Wir
Halbfinale
Thema/Genre: Romance
Gewähltes Unterthema: Forbidden Love
Anzahl Wörter: 2290
A/N: Meiner Meinung nach passt der verlinkte Song oberhalb des Kapitels gut zur Geschichte, da es ebenfalls dieses Thema behandelt :)
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Ich lege den Kopf in den Nacken und starre hinauf in den grauen Himmel. Der Stamm des Baumes schmiegt sich an meinen Rücken und ich spüre die raue Struktur der Rinde durch meine Jacke. Der Herbstwind fordert die Blätter, welche noch an den Ästen hängen, zu einem Tanz auf. Sie lassen sich von dem Baum lösen, wirbeln in der Luft umher und fallen zu Boden, wo die anderen Blätter in Haufen auf sie warten.
Ein gelbes Blatt fällt auf meine Nase. Ich hole tief Luft, mein Brustkorb hebt sich, und beim Pusten senkt er sich wieder. Das Blatt flattert von meiner Nase und ich beobachte, wie es neben mir auf der Erde zu Boden kommt. Es scheint so, als ob ich schon eine kleine Ewigkeit hier zwischen den Bäumen sitze und warte, bis ich flüchtig etwas aus dem Augenwinkel wahrnehme. Auf der Stelle richte ich mich auf und versuche, einen Blick auf die Person zu erhaschen, welche durch den Wald huscht.
Und huschen ist tatsächlich das richtige Wort, denn der Junge in meinem Alter geht über Stöcke und Blätter, als ob er schweben würde. Nur leises Knick-Knack der Schritte und die üblichen Waldgeräusche sind zu hören.
Ich mustere den Jungen, der immer näher kommt. Mit seinem leichten Gang geht er einige Meter von mir entfernt vorbei, ohne mein gutes Versteck zu entdecken, und haltet bei einem bestimmten Baum an. Ich halte meinen Atem an, denn er tut genau das, was ich erwartet habe. Er reicht mit seiner Hand in eine Baumritze und holt ein Buch hervor.
An diesem Punkt bemerke ich, dass meine Hand zittert, als ich nervös beginne an meinen Fingernägel zu kauen. Der Junge schlägt das Buch auf und lehnt sich sitzend, genau wie ich vorhin, an den Baum. Er zückt einen Stift und beginnt ohne zu zögern mit dem Schreiben.
Ich weiss seinen Namen. Ich weiss wer er ist. Und nun weiss ich auch sein kleines Geheimnis.
Jeden Sonntag gehen wir in die Kirche. Meine Eltern haben kein einziges Mal ausgelassen, nicht mal an meinem vierzehnten Geburtstag vor einigen Jahren. Und natürlich komme ich immer mit. Etwas anderes steht nicht zur Diskussion.
Jedes Mal ist dieser Junge dort, etwa in meinem Alter, und ich glaube, er heisst Elias. Diesen Namen habe ich zumindest schon ein paar Mal aufgeschnappt, als der Pfarrer nach den Predigten mit ihm gesprochen hat. Er ist sein Vater, was offensichtlich voraussetzt, dass sein Sohn jedes Mal ordentlich gekleidet auf seinem Platz sitzt. Immer in der fünften Reihe, rechts aussen.
Aber dass ausgerechnet er, als Pfarrerssohn ... er muss es noch viel schwieriger haben als ich.
Vor ein paar Monaten habe ich bei einer meinen üblichen Streifzügen diese Baumritze gefunden. Purer Zufall. Dieses Buch, in welches er nun hineinschreibt, war darin. Meine Neugier war nicht zu bändigen und ich musste einfach einen Blick hineinwerfen. Es entpuppte sich als Tagebuch, wie ich schnell feststellte ...
16. März 1956
Liebes Tagebuch; so beginne ich mit meinem Eintrag, obwohl es sich komisch anfühlt, mit einem Buch zu schreiben ...
Dies war der erste der zwei Einträge, welche zu der Zeit eingeschrieben waren, und doch waren sie genug, um mein Herz gefährlich schnell klopfen zu lassen.
