Luanna
Genervt kaute ich auf dem Ende meines Stiftes herum. Diese Klausur war die Hölle höchstpersönlich. Ich hätte doch mehr lernen sollen, nun war es zu spät. Ich sah mich schon als einzige unserer Klasse durchrasseln. Nichts lief je so, wie ich es mir vorgenommen hatte. Es war als hätte sich alles und jeder gegen mich verschworen. Verstohlen ließ ich meinen Blick schweifen, meine Mitschüler waren alle fleißig am schreiben. Sogar Dave schien dieses Mal keinerlei Probleme zu haben. Tina spähte zu mir rüber und sah mich entsetzt an, nachdem sie von meinem leeren Blatt Kenntnis genommen hatte. Ich warf ihr einen verzweifelten Blick zu. Professor Mc Quinny saß an ihrem Pult und aß genüsslich ihre Trauben. Tina nahm leise ein zweites Blatt und begann in Windeseile zu schreiben. Erleichtert atmete ich aus, denn ich wusste sie würde mir erneut aus der Patsche helfen. Als Dave bemerkte, was Tina vorhatte, nickte er kaum merklich. Er nahm sein Blatt, stand auf und ging nach vorne.
„Professor Mc Quinny, Ich verstehe diese Frage nicht wirklich, könnten sie mir eventuell erörtern, wie genau sie das meinen?", fragte er höflich.
Mit einer Traube zwischen ihrem Daumen und ihrem Zeigefinger hielt sie inne. Ihr Blick flog aufmerksam über uns alle hinweg, ehe sie Dave anblickte.
„Was genau verstehen sie denn nicht Mr. Sloan?", flüsterte sie und blickte erneut durch den Klassensaal.
Dave gab uns unauffällig ein Handzeichen, ehe er zu sprechen begann. „Also hier, wollen sie das ich ihnen die Thematik des englischen Königshauses erörtere oder wollen sie, dass hier spezifisch nur über die Könige und Königinnen geschrieben wird?", zog er seine Frage in die Länge.
Was uns genügend Zeit verschaffte. Tina beugte sich so weit es ging zu meinem Tisch und ich ergriff blitzschnell das Blatt.
„Mr. Sloan, benötigen sie eine Brille? Hier steht doch die Thematik, also möchte ich bitte das Gesamtpaket.", entgegnete sie ihm und sah wachsam auf.
„Entschuldigen sie, dies habe ich wohl überlesen. Danke Professor Mc Quinny.", gab er verlegen zurück und wandte sich frech grinsend mir zu. Dankbar nickte ich kaum merklich.
Mein Blick zur Uhr verriet mir, dass ich mich besser sputen sollte. Also schrieb ich so schnell ich konnte. Natürlich war die Zeit nicht mehr ausreichend, doch es würde genügen um in Geschichte nicht durchzufallen. Unauffällig ließ ich das Blatt in meine geöffnete Tasche gleiten, als sich die Professorin von ihrem Stuhl erhob. Mein Herz schlug aufgeregt vor sich hin. Sie begann damit die Klausuren einzusammeln. Angespannt wartete ich auf das erlösende Läuten der Glocke. Ich schloss meine Tasche, grade als sie meine Arbeit entgegen nahm. Mit hochgezogener Braue sah sie mich an. Umgehend wusste ich auch warum. Mein restless leg Syndrom hatte erneut mein linkes Bein unter Kontrolle. Mir fiel dies jedoch nur auf, wenn ich darauf aufmerksam gemacht wurde. Mit erröteten Wangen stoppte ich mein Bein. Meine Handflächen glänzten mittlerweile von der Feuchtigkeit meines Schweißes. Ich trocknete sie an meinen Oberschenkeln, als endlich die Glocke ertönte. Erleichtert sprang ich auf und verließ fluchtartig unseren Klassensaal.
Tina schloss zu mir auf.
„Lu, war die Zeit ausreichend?! Warum hast du nicht gesagt, dass du nicht gelernt hast?!", fragte sie mich mit einem vorwurfsvollen Unterton in ihrer sanften Stimme. Ich zog meine Strickweste enger und Verschloss meine Arme vor meiner Brust.
„Danke Tina, wirklich. Du weißt doch, dass momentan bei mir alles drunter und drüber läuft. Ich war die letzten Wochen jeden Tag ehrenamtlich in der Baker Street tätig. Es wird genügen, um nicht durchzufallen.", antwortete ich ihr verlegen.
