Der schlimmste Ort
Schreibwettbewerb: GN's Schreibwettbewerb
Thema: Über eine Trauerszene schreiben, welche mind. die Hälfte der Geschichte einnehmen soll, Fokus auf Gefühle und Emotionen
Anzahl Wörter der Geschichte: 2508
Anmerkung: Diese Geschichte beinhaltet Trauer/Depressionen und allgemein negative Gefühle, wie man bei dem Thema vielleicht vermuten kann.
- - -
In unserer Welt gibt es viele schlimme Orte, das ist Fakt. Doch jeder nimmt einen Ort anders wahr. Nicht jeder Ort ist für jeden Menschen gleich traurig, beängstigend oder traumatisierend.
Klischeemässig läuft manchen Menschen ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie einen Friedhof betreten. Andere sehen die zerstörte Hoffnung, das leere Leben in einem Kriegsdorf wie zarte Zweige über die Ruinen ranken, wiederrum andere sind gezeichnet von Schulfluren und Klassenräumen voller verurteilender Blicke der Mitschüler, welche tief in einem Selbstzweifel ansäen. Und die eine oder andere verfolgt gedanklich jene Brücke und die lebensbeendende Tiefe, in welche sich die geliebte Person gestürzt hat.
Einen Platz gibt es, den wir alle teilen und den wir manchmal als den schlimmsten Ort auf Erden empfinden.
Denn manchmal ist der schlimmste Ort, an dem man sein kann, der eigene Kopf.
- - -
Die Schwärze hier ist erdrückend und liegt schwer auf meinem Körper. Es macht es schwierig, nur schon den Kopf zu bewegen. Alles fühlt sich träge an, doch eigentlich, wenn ich mir es überlege, tut es das schon lange.
Doch es kann nicht sein, dass da nur Nichts um mich herum ist. Dies ist nicht möglich. Ich starre eine Weile auf einen bestimmten Punkt in die Finsternis. Und auf einmal zeichnen sich Umrisse von ... etwas heraus, was ich vorhin nicht erkennen konnte. So, als ob sich meine Augen erst an die fehlende Helligkeit gewöhnen mussten.
Ab dann sehe ich sie alle und weiss nicht, was ich von ihnen halten soll.
Schubladen. Es sind Schubladen.
Ich drehe den Kopf nach links, nach rechts, doch überall ist das gleiche Bild: Die Wände bestehen nur aus Schubladen. Sie strecken sich hoch, und es scheint so, dass sie unendliche in die Höhe hinaufklettern. An den Seiten ist das gleiche Prinzip; immer mehr Reihen verlaufen nach vorne, bis die Dunkelheit sie verschluckt, doch es geht bestimmt so weiter. Und einen Blick nach hinten verratet mir, dass es dort nicht anders ist.
Ich vermute, dass ich in einem unendlich langen und hohen Gang gelandet, gesäumt von unzähligen Schubladen. Ich lege den Kopf in den Nacken und betrachte die Decke, welche aus ... Nichts zu bestehen scheint. Wie ein schwarzes Loch.
Plötzlich wird mir bewusst, dass ich doch auf etwas- stehen muss. Oder? Ich kann nicht einfach in der Luft ... schweben ...
Im gleichen Wimpernschlag, als ich vor Schreck einen grossen Satz nach hinten mache, saust mein Blick nach unten. Ich keuche auf, denn sobald meine Füsse wieder den Boden berühren, kann ich sagen, dass es ohne Zweifel ein Boden sein muss, der mich auffängt. Doch trotzdem stehe ich auf ... Nichts. Es sieht aus wie oben. Eine Tiefe, gähnende Leere.
Das kann nicht sein, sagt mein Kopf, und ich stimme ihm zu. Doch trotzdem stehe ich da und bin noch nicht von diesem schwarzen Loch verschluckt worden. Nach dem ersten Schrecken legt sich langsam mein Puls wieder und mein Atem geht regelmässiger. Nun ist wieder die Stille da. Sie ist erdrückend und schmerzt in den Ohren. Irgendetwas rauscht, doch das könnte das Blut meines Körpers sein. Und ein entferntes, böses Zischen ist auch zu hören, wie ein Summen.
Es ist merkwürdig, dass ich nicht darüber nachdenken muss, was ich tun werde. Der Grund für meine Entschlossenheit ist, dass etwas aus dem dunklen Ungewissen mich zieht. Es lockt mich, ein unsichtbarer Strick schlängelt sich durch die Schwärze, an dessen Ende ein Haken ist. Und dieser Haken verankert sich in meine Brust, zieht mich mit. Man könnte auch sagen, am Ende des Endlosen ist ein Magnet, und dieser zieht meinen Pol an.
Ich füge mich, wie sollte ich anders.
