Kapitel 35 - Schachmatt
Ich wache alleine in dem Bett auf und setze mich langsam hin. Sofort schaue ich zu meinem Handy, stehe auf und nehme es in die Hand. Zurück im Bett höre ich mir die Sprachnachrichten von Noah an.
Hey, Clara. Wo bist du? Können wir reden?
...
Clara, wo bist du? Dein Auto steht hier.
...
Das ist nicht witzig, Clara! Ich will mit dir reden!
...
Clara! Scheiße, was soll das? Komm schon, du kannst mich doch nicht einfach ignorieren!
...
Okay, wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, dann ist das auch okay. Weißt du was? Ich brauche dich nicht! Und diese scheiß Therapie brauche ich auch nicht!
...
Du bist tatsächlich nicht zu Hause. Alter, wo bist du? Du hast ja sogar in der Küche die Stecker gezogen. Bist du verreist? Und mich lässt du einfach zurück? Eine ganz tolle Schwester bist du, wirklich! Mom und Dad würden sich im Grab umdrehen, wenn sie das wüssten!
...
Ich halte mir die Hand vor den Mund, um nicht zu laut zu weinen. In seinen Texten war Noah schon echt gemein gewesen. Aber seine Worte zu hören, verletzen mich noch mehr. Als würde er mit jedem Wort ein Messer in mein Herz rammen.
...
Ich hasse dich, Clara! Du bist echt das Allerletzte! Du hast ja tatsächlich gepackt und bist weg. Dein Koffer fehlt. Ich habe dich gebraucht! Aber du denkst immer nur an dich selbst! Zuerst dein blödes Studium und dann war dir nach Dads Tod nichts wichtiger als das Krankenhaus. Weißt du was...? Du hast ab heute keinen Bruder mehr! Du bist für mich sowas von gestorben. Du verlogene Heuchlerin!
...
Ich breche die Aufnahme ab. Die letzten beiden Sprachnachrichten kann ich mir nicht mehr anhören. Das ist einfach zu viel für meine Nerven und mir laufen schon wieder die Tränen, auch wenn ich sie zurückhalten will.
Eine Bewegung lässt mich aufschauen.
Pablo steht an der Tür und seinem Gesichtsausdruck nach hat er einen Teil mitgehört. Schnell wische ich mir die Tränen weg.
"Soll ich nach ihm suchen lassen?"
"Und dann...?"
"Du solltest ihm endlich mal die ganze Wahrheit sagen, anstatt ihn in Watte zu stopfen."
"Wäre das nicht kontraproduktiv für dich? Dann fällt Noah ja als Druckmittel weg."
"Brauche ich das wirklich noch? Bleibst du nur unter Zwang bei mir?"
"Ja", antworte ich sofort. Obwohl er mir gerade in den letzten Stunden so viel Halt gegeben hat. "Nur diese eine Woche und dann will ich dich nie wieder sehen."
Pablo wendet sich ab und geht kommentarlos.
Ich greife nach meinem Handy und schalte es wieder aus. Es ist unmöglich, mir die letzten beiden Nachrichten anzuhören. Vermutlich sagt Noah dort, was er gestohlen hat. Aber das ist mir mittlerweile egal.
Sobald diese Woche vorbei ist, werde ich die kleine Villa verkaufen und meine Schulden abbezahlen. Am besten ziehe ich auch gleich um. Weg von der Ostküste. Vielleicht nach Colorado. Es war wirklich schön dort.
Ich schließe die Augen und wische die restlichen Tränen weg. Jetzt muss ich in Erfahrung bringen, was der Test ist. Diese ganze Woche? Oder ein bestimmtes Ereignis? Vielleicht ganz am Ende der Woche.
Auf keinen Fall darf ich diesen Test bestehen. Es ist Pablo durchaus zuzutrauen, dass er mich unter Gewalt zum Altar schleppt. Ganz gleich, ob er etwas in der Hand hat, womit er mir drohen kann.
Und wenn ich meine Lizenz als Arzt verliere? Unwichtig, sobald ich erstmal seine Frau bin, werde ich nur noch nach seiner Pfeife tanzen müssen.