Sie und Dave wussten genau, das mir das wohl armer Menschen am Herzen lag. Immerhin hatte ich mich selbst aus ärmlichen Verhältnissen durchgeboxt. Mein Vater verschwand kurz nach meiner Geburt, was meine Mutter nie verkraftet hatte. Sie fing an zu trinken. Erst nur am Wochenende, doch ihre Eskapaden häuften sich. Sie verlor ihren Job und kam ihrer Aufsichtspflicht mit gegenüber nicht mehr nach. Was dazu führte, dass meine Kindheit mit grade mal zehn Jahren zu Ende war. Denn ich hatte einen Vollzeitjob, der mich gänzlich einnahm. Der Notarzt war Dauergast bei uns. Etliche Male zogen wir um und beinahe wäre ich in ein Heim gesteckt worden. Währen da nicht die Eltern von Tina eingeschritten. Vier Jahre wohnte ich bei ihnen, sie erzogen mich mehr oder weniger zu dem Mädchen, was ich heute war. Doch trotzdem konnte ich meine Mutter nicht im Stich lassen. Auch wenn sie mich so sehr verletzt hatte, liebte ich sie. Etliche Entzüge hatte sie hinter sich gebracht, doch sie verfiel immer wieder dem Alkohol. Mittlerweile war ich alt genug und durfte über mein Leben selbst bestimmen. Ich besaß nicht viel, aber es genügte. Ich war sogar ziemlich stolz auf meine Zweizimmerwohnung, mit meiner kleinen gemütlichen Terrasse. Deren Aussicht in einen der vielen Park's Londons gerichtet war. Es war zwar keiner der Parks, in denen man gerne den Tag verbrachte oder spazieren ging, aber mir gefiel es. Ich lebte eben in einem der vielen Armenvierteln, auch wenn ich mittlerweile etwas Geld gespart hatte. So wollte ich hier nicht weg. Es gab hunderte Kinder hier, denen es genauso erging wie mir und ich machte es mir zur Aufgabe, ihnen zu helfen. Natürlich wusste ich das meine schulischen Leistungen darunter litten, aber es war für mich eine Herzensangelegenheit.
„Luanna, du solltest dich wirklich mehr um dein Leben kümmern. Verstehe mich nicht falsch, ich finde es total gut, dass du dich für die Armen einsetzt. Aber dies wird dein Leben ruinieren, wenn du nur noch für andere lebst. Wann warst du das letzte Mal mit uns aus, hmm?", sprach sie vorsichtig weiter und riss mich so aus meinen Gedanken heraus. Sie wählte ihre Worte immer weise. „Du bist siebzehn und nicht die Mutter Theresa.", fügte Tina noch hinzu.
„Das weiß ich doch selbst, Tina. Ich werde etwas kürzer treten, versprochen. Du weißt doch, dass meine Mutter wieder rückfällig geworden ist. Ich muss abends nach ihr sehen, mein Vater hat sich wohl erneut bei ihr gemeldet.", entgegnete ich ihr zähneknirschend.
Der Hass meinem Erzeuger gegenüber war über die Jahre hinweg ins Unermessliche gewachsen. Sollte ich ihn je sehen, würde ich ihn umbringen. Das war so sicher wie das armen in der Kirche.
„Das verstehen wir, wirklich. Aber es wäre trotz allem schön, wenn du wenigstens hin und wieder etwas mit uns unternehmen würdest. Du entfernst dich immer weiter von uns.", antwortete sie bedauernd und sah mich mit ihren großen rehbraunen Augen traurig an.
Wenn sie mich so ansah, war es als stünde die kleine Sechsjährige Tina vor mir. Mit ihren braunen langen Locken und ihrem hübschen Gesicht mit den vollen Lippen. Augenrollend ließ ich meine Hände sinken.
„In Ordnung, schon gut. Ich werde sehen was sich machen lässt. Wenn Mum schläft, falls sie schläft, könnte ich mit euch auf die Piste gehen. Wäre garnicht mal so schlecht. Dann komme ich eventuell auch wieder auf andere Gedanken.", gab ich mich geschlagen, obwohl bereits jetzt schon mein schlechtes Gewissen an mir nagte.
Ihr Schmollmund verschwand augenblicklich und machte für ihr strahlendes lächeln Platz. Tina zupfte aufgeregt an ihrem grünen Top und warf ihre Locken nach hinten.