Mit bedächtigen Schritten, ohne einen Laut zu verursachen, beginne ich, den schwarzen Pfad zu begehen. Es ist unheimlich, die Schwärze vor mir und die Reihen von Schubladen direkt daneben. Über dem Kopf ist die Unendlichkeit und ich bin immer im Wissen, dass das Gefährliche auch von hinten kommen könnte. Doch nichts passiert. Mit meinem Blick nach vorne genagelt, lasse ich mich vom Strick ziehen.
Möglicherweise führt es mich ins Verderbnis, die aufkommende Neugier über die Schubladen nicht zu zügeln, und trotzdem flammt sie auf, unlöschbar. Ich wende meinen starren Blick auf die Schubladen, bleibe zögerlich stehen. Und mit noch viel mehr Zögerung schreite ich auf sie zu. Je näher ich komme, desto lauter wird dieses wütende Zischen und Brummen. Als ich in die Knie gehe und jene Schublade direkt vor meiner Nase betrachte, wird mir klar, dass dieses Geräusch vom Inneren der Schubladen kommen muss.
Details fallen mir auf, die ich vorher nicht erkennt hätte. Wäre ich an einem normalen Ort, würde ich sagen, sie bestehen aus Holz. Aber das glaube ich nicht. Obwohl meine Fingerspitzen, die vorsichtig über das Material streichen, die glatte und kühle Oberfläche als Holz empfinden.
Sie sind schlicht und ohne Verzierung, in der Mitte ist ein schwarzer gebogener Griff, so wie bei allen. Sowieso scheinen alle aufs Mass gleich zu sein. Das Verlangen, sie zu öffnen, macht sich bemerkbar und juckt in meinen Fingerspitzen. Ich kann nicht widerstehen.
Ehe ich weiter darüber nachdenken kann, ziehe ich eine der Schubladen vor mir auf.
Innerhalb von einem Bruchteil einer Sekunde wabert schwarzer Rauch heraus, der zischt und flüstert und mir entgegen schwebt. Sobald er meine Haut streicht, taucht ein Bild in meinem Kopf auf. Aber es bleibt nicht bei einem Bild; die Szenen ändern sich und es entsteht ein Film.
Und ich spiele die Hauptrolle darin.
Es ist der Tag, an dem alles zusammengebrochen ist. Nach einem langen Tag bin ich endlich nach Hause gekommen und wollte nur noch ins Bett fallen und für immer liegen bleiben, mich nicht mehr regen. Genau das tat ich auch. Ich taumelte in mein dunkles Schlafzimmer, legte mich hin und blieb erstmals eine lange Zeit wach. Bis ich in einen traumlosen Zustand fiel, der nicht erholsam war. Und am Morgen, als der Wecker klingelte, schaltete ich ihn aus und blieb, wo ich war. Schlief. Lag wach da. Dachte nach. Aber ich konnte nichts mehr fühlen.
Bis am Abend ein Freund von mir in meine Wohnung kam und mich so vorfand, wie ich am Abend zuvor nach Hause gekommen war.
Die Kälte und Abwesenheit der Gefühle machen sich wieder in mir breit, wenn ich diese Bilder von mir selbst in diesem dunklen Zimmer sehe. Es ist so, als ob ich der Beobachter von mir selbst wäre.
Dies bringt mich aus der Fassung und die Bilder verschwinden. Rauch steigt aus der der immer noch geöffneten Schublade und will mich wieder in den Bann ziehen. Doch mit einem Ruck stosse ich die Schublade zu. Sofort klingt das Rauschen weiter entfernt, aber ist noch da.
Erst jetzt merke ich, dass es in meiner Stirn pocht, so wie auch mein Herz klopft. Meine Atmung stockt und, als wäre ich nicht ich selbst, hebe ich die Hände und sehe ihnen zu, wie sie zittern. Dann fliegt mein Blick zu einer anderen Schublade.
Mit einer schnellen Bewegung packe ich den Griff und ziehe sie auf. Wieder steigt schwarzer Rauch empor und vernebelt meine Sicht. Doch nun tauchen Wörter in meinem Kopf auf. Gedanken.
Wie summende, wütende Bienen klingen sie in meinem Kopf, in meinen Ohren, zischen gehässig.
Was tust du da ... Steh auf ... I-Ich kann nicht mehr- Stop! ... Wo bin ich ... Was ... was ... Nutzlos, gib auf - Wieso - Zeig ihnen - Schmerzen - Schlaf, Schlaf - Narben - Kann ich, bitte, ich weiss nicht - aber ... Nein ...
Es ist ein Durcheinander aus nicht vervollständigten Sätzen und einzelnen Wörtern. Sie überschneiden sich und dröhnen laut in meinem Schädel, sodass es brummt. Zwischendurch höre ich ein Schluchzen, Weinen, Schreie, Rufe, Geflüster, spöttelndes Gelächter, Wimmern ... doch das Schlimme ist, dass das alles mit meiner Stimme ausgedrückt wird. Abgesehen von dem wütenden Zischen.
