Kapitel 4 - Nachsorge
„Vincent?" Ich gehe wieder zurück in das Wohnzimmer. Und dann sehe ich eine Bewegung draußen im Garten. Lautlos öffne ich die Terrassentür und gehe hinaus in den Garten.
Vincent sitzt auf einem der beiden Stühle im Grünen und schaut auf den Teich mit den Fischen.
Ich trete langsam näher. „Hallo Vincent."
Er dreht den Kopf leicht und ein sanftes Lächeln erhellt sein Gesicht. Dann deutet er auf den zweiten Stuhl.
Ich habe mich schon lange nicht mehr draußen hingesetzt. Ein Wunder, dass die Fische überhaupt noch leben, schießt es mir sofort durch den Kopf.
„Hallo Clara. Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich den Garten für mich entdeckt habe."
Ich setze mich zu ihm auf den zweiten Weidenstuhl und blicke erst in den wolkenfreien Himmel, dann auf den Teich. Mein Vater hat den Teich angelegt und sich um die Fische gekümmert. Hin und wieder kam mal einer davon auf den Tisch. „Nein, gar nicht. Wie geht es Ihnen?"
„Besser, aber es zieht noch sehr stark."
„Ich habe etwas zu Essen mitgebracht. Ich hoffe, Sie mögen indisch. Haben Sie überhaupt irgendwas Essbares gefunden?"
Vincent grinst kurz. „Ja, ich habe ein paar Eier gefunden."
„Ich hatte noch Eier?", frage ich nach, aber dann fällt mir ein, dass ich letzte Woche Heißhunger auf Pancakes hatte.
„Oh Gott, waren die Eier schlecht? Habe ich jetzt Salmonellen?" Sein Gesicht wird ganz bleich und er greift sich an den Bauch.
„Haben die Eier gestunken? Oder haben Sie die roh gegessen?"
„Nein...", erwidert er nachdrücklich.
Ich fange kurz, aber heftig an zu lachen und lege dabei den Kopf in den Nacken. Dass die Leute immer gleich vom Schlimmsten ausgehen.
„Und das ist lustig?"
Ich nicke bestätigend. „Ja, durchaus. Die Eier waren von letzter Woche. Und meist sind es rohe Eier und Geflügel, die..." Ich breche ab und mache eine wegwischende Geste. „Ach, egal. Kommen Sie, das Essen wird kalt." Ich stehe auf und unterdrücke ein Gähnen. Nach dem Essen noch ein wenig Fachlektüre lesen und ein paar Stunden schlafen. Die Nachtschicht haut immer voll rein. Der freie Tag danach nutze ich eigentlich nur zum Ausschlafen.
Vincent stöhnt leise, als er aufsteht und hält sich die Brust. Dort, wo ich die Kugel zwischen den Rippen herausgeholt habe. Vielleicht sollte ich heute Nachmittag mit ihm ins Krankenhaus fahren und es röntgen. Nur, um auf Nummer sicherzugehen. Die Rippen sahen zwar gut aus, aber schon ein kleiner Splitter kann gefährlich sein.
Ich gehe in die Küche und packe das Essen aus, hole Besteck und Gläser. Prüfend blicke ich in den Kühlschrank. Energydrinks, Wasser und etwas Käse. „Naja, verdursten konnten Sie nicht, das ist doch schon mal was." Aus dem Kühlschrank hole ich einen Energydrink und öffne die Dose direkt, um einen Schluck zu trinken.
Vincent setzt sich an den Küchentisch und beäugt neugierig die drei verschiedenen Menüs, die ich gekauft habe.
„Woher wussten Sie, dass ich so großen Hunger habe?", fragt er gut gelaunt.
Schmunzelnd setze ich mich dazu und nehme meine Pappschachtel. Ich wünsche nur kurz einen guten Appetit und esse etwas Reis. Das Essen ist großartig, scharf und fruchtig.
„Wie war ihr Tag?", fragt Pablo und klingt ehrlich interessiert. Seine Augen leuchten wieder so intensiv und durchdringend, während er mich mustert. „Oder besser gesagt, die Nacht?"
„Oh... Lang. Der ganz normale Wahnsinn in der Notaufnahme.", entgegne ich kurzangebunden. Ob die Freundin von dem Blinddarm-Patienten immer noch dort steht und meckert, weil sie nicht nach Hause kann?
„Sind die Nachtschichten immer so lang?"