„Na endlich, Dave wird sich riesig freuen! Wir könnten ins Nightlife gehen, der neue Club in Paddington. Da soll es mega gut sein.", zwinkerte sie mir aufgeregt zu, während wir die Mensa erreicht hatten. Ich nickte gedankenverloren.
Dave saß bereits an unserem Tisch. Er war der Mädchenschwarm schlechthin. Ein richtiger Surfer boy. Blonde strubbelige Haare, wunderschöne grüne Augen, einen makellosen durchtrainierten Körper und braungebrannte Haut. Wobei mir das immer ein Rätsel war. Hier regnete es überwiegend. Jedes Mädchen wollte mit ihm zusammen sein, selbst Tina war eine zeit lang total verknallt in ihn gewesen. Nur ich nicht. Er sah wirklich gut aus, aber für mich war er einfach nur mein bester Freund. Auch wenn er sich mehr erhofft hatte. Denn im Gegenzug wollte er nur mich. Deshalb ließ er vier Jahre lang jedes Mädel abblitzen. Irgendwann gab er sich jedoch geschlagen. Mehr als meine Freundschaft, konnte und wollte ich ihm nicht geben. Ich hatte genug zu tun in meinem Leben, da blieb kein platz für komplizierte Liebesbeziehungen. Es war auch nichts was ich vermisste, denn ich hatte keinerlei Erfahrung darin. Jungs interessierten mich nicht wirklich, klar sah ich auch mal einem gut aussehenden Jungen Mann hinterher, jedoch war bisher niemand dabei gewesen der mich mein Leben überdenken ließ.
Als Dave uns erblickte, lächelte er uns erfreut zu.
„Lu hat es funktioniert? War die Zeit noch ausreichend genug?", fragte er und gab mir einen sanften Kuss auf meine Wange, während ich mich setzte.
„Natürlich, ich danke auch dir für deine Mission Impossible Aktion.", lachte ich und blickte auf sein gefülltes Tablett. Grinsend nickte er uns zu.
Natürlich hatte er für Tina und mich einen Salat gebunkert. Diese waren immer unglaublich schnell vergriffen. Was wohl daran lag, dass alle Mädels an unserer Schule wert auf ihre Figur legten. Ich hingegen war Vegetarier und Salat war hier in der Mensa das einzige ohne Fleisch.
„Stell dir vor Dave, Lu hat eingewilligt heute Abend mit uns auf Tour zu gehen!", gab Tina grinsend von sich. Was mich erneut mit den Augen rollen ließ.
„Moment, ich sagte falls meine Mum schläft. Also freut euch nicht zu früh.", gab ich schnell zurück.
„Das ist ja mal eine schöne Neuigkeit. Es wird auch mal wieder Zeit! Das letzte Mal ist ungefähr ein Jahr her. Soll ich dich abholen?", ging Dave nicht auf meinen Einwand ein.
„Ich schreibe dir, aber wenn ich mit gehe, dann ja.", nickte ich, während ich das Dressing über meinen Salat gab.
Es war mir lieber, wenn er mich abholte. Denn Abends war es in dem Viertel meiner Mutter, alles andere als sicher. Dort hausten Drogenabhängige und Kriminelle, weshalb ich meist bei ihr übernachtete, wenn ich nach ihr sah. Es war um einiges schlimmer als in meinem Viertel.
„Sagt, habt ihr etwas von Tommy gehört? Ist er wieder aufgetaucht?", fragte ich und schob mir die Gabel in den Mund.
Tommy war immer Teil unsere kleinen Clique gewesen. Er umgab sich jedoch öfter auch mit den falschen Leuten. Tommy trank plötzlich unglaublich viel und begann Drogen zu konsumieren. Hin und wieder verschwand er für mehrere Wochen, kam aber immer wieder zurück. Doch dieses Mal war er schon mehr als sechs Wochen verschwunden. Niemand hatte ihn gesehen. Was mir sorgen bereitete. Er reagierte auch nicht auf Anrufe oder Nachrichten, was für ihn nicht typisch war. Denn egal was er tat, er meldete sich sonst immer.
„Leider nein. Sein Vater hat wohl nun die Polizei eingeschaltet. Ich hoffe ihm ist nichts schlimmes geschehen.", gab mir Tina besorgt Antwort.
„Er hat bestimmt wieder sein Handy verloren. Tommy ist zäh, dass wisst ihr doch.", versuchte Dave uns zu beruhigen. Doch selbst er sah aus, als glaubte er seine eigenen Worte nicht.