Langsam stehe ich auf und ziehe mich an. Die nächsten Tage mit Pablo werden nicht einfach. Aber ich werde mich durchbeißen, egal was kommt. Ab heute werden keine Tränen mehr fließen.
Ich verlasse das Schlafzimmer und gehe nach vorne in den Wohnbereich.
Pablo telefoniert wieder. Und da hat er mal über meine Arbeitszeiten gemeckert... Dabei hat er doch rund um die Uhr irgendwas zu regeln und zu organisieren.
Der Blick, den Pablo mir zuwirft, kann ich nicht deuten. Er telefoniert weiter. Spanisch verstehe ich eh nicht. Ich versuche auch gar nicht, das eine oder andere Wort aus dem Französischen abzuleiten.
Ich setze mich auf die Couch an ein Fenster und sehe raus. Wir fliegen über das Meer. Und es ist dunkel. Nur schwach kann ich die Wellen im Mondlicht sehen.
Pablo beendet das Telefonat und es wird still im Wohnbereich. Ich schaue weiter aus dem Fenster und hänge meinen Gedanken nach. Wenn die Sonne aufgeht, ist es schon Dienstag. Die Hälfte habe ich schon geschafft. Nur noch Dienstag, Mittwoch und Donnerstag.
Aber so, wie ich Pablo kenne, wird er den ganzen Freitag von mir fordern. Soll er nur. Auf einen Tag mehr kommt es nun auch nicht an. "Wohin fliegen wir jetzt? Afrika?"
Ja, an die Elfenbeinküste, um genau zu sein."
"Wann werden wir landen?"
"In den frühen Morgenstunden."
Ich nicke leicht. "Hast du in Brasilien alles regeln können? Wurden die restlichen Männer gefunden?"
"Nein und nein. Ersteres werde ich in den nächsten Tagen mit Miguel am Telefon klären. Und die verschwundenen Männer..." Er seufzt leise und senkt etwas die Stimme. "Ich fürchte, sie werden nicht lebend gefunden."
Klingt da Bedauern in seiner Stimme mit? Wahrscheinlich nur wegen der Drogen. Pablo ist kein Mensch, der sich um andere sorgt. Er ist generell kein Mensch, sondern ein Monster.
"Möchtest du etwas trinken?", fragt er und mustert mich.
"Danke, nein."
"Schach?"
Ich schaue zu Pablo und hebe kurz die Augenbrauen. Ist das ein verzweifelter Versuch, mit mir zu reden? Aber bisher habt wir immer geschwiegen bei dem Spiel. Und es würde mir ein wenig die Zeit vertreiben. Immerhin muss ich ja noch ein paar Tage mit ihm klar kommen. "Na gut. Spielen wir ein wenig."
Vielleicht lenkt es mich ein wenig ab und bringt mich auf andere Gedanken.
Pablo geht zu einem Lowboard und holt ein kleines Schachbrett heraus. Nicht ganz so groß und hübsch wie meines. Aber es reicht völlig aus.
Ich setze mich zu Pablo an den Tisch und wir stellen die Figuren auf. Wie immer gibt er mir weiß und lässt mich anfangen. Nachdem ich meine Standarderöffnung gemacht habe, schlägt Pablo eine Figur nach der anderen. Aber so einfach will ich es ihm nicht machen und am Ende hole ich wenigstens noch ein Unentschieden raus.
Pablo schnauft belustigt. "Ah, verdammt. Ich hatte dich fast!"
"Ja, aber auch nur weil ich abgelenkt bin. Eigentlich solltest du nur mit einem Turm und einem Läufer starten, damit es von Anfang an fair ist."
"Von wegen",erwidert er grinsend. "Ich spiele viel schlechter. Eigentlich sollte ich drei Türme haben. Oder zwei Damen."
Ich lache kurz und stelle wieder die Figuren auf. Aber diesmal drehe ich die weißen Figuren zu ihm.
"Ich habe beim Schach noch nie angefangen."