Ein Schrei, ob nun aus dem Hier und Jetzt aus meinem Mund gekommen oder aus meinen Gedanken, bringt mich zurück in die Realität. Einige Sekunden lang ist alles schwarz, ein hohes Piepsen im Ohr, bis meine Sicht wieder klar wird und meine Hände auf der geschlossenen Schublade liegen.
Ab dann ist alles verschwommen.
Viele Schubladen reisse ich auf, dort vorne eine, hinter mir, dann daneben. Ich weiss nicht, warum ich das tue. Vielleicht denke ich, Schmerz lässt mich lebendig fühlen.
Bilder und Szenerien, Gedanken schieben sich in mein Blickfeld und füllen meine Ohren. Und der Rauch umspielt mich unnachgiebig, so wie ich eine Schublade nach der anderen öffne.
Geh, geh - ein leeres Zimmer, weisse Wände, weisses Bett, weisse Hände - wo bist du, suche dich - dort entlang, nein, dort ... Menschen um mich herum, ihre Blicke voller Unsicherheit, Mitleid und die Trauer, wenn jemand sich zum Negativen geändert hat ... schlaf, nein, nicht, du - Halt, steh auf, STEH AUF - ein kleines Kind, lachend, eine Sommerwiese - eine Mutter, weinend, haltlos - reiss dich zusammen ...
Schmerzvoll.
Angst. Das ist das Nächste, was mich ausfüllt. Unter anderen Umständen wäre ich nicht erfreut bei diesem Gefühl, doch jetzt hören alle Gedanken und Erinnerungen schlagartig auf, in meinem Kopf umher zu spuken. Endlich fühle ich wieder etwas, richtig.
Doch im nächsten Moment übermannt mich das Gefühl zu stark. Eine Strafe für meine Erleichterung.
Aus einem Impuls heraus springe ich vom Boden auf, obwohl ich nicht mal weiss, wie ich dorthin gelangt bin. Ich stolpere zurück, bis mein Rücken an die Wand stosst, ein Griff der Schublade sticht mir ins Kreuz. Mit weit aufgerissenen Augen starre ich auf jene Schublade auf der anderen Seite.
Nach ein paar Sekunden merke ich, dass ich panisch auf den Boden gesunken bin und zusammenkauere. Voller Angst schreie ich und lege die Hände auf meine Ohren, um mich selbst nicht zu hören. Denn ich kann mich nicht stoppen, die Angst hat die Kontrolle über mich genommen.
Eine Idee bahnt sich in meinen Kopf an, denn wenn ich nicht stark genug war, musste dies ein anderes Gefühl für mich sein.
Ich taste mit einer Hand, unfähig, den Blick von der anderen Schublade zu wenden, nach einer anderen neben mir und reisse die nächstbeste auf. Sobald dessen Rauch mich erreicht, packt mich die Wut.
Nun schreie ich nicht mehr, als würde gleich etwas Gefährliches auf mich zukommen, ich stosse einen Wutschrei aus und rapple mich auf. Adrenalin rauscht durch meine Venen und in kurzen Sätzen bin ich auf der anderen Seite und schlage die Angst-Schublade mit einem Ruck zu.
Schnaufend und zitternd blicke ich auf die geschlossene Schublade. Dann löse ich meine verkrampfte Hand um den Griff und mein Blick wandert zu den anderen Schubladen.
Der Rauch scheint endlos zu sein. Nicht nur aus einer Schublade, nein, aus mehreren Dutzenden steigt er auf und vermischt sich. In Form einer Riesenwolke ist er auf dem Weg zu mir. In meiner Attacke von vorhin habe ich viele geöffnet, wie ich erst jetzt bemerke. Und ich spüre Hass gegen sie. Aber auch noch etwas anderes.
Ich will hier weg.
Dieser Gedanke stammt ausnahmsweise nur von mir, im Hier und Jetzt. Meinem Fluchtinstinkt folgend und ohne zu zögern, drehe ich mich um und renne los, weg von den geöffneten Schubladen und dem Rauch.
Das Blut rauscht in meinen Ohren und nur dank des Adrenalins kann ich mich fortbewegen, sonst wäre ich wahrscheinlich umgeknickt. Denn alles pocht in mir, brodelt und meine Lunge arbeitet auf Hochtouren. So wie mein Gehirn, und während dem Rennen wird mir so einiges klar.
In den Schubladen sind all meine Erinnerungen und Gedanken. Aber auch Gefühle, und die sind stärker als alles andere. Doch eines haben sie alle gemeinsam.
Sie sind negativ.