„Er sollte endlich einen Entzug machen, er ist noch so jung.", sprach Tina weiter.
In der Mensa wurde es laut. Was meine Aufmerksamkeit erregte. Ich wandte mich um. Ein paar Jungs waren grade dabei, sich zu streiten. Einer davon war Nick, Tommy's Bruder. Er sah unglaublich wütend aus. Seine Hände waren zu Fäusten geballt. Wann war er so schlaksig geworden? Mein Helfersyndrom meldete sich unverzüglich. Tina und Dave warfen mir einen warnenden Blick zu. Sie kannten mich nur allzu gut. Das war mir jedoch egal, ich sprang auf und die beiden eilten mir nach.
„Hey! Nick was ist hier los?! Lasst ihn in Ruhe", keifte ich die beiden mir unbekannten Kerle an. Welche mich mit einem fiesen grinsen beäugten.
„Nichts Luanna, halte dich da raus.", zischte er mir entgegen und sah mich flehend an.
„Nein das werde ich nicht tun.", flüsterte ich ihm zu. „Ich sag es nur noch einmal, lasst ihn in Ruhe! Zwei gegen einen, das ist nicht fair. Dann seid ihr wohl stark was?! Verpisst euch.", wandte ich mich an die beiden. Während Dave mir zusätzlich den Rücken stärkte. Er war gut einen Kopf größer als die beiden.
„Sonst was?! Willst du uns vermöbeln?", lachte der Kerl mit den tiefen Augenringen, während der andere in sein Gelächter mit einstimmte. „Verschwinde lieber kleine, dies ist eine Nummer zu hoch für dich.", fügte er hinzu.
Um uns herum war es still geworden. Alle Augen waren auf uns gerichtet. Ich hatte mich noch nie geprügelt. Eigentlich hielt ich mich von Ärger fern. Doch ich konnte auch nicht Stillschweigend zusehen, wie Nick litt. Er hatte genug durch gemacht. Mein Herz raste derweil. Das Adrenalin verteilte sich rasend schnell in meinem Körper. Ich war wütend.
„Ihr habt sie gehört, lasst ihn in Ruhe. Geht nun lieber.", donnerte Dave und funkelte sie böse an.
Grinsend sahen sie uns entgegen. Der Kerl mit den Augenringen beugte sich zu mir herab. Er sog tief die Luft ein. „Du hättest dich besser heraus gehalten kleine. Das wirst du noch bereuen.", raunte er mir gefährlich drohend zu, zog sich zurück und wandte sich zum gehen um.
„Es ist noch nicht zu Ende Nick. Wir sehen uns.", lachte er und sie verließen die Mensa.
Ungläubig sah ich ihnen mit pochendem Herzen hinterher. Hatte dieser Kerl mir grade gedroht? Schnell wandte ich mich an Nick. Welcher noch immer mit geballten Fäusten und verbitterter Miene da stand und mich wütend anfunkelte.
„Geht es dir gut? Wer waren diese Typen?", fragte ich mit einem leichten vibrieren in meiner Stimme.
„Alles bestens Luanna. Du hättest dich nicht einmischen sollen.", presste er hervor.
„Gib auf dich acht.", zischte er und eilte davon.
Fassungslos blickte ich ihm nach. Auch Tina und Dave hatten Fragezeichen in ihren Augen. Was war hier grade geschehen? Kopfschüttelnd setzte ich mich mit weichen knien in Bewegung. Als wir unseren Tisch erreicht hatten, kehrte die Normalität in die Mensa zurück. Die Gespräche wurden wieder aufgenommen.
„Warum konntest du nicht einfach sitzen bleiben?", fragte Tina mich erschüttert.
„Na weil er Tommy's Bruder ist. Er hat derzeit genug um die Ohren. Außerdem waren sie zu zweit. Hast du ihn dir mal angesehen? Er ist unglaublich dünn geworden, er leidet. Ich konnte nicht anders.", flüsterte ich. Jedoch beschlich mich nun ein mulmiges Gefühl. Diese Kerle waren nicht von unserer Schule gewesen. Sie sahen deutlich älter aus. Auch Nick hatte gesagt, ich soll auf mich acht geben. Ich hoffte, ich geriet nun nicht in Schwierigkeiten.