"Dann wird es aber so langsam mal Zeit. Ich geb dir auch einen Tipp: Fang mit einem Bauern oder einem Springer an."
Pablo schaut auf das Brett, dann zu mir, wieder auf das Brett und zurück zu mir. "Was anderes geht ja auch gar nicht."
"Siehst du? Schach ist ganz einfach!"
Pablos Gesicht spricht Bände und ich muss wieder kurz lachen.
"Was macht die sekundäre Fusion?", fragt er beiläufig und setzt einen Bauern zwei Felder vor.
Meine Gedanken wandern zurück zu der einen Woche, in der er bei mir war. Das er in Wirklichkeit ein großer Mafiaboss ist, habe ich zu dem Zeitpunkt nicht gewusst. Hätte ich mich in seiner Gegenwart so wohl gefühlt, wenn ich es gewusst hätte. "Ich fürchte, es gab tatsächlich eine Kettenreaktion und alles ist hoch gegangen." Dabei setze ich einen Springer.
Pablo grinst breit und setzt wieder einen Bauer. "Wirklich?"
"Naja. Es ist nicht mein Fachgebiet. Ich habe meinen Facharzt in Allgemeinchirurgie gemacht und denke seit einigen Monaten immer mal wieder darüber nach, einen weiteren Facharzt zu machen."
"Wirklich? Was hält dich davon ab?"
"Ich weiß nicht genau. Wahrscheinlich die Dauer der Weiterbildung."
"Und welche Weiterbildung schwebt dir vor?"
"Viszeralchirurgie, da es oft mit Allgemeinchirurgie kombiniert wird. Aber ich bräuchte dafür mindestens drei Jahre."
"Ich sehe darin kein Problem."
Hätte ich als Pablos Frau wirklich diese Freiheiten? Würde er mich weiterhin in einem Krankenhaus arbeiten lassen?
Wir spielen weiter, während Pablo das Gespräch aufrecht hält und wieder so humorvoll und charmant ist, wie in dieser einen Woche, als er bei mir war.
Ich setze meinen Turm in Position. "Schach."
Pablo bringt seinen König in Sicherheit. Genau dorthin, wo ich ihn haben wollte. Jetzt noch den Springer und dann habe ich ihn matt gesetzt.
Plötzlich fällt die Maschine etwas ab. Ich erschrecke mich so sehr, dass ich mit einer Hand das Spielbrett von dem kleinen Tisch fege und die Figuren quer über den Wohnbereich verteile.
"Sehr dramatisch, deine Aufgabe", kommentiert Pablo die Aktion amüsiert. "Aber ich nehme den Sieg gerne an."
"He!", protestiere ich lachend. "Ich habe nicht aufgegeben. Das Luftloch hat mich erschreckt."
"Natürlich hast du aufgegeben!", witzelt Pablo. "Ich habe ganz genau gesehen, wie du deinen König umgeworfen hast." Pablo grinst dabei so breit, dass ich schmunzle.
Pah, dabei war ich kurz davor, zu gewinnen. Und das weiß er auch. Ich stehe auf und hebe das Schachbrett auf, lege es zurück auf den Tisch.
" Was, noch eine Runde? Du bist so eine schlechte Verliererin." Seine Augen funkeln amüsiert. Er rutscht ebenfalls vom Sessel, hebt ein paar Figuren auf und legt sie auf den Tisch.
Auf allen vieren krabble ich durch den Wohnbereich. Als ich mit einer Hand nach der weißen Dame greife, zieht Pablo sie mir aus der Hand.
"Meine! Du darfst die schwarzen Figuren suchen."
"Hey! Wie alt bist du gerade? Fünf?"
Pablo lacht, dann packt er mich, legt mich auf den Rücken und kitzelt mich am Bauch. Ich lache auf und greife nach seinen Händen, um sie wegzuschieben.
Frech setzt sich Pablo auf mich drauf, dann nimmt er meine Hände und zieht sie hoch, fixiert sie über meinem Kopf. Mit der freien Hand kitzelt er mich wieder, sodass ich mich lachend unter ihm winde.
"So gefällst du mir am besten. Ich liebe dich, Clara."
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