„Ich bin zwei Stunden länger geblieben. Kurz vor knapp kam noch mal ein Notfall rein. Als Arzt kann ich nicht einfach zum Ende meiner Schicht alles fallenlassen."
„Müssen Sie oft Überstunden machen?"
Ich esse wieder eine Gabel mit Reis und schaue kurz auf. „Kennen Sie einen Angler, der Eichhörnchen fängt?", frage ich stattdessen schmunzelnd.
Vincent lacht, nur um sich kurz darauf die Seite zu halten. Ja, das werde ich definitiv röntgen. Im besten Fall ist es nur eine Prellung.
„Nein", entgegnet er und grinst breit.
„Ich kenne auch keinen Arzt, dem Überstunden fremd sind."
Vincent schmunzelt immer noch und zeigt dabei wirklich schöne und gepflegte Zähne. Das Lächeln erreicht seine Augen und es bilden sich kleine Fältchen, die seine Augen noch mehr strahlen lassen. „Haben Sie Haustiere?", fragt er neugierig und lehnt sich etwas vor.
„Nein", antworte ich sofort. „Ist nichts für mich. Die lecken sich den After und stecken überall ihre Nase rein."
„Das machen Menschen auch."
Ich lache laut los und wische mir kurz darauf kleine Tränen aus den Augenwinkeln. Wie recht er damit hat. Viel zu neugierige Menschen sind noch in Ordnung. Aber nicht, wenn sie ihre Nase in Angelegenheiten stecken, die Niemanden etwas angehen. Ob Arschkriecher besser sind, wage ich zu bezweifeln. Leider gibt es von dieser Sorte Menschen auch in meiner Branche mehr als genug. Dazu gehören auch jene, die sich das zu Nutze machen.
Die leeren Pappschachteln landen im Müll und das Menü, das übrig geblieben ist, stelle ich in den Kühlschrank. „Ich müsste den Verband wechseln und mir anschauen, wie alles verheilt."
„Wollen Sie dafür rüber in die Praxis gehen?"
„Nein, das geht hier. Und danach schaue ich mal, das ich noch etwas anderes zum Anziehen für Sie finde."
Vincent zieht den Morgenmantel aus, während ich mir gründlich die Hände wasche. Danach nehme ich ihm den Verband am Bauch ab und werfe alles auf den Boden. Vorsichtig ziehe ich das breite Pflaster ab und taste die Wundränder ab. Auch die Naht am Oberkörper sieht gut aus, sodass ich auf weitere Verbände verzichte. Er hatte Glück, dass nichts Wichtiges getroffen wurde und die Einschlagkraft der Kugeln enorm abgeschwächt wurde. Vielleicht durch die Fenster.
„Sie haben im übrigen immer noch nicht meine Frage beantwortet."
„Tatsächlich? Und welche?" Ich nehme ein großes Pflaster und klebe es ihm auf den Oberkörper.
„Sind Sie Single?"
Überrascht richte ich mich etwas auf und siehe ihn an. Sein Blick ist offen und ehrlich interessiert. Aber ich kenne diesen Mann gar nicht. Er ist hoffentlich nur noch heute hier und danach sehe ich ihn nie wieder. Beziehungen funktionieren als Arzt eh nicht wirklich. Viel zu wenig Zeit für den Partner. „Ja. Aber das ist irrelevant, ich bin nicht auf der Suche."
„Aber findet man die Dinge, die man braucht, nicht immer genau dann, wenn man sie nicht sucht?"
„Brauchen?", wiederhole ich und hebe eine Augenbraue. „Nein, wirklich nicht. Ich habe kein Interesse."
„Sie sind eine sehr sympathische Frau. Sie sind hilfsbereit, freundlich, lachen gerne... Wieso suchen Sie keine Beziehung?"
Schnell klebe ich ihm das zweite Pflaster auf den Bauch und gehe einen Schritt zurück. „Ich werde sie später ins BMC fahren. Ich möchte ein Röntgen machen, wegen der Rippen. Falls ein Stück vom Knochen abgesplittert ist... Oder eine Glasscherbe mit der Kugel in die Wunde eingetreten ist. Vielleicht noch ein MRT, mal sehen..."
„Ich wollte nicht in ein Krankenhaus, schon vergessen?"
„Wir gehen rein, machen die Bilder und sind danach wieder draußen. Das dauert nicht lange. Je nachdem."