„Das ist wirklich heldenhaft von dir. Aber was bitte hättest du ausrichten können?! Du wiegst was? Fünfzig Kilo?! Ehrlich Lu, dass war ziemlich dumm von dir.", rügte mich Dave.
Der Rest des Tages verlief relativ ruhig. Doch das mulmige Gefühl verschwand nicht, es blieb. Nach Schulschluss fuhr ich mit der U-Bahn zurück in meine Wohnung.
Wenn ich tatsächlich heute Abend ausgehen würde, benötigte ich etwas ausgehfähiges zum anziehen. Ich durchwühlte meinen Kleiderschrank und fand ein paar Pants, Ich kramte mein weißes top heraus. Es war ein weit ausgeschnittenes Top mit drei Knöpfen, welches am Oberrücken offen war. Ich packte meine Stiefel ein und meine schwarze Strickweste. Zufrieden nickte ich. Allmählich bekam ich sogar Lust auf diesen Abend, vorausgesetzt meine Mum spielte mit. Mein Make up musste ich erstmal aus den Tiefen meines Schrankes kramen. Es war schon eine Weile her, als ich mehr trug als nur Mascara. Ich versicherte mich, dass alle Fenster verschlossen waren und sperrte die Tür zu. Auf dem Weg zu Mum, kaufte ich noch Brot und etwas Käse ein. Sie hatte bestimmt wieder nichts zu Essen zuhause. In der U-Ban setzte ich meine Kopfhörer auf und lauschte meiner Musik, während ich in die Dunkelheit des Tunnels blickte.
Das war sie also, mein neuer Schützling. Luanna Garcia. Ein siebzehn jähriges Mädchen mit einer beschissenen Vorgeschichte. Sie war wirklich hübsch, auch wenn sie keinen Wert drauf legte. Ihre vollen Lippen, auf denen sie den ganzen Tag unbewusst knabberte, brachten bestimmt mehrere Jungs um den Verstand. Ihre wunderschönen großen Blauen Augen hatten schon so einiges gesehen. Trotz allem sahen sie nicht traurig aus, im Gegenteil sie strahlten wie die Sonne. Ihre schwarzen schulterlangen Haare säumten ihr wunderschönes Gesicht, obwohl ihre Haut viel zu blass war. Sie war nicht sonderlich groß, doch sie hatte heute wirkliche Größe gezeigt. Obwohl ich dies auch für dumm empfand. Sie hatte sich zwei Jungs entgegengestellt. Luanna half den schwachen. Eigentlich eine gute Eigenschaft, doch ihr Leben war dabei, auf die falsche Bahn zu schlittern. Denn diese jungen Männer waren kriminell. Dennoch verstand ich nicht, warum ihr Engel freiwillig sein Amt niederlegte. Ich nahm neben ihr Platz und sah sie mir aufmerksam an. Sie kaute erneut auf ihrer Lippe herum. Tat sie das weil sie nervös war? Dies würde ich die nächsten Tage herausfinden. Vorsichtig fühlte ich mich in sie hinein, in ihre Gedanken. Da war so einiges los. Luanna war hin und her gerissen. Sie machte sich bereits jetzt schon große Sorgen um ihre Mutter. Ob sie wieder getrunken hatte und ob es ihr gut ging. Ich musste ihre schlechten Gedanken aufbessern. „Es wird ihr schon gut gehen, ich bin ja gleich bei ihr.", setzte ich ihr in den Kopf. Was sie leicht nicken ließ. Zufrieden sah ich mich um. Ein weiterer Engel saß bei einem jungen Mann, er nickte mir zu, als dieser den stehenden Zug verließ. Auch Luanna bereitete sich nun für den Ausstieg vor. Ich folgte ihr auf schritt und tritt. Diese Gegend hier war unglaublich düster. Wie konnten Menschen nur so leben? Hier herrschte hohe Kriminalität. Ich konnte es deutlich fühlen. All diese Gedanken, der auf den Straßen rumlungernden Menschen. Dies war kein Ort, für ein junges Mädchen. Ich stellte hier auch eine große Aktivität der gefallenen Engel fest. Dieser Ort war regelrecht verseucht. Der dunkle Schimmer ihrer Aura haftete überall. Samael hatte recht. Hier war etwas in Gange. Auch wenn ich noch keinen von ihnen gesichtet hatte. Oder sie hatten gelernt ihr Dasein unter den Menschen gut zu verbergen? Luanna's Nervosität stieg, als wir East End erreichten. Aufmerksam blickte ich mich um. Ich erkannte ihn umgehend. Den Kerl, der ihr heute Morgen gedroht hatte. Seine Mundwinkel zuckten erfreut nach oben, als er sie sah. Doch Luanna nahm keine Notiz von ihm. Ihre Gedanken waren bereits in dem zerfallenen Haus, welches sich vor uns erstreckte. Ich ließ ihr mulmiges Gefühl erneut aufleben, was sie dazu brachte schneller zu gehen. Das war gut so. Der Kerl blieb jedoch an seiner Ecke stehen, er sah ihr nur nach. Was mich umgehend beruhigte.