Ab dann wurde es zu einer Gewohnheit; der Unbekannte schrieb in sein Tagebuch, ich würde es nachlesen. Langsam fühlten sich seine Gefühle und Gedanken an wie meine, möglicherweise, weil sie so ähnlich waren. Ich lernte ihn kennen, ohne ihn je getroffen zu haben, ohne, dass er je mit seinem Namen unterschrieb, und doch hatte ich meine Vermutung, wer er sein könnte.
Einmal schrieb er, dass er sich solches Verlangen nicht erlauben könne, wenn der Glaube sein Vater war. Und nun hat sich mein Verdacht, dass es Elias sein könnte, bestätigt.
Von weitem betrachte ich sein Profil, die gebeugte Haltung seines schlanken Oberkörpers über dem Buch. Zu gerne würde ich ihm den Stift abnehmen, seine bestimmt weichen Hände berühren, und mit Grossbuchstaben ins Buch schreiben: Ich auch.
Aber ich sitze nur da, verberge meine Gedanken und Wünsche vor dem Jungen und warte, bis er fertig geschrieben hat. Er klappt das Buch zu, drückt es an seine Brust und prüft die Umgebung mit einem Blick, den ich trotz Distanz als ängstlich und einsam identifiziere. Ich ducke mich mit geschlossenen Augen hinter den Stamm und warte so lange, bis der Junge aufsteht, das Buch versorgt, an mir vorbeigeht und seine Schritte verstummen. Dann schlage ich die Augen auf und entspanne meine verkrampften Schultern. Zwar hat mich sein Blick nie getroffen, aber dennoch bohrt er sich in mich hinein und klammert sich an mein Herz fest, auch noch an den nächsten paar Tagen.
Meine Gedanken sind nie dort, wo sie sein sollten, und nie ganz weg von dem Jungen. Mir wird immer wie mehr bewusst, dass ich jemand gefunden habe, der ebenfalls das gleiche Geschlecht anziehend findet. Wann wird das je wieder geschehen?
«Johann!», die scharfe Stimme meiner Mutter unterbricht meine Gedanken. «Was stehst du herum? Zieh dir etwas anständiges an, wir brechen gleich auf!»
Stimmt, es ist Sonntag. Ich besinne mich, unterdrücke einen Seufzer und ziehe mir Mantel und Schuhe an. Dann verlassen wir das Haus.
Er ist auch wieder da. Elias sitzt an der selben Stelle wie gewöhnlich, die Hände gefaltet auf dem Schoss. Wieso sollte er auch nicht hier sein, denke ich und setze mich auf die harte Bank. Nichts hat sich verändert. Nur ich sehe ihn nun mit anderen Augen an.
Aber es könnte sich etwas ändern; dieser Gedanke begleitet mich durch die Predigt. Die Zeit verfliesst und ich kann meine Augen nicht von ihm abwenden. Als alle um mich herum aufstehen, schliesse ich mich der Menge an und höre nur mit halbem Ohr den Gesprächen meiner Eltern zu. Ich warte, bis sie genug über unsere senile Nachbarin gelästert haben. «Ich mache einen kleinen Spaziergang, um meine Beine aufzulockern. Wartet nicht auf mich.» Mein Vater schaut mich misstrauisch an, grummelt etwas Missbilligendes, aber gibt sein Einverständnis. Auch Mutter nickt. «Sei nicht zu lange fort!»
Ich nicke und verlasse die Kirche. Ich begegne nicht vielen Leuten, und als ich den Wald betrete, umgibt mich nur noch Natur. Auf einmal scheint es so, als sei ich in der Zeit zurückgereist und es ist wieder der Tag, als ich die Identität des Tagebuchschreibers enthüllte - zumindest das Wetter und die Stimmung würden passen.
Ich komme beim Baum an und bleibe vor ihm stehen. Mein Herzschlag passt sich dem Klopfen eines Spechts an, welcher in der Nähe sein muss. Ich greife ins Baumloch und hole das Tagebuch heraus. Schnell blättere ich durch die Seiten und suche den letzten Eintrag, den ich noch nicht gelesen habe.
16. Oktober 1956
Liebes Tagebuch
Wie oft habe ich mich schon wiederholt, und doch kann ich es nicht genug sagen: so gerne ich den Vorstellungen und dem Glauben meines Vaters vertrauen möchte, bin ich nicht davon überzeugt, dass die höhere Macht uns Menschen so moralisch unterscheidet und bewertet. Zumindest in diesem Fall; warum kann Liebe nicht immer Liebe sein? Warum kann man dies verbieten?
Es ist nicht fair, und ich weiss nicht, ob ich je jemanden treffen werde, der auch so denkt.
Ich kann nur davon träumen.
Hätte ich einen Stift und würde der Mut meine Hand leiten, wäre ich schon lange dabei, unter diesen Text «Ich auch» zu schreiben. Nicht nur das, ich würde ihm alles von mir preisgeben, denn es wird nichts Neues von mir sein, nur die ihm bekannten unterdrückten Gedanken.
Ich sitze so sehr in meinen Gedanken fest, dass ich das zu laute Knacksen einfach überhöre. Plötzlich drängt es in mein Bewusstsein, aber da ist es schon zu spät. Vor mir tritt Elias hinter Bäumen hervor, sein zu Boden gerichteter Blick wandert nach oben und kreuzt meinen. Schock ist in seinen Augen zu lesen, ein Spiegelbild von meinen.
Das Buch gleitet mir aus den Händen und fällt auf den weichen Waldboden.
Elias schaut auf den Boden. Sein Mund, welcher sich langsam vor Staunen öffnet, unterstreicht die verdutzte und auch entsetzte Miene. Obwohl ich krampfhaft nach passenden Worten suche, sprudeln nur nichtssagende Worte aus meinem Mund.
«Ich ... es ist n-nicht das, wo-wonach es aussieht, ehrlich ...», stammle ich. Doch er starrt weiterhin auf das Buch, bis sich seine Augenlider schliessen. Er fasst sich an die Schläfe. «Ich hätte es nicht tun dürfen», höre ich ihn murmeln. «Wieso habe ich das nur getan.»
Mein Kopf rauscht so laut wie der Waldbach und erlaubt es mir nicht, einen klaren Gedanken zu fassen. Wo bleibt der Mut, wenn ich ihn mal bräuchte? Und hinter welchem Baum steckt die Antwort auf die Frage, wie ich mit Elias Blick, den er mir nun wieder schenkt, klarkommen kann?
Denn dieses Mal sehe ich in seinen Augen seine verletzliche Seite. Aber doch hört sich das, was er nun sagt, so erschöpft und traurig an wie die Worte eines alten Mannes. «Dann sei es eben so. Erzähle den Leuten, welches Ungeheuer ich bin.»
Endlich normalisiert sich mein Zustand und ich hebe das Tagebuch hoch. Dann verringere ich den Abstand zwischen uns, halte ihm das Buch hin. Er lässt mich nicht aus den Augen, ich ihn auch nicht, und er greift blind nach dem Buch. Ich lasse es nicht los, sodass wir es wie einen Schatz zwischen uns halten.
Und mit einem Reflex, den ich mir nicht erklären kann, berühre ich seine Hand. Er zuckt leicht zusammen und sein Blick schnellt ganz kurz nach unten. Aber er reklamiert nicht, als ich seine Hand hochhebe und meine Hand um seine schliesse. Es fühlt sich gut an.
Ich atme frische Waldluft ein und wieder aus. «Nein», sage ich ruhig. Ich sollte noch etwas dranhängen, aber so gelassen bin ich trotz den jüngsten Ereignissen nicht, und ausserdem halte ich Händchen mit einem Jungen, was wieder den Waldbach in meinem Kopf hervorruft. So stehen wir da und dieses kleine Nein verbindet unsere Blicke wie Ketten; das Buch bildet das Schloss, welches versiegelt.
Nur Sekunden später werden wir in die Realität zurückkatapultiert. Es ist, als ob sich die Stimmung schon verändert hat, bevor ich oder Elias den Mann bemerken konnten. Die Geräusche des Waldes treten wieder in den Vordergrund, vor allem ein überraschtes Keuchen. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Elias ebenfalls den Kopf dreht, zu dem Mann hin, der da steht.
Er kam wie aus dem Nichts. Verblüfft blickt er zwischen uns hin und her. Ich nehme seine einfache Kleidung wahr und vermute, dass es ein Förster sein muss. «Was ...», setzt er dann, bevor sein Blick auf das Buch fällt.
Unsere Hände.
Ich bin überrumpelt und Elias kann seine Hand nicht schnell genug wegziehen. Zudem stehen wir sehr nahe beieinander, sodass man nur eins und eins zusammenzählen muss. Was der Mann gerade tut. Seine Empörung spricht Bände.
«Schweinerei! Gesindel! Macht, dass ihr fortkommt!», ruft er aus und macht grosse Schritte auf uns zu. Nur ein kurzer Blickwechsel zwischen mir und Elias reicht, um die Flucht zu ergreifen. Gemeinsam rennen wir vor dem Fluchen des Mannes fort. Ich stolpere neben Elias über Wurzeln und durchs Dickicht, bis ich nur noch meinen eigenen Atem höre und meine Brust zu explodieren droht. Ich verlangsame meine Schritte und werfe einen Blick nach hinten, um mich zu versichern, dass wir den Mann abgehängt haben. Dann sinke ich zu Boden, der Stamm eines Baumes gibt mir Halt und ich konzentriere mich voll und ganz auf meine nach Luft schreiende Lunge. Am Rande bekomme ich mit, dass Elias das Gleiche tut.
Nach einer gewissen Zeit bemerke ich, dass ich Elias Buch in der Hand halte. Und zwar so fest, dass meine Knöchel weiss sind. Ich lockere den Griff und blicke zu Elias, der mich schon anstarrt. Er sieht so erschöpft aus, wie ich mich fühle.
Ich schliesse die Augen. Lasse die Situation auf mich wirken. Sobald man sich mehr auf die anderen Sinne verlässt, wird alles klarer. Ich stelle mir vor, dass der Waldboden mir Kraft verleiht. Einerseits verleiht er mir Wurzeln, die mir meinen Platz zeigen, doch da ist auch eine Baumkrone, welche ihre Zweige in den freien Himmel reckt.
«Hat der Mann uns erkannt?», höre ich Elias fragen. «Oder könnte er uns wiedererkennen?»
«Ich denke nicht», antworte ich. Meine Stimme ist ein wenig heiser.
«Hoffentlich», murmelt Elias. Ich schlage meine Augen auf und beobachte, wie er seine Miene verzieht.
Ruckartig stehe ich auf, weshalb er mir seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Ich gehe auf ihn zu, bleibe stehen, strecke die Hand aus. Zögerlich ergreift er sie und lässt sich von mir hochziehen. Dieses Mal verschränke ich meine Hand mit seiner. Sie passen so gut zusammen, als ob sie für das gemacht wären.
«Was ich eigentlich sagen wollte ...» Ich muss hart schlucken und gucke zu Boden. «Nein, wollte ich sagen, das werde ich nicht tun. Dich verraten. Denn es gibt nichts zu verraten. Was du fühlst, ist nicht verkehrt. Und dein Tagebuch habe ich nur per Zufall gefunden, was auf keinen Fall meine Tat berechtigt. Aber du musst wissen, ich ... ich verstehe dich.» Für das, was ich als nächstes sage, muss ich mich zwingen, in seine Augen zu schauen. «Ich würde dich gerne kennenlernen. Richtig. Auf diese Art und Weise.»
Ich glaube, wir sind beide von der Situation überwältigt. Er schüttelt leicht seinen Kopf, runzelt die Stirn. «Die Leute ...», nur das flüstert er. Eine Welle von Angst durchströmt mich, so als ob er seine Furcht durch unsere verschränkten Hände zu mir schicken würde.
«Ich weiss», flüstere ich zurück. «Ich weiss.»
Und das ist bei weitem das Einzige, was ich weiss. Die Antwort aller Fragen bläst im Wind, hoch oben bei den Wolken des Herbsthimmels. Die gleichen Wolken, welche über dem Wald hängen, in dem Elias und ich per Zufall zusammengefunden haben. Möglicherweise ist das zwischen uns nicht erlaubt, aber vielleicht können wir dem Verbot der Gesellschaft trotzen.
Und möglicherweise ist da gar nichts zwischen uns. Aber es könnte etwas werden. Wir könnten etwas werden.
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