"Zählen auch Parks und sowas?"
"Klar."
"Okay, dann der Ostpark, bei mir um die Ecke; da gehe ich manchmal hin. Lieber ist mir aber der kleine Wald, ein bisschen weiter weg."
"Hat der einen Namen?"
"Igelbusch, glaube ich. Und hinter dem Wald die alte Fabrik."
"Ist das ein Kulturzentrum?"
"Nein, das ist einfach nur ein altes Fabrikgebäude. Steht leer. Eine Ruine, quasi, aber ich finde sie schön. Da kommt außer mir keiner hin."
"Okay, ich schau auf der Karte", sagte Karola. "Und sonst? Sport? Schwimmen?"
"Äh – außer Fahrradfahren zur Arbeit und fast überall sonst hin..."
"Lieblingsläden?"
"Die Buchhandlung 'Fundgrube'. Sonst nichts Besonderes. Wenn ich was kaufe, dann im Supermarkt bei mir um die Ecke, oder in einem der beiden Kaufhäuser in der Stadt."
"Da werden sich andere Läden finden", sagte Karola. "Stammfriseur?"
Bert sah sie geschockt an. "Ich muss zu einem anderen Friseur gehen?"
Karola zog die Augenbraue hoch und wartete auf den Namen.
👩💼
Bert blickte in die Runde der Seminarteilnehmer und versuchte, sich zu sammeln. "Ich habe heute einen Gast mitgebracht", sagte er. "Das ist Karola Kunz. Karola ist Polizistin. Sie erprobt gerade in einem Modellversuch Personenschutz für Universitätsmitarbeiter, und ich bin die Testperson. Was die Sache etwas netter macht ist, dass sie auch meine Kusine ist. Also, nicht dass Sie glauben, ich duze alle Polizisten."
Ein höfliches Gelächter hatte das schon verdient, fand Bert. Es gab aber nur ein paar Grinser. Das war er aber schon gewohnt; sein Humor kam selten bei den Studenten an. Ein Student allerdings, der sich selbst sehr witzig fand, kicherte übertrieben in sich hinein. Das war ungewöhnlich.
"Kunz!", prustete der Student plötzlich los. "Hinz und Kunz!"
"In der Tat", sagte Karola. "Pech und Schwefel wären sicherlich coolere Nachnamen für unsere Familie gewesen; hat aber nicht sollen sein."
Das kam besser an als Berts Scherz, musste er neidvoll zugeben. Dann sollte er aber wenigstens etwas Autorität zeigen. "Können wir dann fortfahren, Herr Kasper?"
"Kasper?", fragte Karola.
Bert stellten sich die Härchen auf. Würde Karola jetzt etwa kontern?
"Ja", sagte Kasper, "Maximilian Kasper. Oder einfach Max. Ich mag Polizisten mit Humor."
Die Studentin neben Kasper verdrehte tatsächlich die Augen.
"Schön", sagte Bert. "Aber wir sollten jetzt wirklich weitermachen. Am besten fangen wir sofort mit dem nächsten Referat an; wer war heute dran?"
Die Augenverdreherin hob die Hand. Richtig, Frau Koch. Kurze Haare, kurze Gestalt, Muskeln wie eine Kugelstoßerin; nicht ganz typisch für seine Studenten.
"Gut", sagte Bert, "und das Thema ist...?"
"Adstrate im Märchen Rumpelstilzchen", sagte Koch.
Herr Kasper ließ einen kieksigen Laut ertönen. "Hinz, Kunz, und... "Er konnte sich kaum noch beherrschen. "... Rumpelstilzchen?"
Ein Blick von Koch, und der Rest von Kaspers Lachanfall erstickte in seiner Kehle.
Beherrschte sie den Macht-Würgegriff?
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