Ich konnte nicht schon wieder einen Schützling verlieren. Schon garnicht gleich am ersten Tag, außerdem war sie noch so jung. Natürlich durften wir Engel einschreiten, wenn ein Leben in Gefahr war. Dies kam jedoch auf die Umstände an. So war es zum Beispiel unnötig, sich einem Menschen zu offenbaren, wenn sein Leben bereits gelebt war. Einem Menschen der bereits ein höheres Alter erreicht hatte und an der Flasche hing. Da half auch kein gutes Zureden mehr. Bei jüngeren jedoch, war dies eine Möglichkeit. Natürlich nicht, wenn es sich nur um Lappalien handelte. Das Leben des Menschen musste ernsthaft in Gefahr sein, dann und nur dann durfte ein Engel einschreiten und sich zeigen. Dies kam jedoch nur sehr selten vor. Da in den seltensten fällen Engel dazu bereit waren. Denn dies bedarf einer Erklärung dem Schöpfer gegenüber. Unter Umständen wurde man bei mangelnder Notwendigkeit den Himmeln verbannt. Daher kam dies auch für mich niemals in Frage. Ich mochte mein Engelsdasein.
Luanna blieb stehen und kramte in ihrer Tasche nach ihrem Schlüssel. Ihr Puls beschleunigte sich weiter, als sie die Tür zur Wohnung aufsperrte und uns ein säuerlicher Geruch entgegen schlug.
Entsetzt über das was ich hier sah, sog ich scharf die Luft ein. Müllberge stapelten sich in mitten des Flures und machten das vorankommen unmöglich. Sie ließ ihre Tasche fallen und rief nach ihr.
„Mum!? Mum!", rief ich ängstlich. Ich war nur vier Tage nicht bei ihr gewesen. Hier sah es aus wie auf einer Müllhalde. Ich vernahm ein leises wimmern und war umgehend etwas beruhigter. Also beschloss ich erst einmal, den Müll hinaus zubringen. Es machte mich unglaublich wütend, dass sie noch nicht einmal in der Lage war, eine Tüte mit hinunter zu nehmen. Tränen schossen mir in die Augen während ich sechsmal die Treppen hinauf und hinab stieg. In der Küche sah es ähnlich aus. Drei weitere Tüten voller Müll und verdorbener Lebensmittel füllte ich und brachte sie hinunter. Ich riss die Fenster auf und spülte ihr dreckiges Geschirr. Danach machte ich mich an ihr Bad. Als ich meine Wut unter Kontrolle hatte, ging ich in ihr Wohnzimmer. Ich zog den Laden hoch und öffnete auch dort das Fenster.
„Luanna? Bist du das?", wimmerte sie vom Sofa aus und hielt sich ihre Augen zu. Natürlich hatte sie Kopfschmerzen, doch dies war sie selbst schuld.
„Ja Mum wer sonst.", gab ich genervt von mir und räumte die leeren Vodka Flaschen weg. Auch den Eimer voll Erbrochenem leerte ich und schrubbte ihn ordentlich sauber. Längst machte mir dieser Geruch nichts mehr aus. Ich war es seit Jahren nicht anders gewohnt.
„Das musst du nicht tun liebes. Sag wie geht es dir.", krächzte sie und stach sich eine Kippe an.
„Doch Mum das muss ich, denn du bist anscheinend nicht dazu in der Lage. Mir geht es wie es mir immer geht.", presste ich hervor und versuchte nicht erneut in Tränen auszubrechen.
„Ich habe dir Brot und Käse gekauft, möchtest du etwas essen?", fügte ich hinzu.
Ich sah genau, dass sie die Nase kraus zog. Doch mir zu liebe nickte sie.
Ich ging in die Küche und schmierte zwei Stullen. Lustlos kaute sie darauf rum, während sie mich betrachtete.