Und das flüstert mir das Zischen zu, es wirbelt in meinem Kopf, zerreisst mich von innen. Wie ein Tier nagt es mich an. Reihen von Schubladen ziehen an mir vorbei, oder ich an ihnen, so genau kann ich das nicht sagen. Es fühlt sich wie eine Unendlichkeit an, die ich damit verbringe, durch diesen Gang zu rennen. Der Strick ist wieder da, er zieht und zieht.
Bis er ein Ende hat.
Und eine Wand auf mich wartet. Direkt vor mir, zuerst in der Ferne, aber dann nur noch einige Meter entfernt stellt sich eine Wand in den Weg. Ich bleibe wie angewurzelt stehen.
Eine wahrhaftige Wand. Es sind keine Schubladen darin. Jedoch ... ich irre mich, eine einzige prangt dort in der Mitte. Aber darum herum ist das leere Nichts, welches mich aufhalten wird, sollte ich es berühren.
Aber diese Schublade. Sie ist weiss.
Ich stolpere auf sie zu, wie eine Verdurstende, die zu einem Brunnen torkelt. Sie sieht genau gleich aus wie die anderen, nur ist sie eben im weissesten Weiss, das ich je gesehen habe. Sie strahlt in einem unnatürlichen, reinen Licht, welches aus dem Inneren zu pulsieren scheint. Beim Näherkommen erkenne ich kleine verschlungene Verzierungen. Nein, es ist wegen der Ausstrahlung, welche in meine Seele dringt und auch die Wut vertreibt, sodass ich auf die Knie sinke und mich an die Wand lehne. Diese Kraft muss wohl alle schwarzen Schubladen an dieser Wandseite vertrieben haben. Mein Blick haftet an ihr.
Und noch etwas ist anders an ihr.
Es ist die einzige Schublade, welche ein Schloss hat.
Mit meinen Fingerkuppen umfahre ich die Öffnung, die nur einen Schlüssel zulässt. Ich spüre, wie die Positivität aus diesem kleinen Loch dringt, ich kann es förmlich sehen. Und ich sehne mich danach, diesen silbernen Griff zu packen und die Schublade aufzureissen.
Und genau das tue ich. Ich umschliesse den Griff und ziehe daran.
Doch sie geht nicht auf.
Nein.
Ich ziehe mehr daran, rüttle und reisse, aber nichts passiert. Das kann nicht wahr sein. Ich brauche den Schlüssel.
Ich lasse los und schaue mich um. An den Seiten sind die schwarzen Schubladen, an der Wand mit der weissen nur die kühle Schwärze und sonst keine Spur eines Schlüssels. Ich gehe ein paar Schritte, raufe mir die Haare, stöhne frustriert auf. Ich brauche diesen Schlüssel, oder ... ich möchte den Satz nicht zu Ende denken.
In dem Moment hat mich der Rauch eingeholt. Ich erstarre in meiner Bewegung.
Zuerst ist es nur dieses Zischen, welches lauter wird. Bis ich dann auch die wabernde Finsternis erkenne. In Form einer gigantischen, raumausfüllenden Wolke. Und sie kommt immer näher. Es scheint so, als ob nun durch Geisterhand die anderen Schubladen auch geöffnet worden sind. Vielleicht hatte nicht nur die weisse Schublade eine magnetische Anziehung auf mich. Vielleicht zieht auch der Rauch von aussen den Rauch vom Inneren der Schublade an. Wie eine Kettenreaktion.
In wenigen Schritten bin ich wieder bei der weissen Schublade. Ich ziehe und zerre, aber es geht nicht, ich bin zu schwach.
Und wie ich da stehe, langsam meine Hoffnung aufgebe, ist der Rauch nur noch einige Meter von mir entfernt. Aber anstatt wie eine Mauer auf mich zuzukommen, wölbt sich die Wolke um mich herum, als ob sie Mühe hätte, in die gute Atmosphäre der weissen Schublade einzudringen. Doch ... es reicht nicht.
Von allen Seiten kommt der Rauch. Ich lege ein Ohr an die weisse, unerschütterlich glühende Schublade, doch nur das altbekannte Zischen erfüllt meinen Hörgang. Es übertönt alles. Und als ich durch das Schlüsselloch schauen will, kann ich nur einen kurzen Lichtblitz erkennen, bis die Schwärze sich in mein Blickfeld schiebt und ich von aussen und von innen mit Rauch erfüllt bin.
«Nein!»
- - -
Vielleicht zeigt der Rauch der Schubladen die Wurzeln einer Depression. Auf jeden Fall weiss ich, dass es tiefe Traurigkeit ist. Na ja, eigentlich weiss ich nur eines ganz sicher. Wie schon gesagt.
Manchmal ist der schlimmste Ort, an dem man sein kann, der eigene Kopf.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro