Kapitel 10 - Eskalation
Wortlos hat Pablo mich in eine Umarmung gezogen und mich gehalten. Diese Art von Geborgenheit hat mir so sehr gefehlt und ich wusste es all die Jahre nicht mal. Er entschuldigt sich mehrmals für seinen Fehltritt. Es war nicht so gemeint, es tut ihm wirklich über alles leid. Und ich kann ihm verzeihen. In Schmerz und Trauer rutschen oft die falschen Worte heraus. Ich kenne es selbst und habe das im Krankenhaus schon so oft beobachtet.
Später am Abend sitzen wir zusammen auf der Couch. Wir haben wieder etwas bestellt und nebenbei einen Film geschaut. Das Gespräch über Juan, dieser seltsame Streit danach, aber vor allem das gegenseitige Trostspenden danach; das hat definitiv etwas zwischen uns verändert. Positiv verändert.
Auf diese Weise habe ich eine neue Seite an Pablo kennengelernt. Eine verletzliche Seite.
Wir sind beide nur Menschen, mit Stärken und Schwächen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen und seine eigenen Probleme. Aber wir können einander helfen, das Gewicht der Probleme des anderen ein wenig zu reduzieren und Erträglicher zu machen.
Was auch immer er aktuell für Probleme hat, ich werde sicherlich damit leben können. Und wenn Noah erst einmal in Behandlung ist, dann werde ich meine Probleme auch in den Griff kriegen.
Pablo zieht mich etwas näher heran und ich lehne mich an ihn, schließe die Augen und lächle.
Es ist ein Stück heile Welt zu diesen trostlosen Zeiten. Und nach all den Jahren bin ich wieder optimistisch. Für den Moment bin ich gewillt, Pablo eine Chance zu geben, auch wenn er mir in vielen Punkten immer noch Rätsel aufgibt.
Ob er noch mal mit seiner Schwester telefoniert hat? Wird er noch lange meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen? Aber ich spüre, dass er bald in seine Welt muss, sich um seine Dinge kümmern muss. Was immer das auch ist.
Was macht er beruflich? Er macht ein großes Geheimnis daraus. Pablo ist wie ein Buch mit sieben Siegeln. Spekuliert er an der Börse? Oder ist es ein kleiner, unwichtiger Job? Vielleicht schämt er sich dafür, weil ich Ärztin bin. Das kann sicher am Ego eines Mannes kratzen, wenn die Frau erfolgreicher ist und mehr verdient.
Aber ich hätte kein Problem damit. Selbst wenn er Verkäufer in einem Supermarkt ist und Stunden an der Kasse steht. Es ist ein ehrlicher Job und nur das zählt.
...
Am nächsten Morgen mache ich mich leise fertig und verlasse das Haus, ohne Pablo zu wecken. Soll er ausschlafen. Wenn es für ihn Urlaub ist, dann gehört das definitiv dazu.
Im Krankenhaus merken alle sofort, dass Reyes heute mit dem falschen Fuß aufgestanden ist. Er ist extrem leicht reizbar und die Assistenten werfen sich nervöse Blicke zu.
Nach der Besprechung schnappe ich mir sofort Mary und ziehe sie bei Seite, schaust mich mehrmals um und spreche ganz leise zu ihr. „Reyes hat mich zum Essen eingeladen."
Meiner besten Freundin klappt die Kinnlade runter. „Oh! Mein! Gott!"
„Shht shht shht! Mary, sei leise. Bitte!"
„Was hast du gesagt?"
„Das es gerade nicht ginge. Mein Bruder sei da... Familiäre Probleme und so."
„Und was hat der alte Hengst gesagt?", hakt Mary nach und zieht die Augenbrauen leicht hoch.
„Er hat gefragt, ob ich Urlaub brauche. Er könne mir sofort ein oder zwei Tage genehmigen."
„Scheiße. Was wirst du jetzt tun?"
„Ich weiß es nicht", erwidere ich seufzend und reibe kurz über meine Stirn. „Wen hatte er zuletzt?"
„Cynthia. Die Kleine mit den grünen Augen. Sie war immerhin zwei Mal mit ihm aus."
„Ist sie nicht seit zwei Wochen krank?"
„Angeblich. Heute soll ihre Kündigung eingegangen sein."
Ich kann es mir gerade noch verkneifen, die Augen zu verdrehen. „Das muss doch dem ärztlichen Direktor so langsam auffallen. Es ist immer nur diese Abteilung im gesamten Klinikum, die so einen enormen Personalwechsel hat."
„Wenn du mit dem Direktor reden willst, nur zu.", wirft Mary ein.
Seufzend lehne ich mich an die Wand und verschränke die Arme. „Wie war das bei dir? Als du abgelehnt hast?"
„Fast vier Monate nur Notaufnahme, erinnerst du dich? Aber ich war ganz froh darum, weil ich ihn dann kaum noch gesehen habe."
Ich nicke kurz. Damit käme ich noch klar. „Ich lasse es mal auf mich zukommen. Wie schlimm kann es schon werden, wenn ich nein sage?"
„Sehr schlimm, Herzchen. Aber schlimmer als die Zeit als Assistenzarzt wohl kaum."
„Und das habe ich auch überlebt. Also, alles kein Problem."
„Oh, es geht los. Reyes macht wieder seine Runde."
Schnell schließen wir uns der Gruppe an. Teilweise passen nicht mal alle Ärzte in das Zimmer, so groß ist das Gedränge heute. Und nach dem vierten Zimmer passiert natürlich das, was passieren musste.
Eine Stationsschwester läuft mit einem Tablett voll in Reyes rein, weil der noch nicht aus der Tür raus war. Laut scheppernd fällt das Tablett samt Inhalt zu Boden. „Oh nein, das tut mir schrecklich leid!" Sofort bückt sich die Schwester, um alles aufzuheben. Und sie versperrt Reyes damit auch noch den Weg. Die Situation ist kurz davor, zu eskalieren. Reyes läuft bereits rot an und die Ader an seiner Stirn fängt an zu pochen.
Mary lächelt flüchtig und legt der Schwester eine Hand auf die Schulter. „Es ist ja nichts passiert. Halb so wild."
Oh je. Die Situation zu verharmlosen ist nie so besonders klug bei einem Choleriker. Und Mary sollte nun echt nicht den Zorn von Reyes abbekommen. Lieber mache ich mich unbeliebt bei ihm. „Hat sich jemand verletzt?", frage ich scherzend und füge schnell hinzu: „Brauchen wir einen Arzt?" Nervöses Lachen hier und da. Und Reyes explodiert gleich. Also nicke ich der Krankenschwester zu. „Räumen Sie bitte alles weg, Schwester. Es warten noch ein paar Patienten auf uns."
Ich dränge sie leicht bei Seite und stelle mich so, dass Reyes einfach an mir vorbei in den Flur gehen kann. „Das wird noch ein Nachspiel haben." Die Worte sind ganz leise an mich gerichtet, während er an mir vorbeigeht.
Mir läuft es kalt den Rücken runter.
Den Rest des Tages mache ich mich weitestgehend unsichtbar. Aber auch heute bin ich wieder bei einer Operation von Reyes dabei. Ein Handy klingelt und es wird kurz still.
„Mein Handy!", kommentiert Reyes.
Die Musik wird ausgemacht, damit er in Ruhe telefonieren kann. Und wenn man operiert, kann man nicht einfach etwas anfassen. Also greift jemand anderes nach seinem Handy und hält es ihm ans Ohr. Reyes hört knapp zu und dreht dann den Kopf wieder bei Seite, als Zeichen, dass das Handy wieder wegkann. „Sie übernehmen, Swift."
Es wird kurz hektisch, während die Positionen getauscht werden. Auch für mich muss jemand einspringen. Ich übernehme die Werkzeuge, die Reyes in der Hand hatte. Das ich ihm dabei viel zu nahe stehe, blende ich aus. Der Wechsel geht schnell und unkompliziert und schon ist Reyes raus.
Die Musik bleibt aus, ich werfe einen Blick auf die Monitore und schon geht es weiter. Eine halbe Stunde später verlasse ich den OP und gönne mir eine kleine Pause im Waschraum. Mit viel Glück kann ich Feierabend machen, bevor Reyes mich zur Rede stellen will.
Im Gemeinschaftsraum treffe ich Mary, die sich gerade ihre Handtasche überwirft. „Clara! Ich kam noch gar nicht dazu, dir zu danken wegen heute Morgen. Ich dachte schon, Reyes macht mich zur Sau."
Und genau in dem Moment öffnet sich die Tür und Reyes kommt herein. Er sieht nur kurz zu Mary, dann heftet sich sein Blick auf mich. „In mein Büro, Swift."
Mary sieht mich mitleidig an und ich wünsche ihr nur knapp einen schönen Feierabend.
Danach gehe ich in das Büro von Reyes. Er hält mir die Tür auf und schließt sie hinter mir direkt wieder. Dann lässt er die Jalousie herunter. Das Zeichen, das er nicht gestört werden möchte. Vor der Tür bleibt er stehen und sieht mich wütend an. „Was sollte das heute morgen?"
„Ich wollte bloß die Situation etwas entspannen."
„Bilden Sie sich jetzt ein, dass Sie sich bei mir alles erlauben können?", fragt er wütend und die Schläfe an seiner Stirn beginnt wieder zu pochen.
„Keineswegs, Professor Doktor Reyes. Die Krankenschwester hatte Angst, die Patienten haben zugesehen und es war Doktor Johanson dabei."
„Sie haben sich auf meine Kosten lustig gemacht!", keift er wütend, „und mich vor allen anwesenden Assis zum Narren gehalten!"
Ich hasse es, wenn er Assis sagt, anstatt Assistenzärzte oder wenigstens Assistenten. Aber ich darf mich von ihm jetzt nicht aus der Ruhe bringen lassen. „Ich habe mit einem Scherz deeskaliert und daran erinnert, dass wir alle Ärzte sind."
„Und Sie glauben, ich habe mich heute früh nicht wie ein Arzt verhalten?"
Es ist anstrengend mit ihm zu diskutieren, wenn er so wütend ist. Aber ich werde mich von ihm nicht in die Defensive drängen lassen. Und ich werde mich erst recht nicht entschuldigen. „Ich weiß nicht, was heute vor der Visite passiert ist. Aber Sie hatten schon schlechte Laune, als Sie die Aufgaben verteilt haben."
„Beschweren Sie sich etwa gerade über mich?", fragt er ungehalten. Dabei wird er lauter, während er sich noch etwas größer macht und bedrohlich vor mir aufbaut.
Davon lasse ich mich aber nicht einschüchtern und bleibe sachlich. „Nein, anders als manch anderer Arzt habe ich kein Problem mit Ihnen. Ich schätze Ihre Arbeit. Aber zwischenmenschlich sind Sie manchmal nur ganz schwer zu ertragen."
„Werfen Sie mir schlechte Mitarbeiterführung vor?"
Ich straffe meine Schultern und hebe mein Kinn noch ein wenig mehr. „Zumindest an Tagen wie heute, ja."
Reyes geht einen Schritt auf mich zu, während er seine Augen zusammenkneift. Jeder andere würde zurückweichen. Aber ich habe keine Angst vor ihm. Was soll er machen? Mich feuern? Ich würde sofort Widerspruch dagegen einlegen. Und es fehlt aktuell an Fachärzten. Entweder werde ich direkt wieder eingestellt oder ich suche mir in einem anderen Krankenhaus einen Job. In Boston gibt es genug.
Beinahe trotzig stecke ich die Hände tief in die Taschen meines Kittels. Selbst als er einen weiteren Schritt auf mich zu geht, bleibe ich stehen und lege nur leicht den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen.
Direkt vor mir bleibt er stehen, nur wenige Zentimeter zwischen uns. Ich bemühe mich weiterhin um einen neutralen, freundlichen Blick, schaffe es sogar, leicht zu lächeln. Er kann mir nichts.
Er legt plötzlich eine Hand an meinen Nacken, überwindet die kurze Distanz und presst seine Lippen hart auf meine. Mit seiner Zunge drückt er gegen meine Lippen.
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