Vincent kneift die Augen leicht zusammen und wirkt nachdenklich. „Wovon ist das abhängig?"
„Ob ich ein MRT mache", erwidere ich, „das dauert mindestens zwanzig Minuten. Wenn es gerade frei ist.
„Wenn es nicht notwendig ist, würde ich das weglassen wollen. Wann möchten Sie fahren?"
Na, da hat er sich aber schnell überreden lassen. Ein wenig zu schnell für meinen Geschmack. Ich blicke auf die Uhr. Es ist fast Mittag. Noch etwas lesen, ein paar Stunden schlafen... „Am Nachmittag erst, vielleicht heute Abend. Ich bin seit über dreißig Stunden auf den Beinen, ich brauche eine Pause."
Vincent nickt leicht und seine Augen werden weich und strahlen eine herzliche Wärme aus. „Dann schlafen Sie sich aus."
„Ja, nachher. Kommen Sie, ich wollte Ihnen noch etwas anderes zum Anziehen geben." Ich hebe kurz die abgewickelten Verbände auf und werfe es in den Müll. Dann greife ich nach der Flasche Desinfektionsmittel und kippe einen Spritzer auf die Hände und verteile es gründlich. Während ich den Küchentisch umrunde, nehme ich den Energydrink und gehe aus der Küche.
Neben dem Bad ist das Schlafzimmer meiner Eltern. Ich öffne die Tür, gehe zu den großen Fenstern durch und ziehe die Vorhänge ruckartig zurück. Das Schlafzimmer sieht immer noch so aus, wie vor sieben Jahren. An dem Tag, als sie auf das Konzert fahren wollten. Meine Mutter hatte zwei Kleider in die engere Auswahl gezogen. Das Kleid, das sie nicht genommen hatte, hängt immer noch am Kleiderschrank.
„Ein schönes Zimmer", murmelt Vincent leise neben mir. „Ich nehme an, hier schlafen Ihre Eltern? Sind sie aktuell verreist?"
„Ja", antworte ich tonlos. Und sie kommen nie wieder... Nichts bringt sie zurück. Um wieder schnell das Zimmer verlassen zu können, öffne ich den Kleiderschrank meines Vaters. Er hatte etwa dieselbe Figur wie Vincent. Etwas kleiner, etwas beleibter. „Suchen Sie sich etwas raus. Es wird nicht perfekt passen... Aber es wird reichen."
Beinahe fluchtartig verlasse ich das Zimmer. An der Tür greift Vincent jedoch deinen Oberarm und hält mich auf. „Clara, Ihre Eltern...", er schweigt kurz und sieht mich mitfühlend, ja irgendwie sogar verstehend an. „Sie kommen nicht wieder, oder?"
Ich schlucke schwer, denn ich bin nicht bereit, darüber zu reden. Abwehrend hebe ich beide Hände und er lässt mich sofort los. Er sieht mir hinterher und ich spüre seinen Blick auf meinem Rücken. Es ist mir egal. Ich kann nicht über den Unfall meiner Eltern reden. Erst recht nicht mit einem Mann, den ich gar nicht kenne.
Mit schnellen Schritten gehe ich durch das Haus zur Treppe am Eingangsbereich, steige sie hoch und gehe in die alte Bibliothek meines Vaters. Haufenweise medizinische Fachliteratur, Zeitschriften und ein paar normale Bücher, zeitlose Klassiker, wie Moby Dick, sind hier ordentlich in die Regale eingeräumt. Das Zimmer ist klein, nur zwei schmale Regalreihen rechts und links, ein großer Sessel und das Teleskop direkt am Fenster. Mehr passt hier nicht rein.
Ich nehme ein Buch über Viszeralchirurgie aus dem Schrank. Keine leichte Kost. Aber wenn es nötig ist, Vincent noch mal zu operieren, dann sollte ich mein Wissen etwas auffrischen. Immerhin hole ich nicht täglich Kugeln aus dem Bauchraum. Was, wenn die Kugel doch mehr Schaden angerichtet hat? Bisher habe ich mich nur auf die Schmerzen an seinen Rippen konzentriert.
Nur kuz überlege ich, ob ich mich direkt auf den Sessel setze. Aber es wäre Vincent gegenüber nicht fair, mich jetzt zu verstecken. Also gehe ich wieder die Treppe hinunter und setzt mich auf die Couch, mit dem Rücken zum Fenster und schlage das Buch auf.
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