„Du siehst gut aus. Wirklich. Dein Vater... er... er wollte vorbeikommen, doch er kam nicht.", brach sie ab und suchte nach ihrem Rettungsboot. Welches ich eben in den Abfluss gegossen hatte. Stattdessen hielt ich ihr ein Glas Wasser hin.
„Du kennst ihn, er sagt immer er kommt vorbei, doch das tut er nie. Du solltest ihn wirklich abschreiben Mum. Er tut dir nicht gut.", flüsterte ich, obwohl ich genau wusste, dass dies nicht helfen würde.
„Was weißt du denn schon, hmm?! Du hast mich auch verlassen! Ihr beide, sieh mich an Luanna! Das ist auch deine Schuld!", schrie sie mir wütend entgegen.
Natürlich wusste ich, dass sie es nicht so meinte. Doch es schmerzte immer wieder aufs neue, wenn sie mir solche Sachen entgegen warf. Ich blickte aus dem Fenster und schluckte die Tränen weg. „Schon okay Mum, beruhige dich. Ich lass dir ein Bad ein.", sprach ich stand auf und ging ins Badezimmer. Meine Hand glitt zu meinem Mund, um die Geräusche meiner Traurigkeit zu unterdrücken. Ich atmete tief ein und aus. Im Spiegel sah mir ein junges Mädchen entgegen, welches todunglücklich aussah. Ihre großen blauen Augen waren Tränen gefüllt, ein jämmerliches Bild. Ich schüttelte mich und blies die Luft aus.
Während Mum in der Wanne lag, warf ich ein Blick in ihr Schlafzimmer, es war unberührt. Sie hatte die letzten vier Tage auf dem Sofa verbracht. Ich konnte sie nicht wieder alleine lassen.
Doch ich hatte es den beiden versprochen. Als ich in der Küche war hörte ich, dass eine Tür ins Schloss fiel. Ich sah nach, sie hatte sich in ihr Schlafzimmer verkrochen. Erleichtert lies ich mich auf dem Sofa nieder. Nach einer Weile des Nichtstuns stand ich auf und beseitige den Rest der Unordnung. Ich wusch ihre Wäsche und putzte die Wohnung.
Der Engel ihrer Mutter lungerte auf einem Sessel herum, ich kannte ihn. Es war Ranael, welcher mich nun erfreut anlächelte. „Mael, schön dich zu sehen. Du hast also einen neuen Schützling bekommen?", fragte er und setzte sich aufrecht.
„Ranael, nun ja, wie es aussieht werden wir uns nun öfter sehen. Sag, lässt sie sich nicht beeinflussen?", nickte ich ihm zu und blickte zu der Tür durch die Luanna's Mutter verschwunden war.
„Ich habe alles versucht Mael, wirklich. Aber So etwas wie ein schlechtes Gewissen, besitzt sie längst nicht mehr. Ich dringe nicht mehr zu ihr durch. Dabei war sie früher ganz anders. Das arme Mädchen tut mir unglaublich leid. Ich hoffe du hast mehr Geduld mit ihr, als Bathor.", lächelte Ranael mitleidig. „Ich werde dann mal zu ihr gehen, nicht das sie mir noch im schlaf erstickt.", fügte er hinzu und verschwand in ihr Zimmer.
Luanna hatte die Wohnung gesäubert. Sie stand vor einem Foto, welches sehr alt aussah. Ihre Hände verkrampften sich so sehr, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Ich spürte ihren Hass deutlich. Er richtete sich gegen ihren Vater, Ich konnte es ihr nicht verübeln. Doch ich musste sie besänftigen. „Komm runter, er ist es nicht wert. Wir schaffen es auch ohne ihn.", setzte ich ihr in den Kopf. „Ich sollte heute wirklich mal ausgehen und an mich denken. Mum schläft, ihr geht es gut.", fügte ich hinzu. Ihre verkrampfte Körperhaltung entspannte sich ein wenig. Sie ließ das Bild hinter sich und verschwand im Bad.
Erleichtert nahm ich Platz. Bisher war mein Einfluss auf sie gut. Zum ersten Mal hatte ich ein gutes Gefühl. Ich schätze es war der Altersunterschied, welcher mir nun zu Gute kam. Sie übernahm meine Gedanken und erkannte sie als ihre eigenen an. Ich hoffte, dass dies weiterhin so blieb.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro