16.7 Kapitel
Zusammen hatten sie das Büro verlassen. Selene hatte dabei die ganze Zeit gestrahlt wie die Sonne selbst. Eos hatte hingegen weniger begeistert gewirkt. Sie hatte Selene zwar immer freudig zu gelächelt, als diese sie angesehen hatte, war aber zum Großteil in ihrer Gedankenwelt gefangen gewesen. Irgendetwas hatte sie wohl den restlichen Tag über beschäftigt. Der Tag war sowieso fast rum gewesen. Selene hatte Mark noch schnell mitteilen können, dass sie bereits in zwei Tagen aufbrechen würden um Louise zu finden. Dieser hatte im ersten Moment traurig gewirkt, hatte es aber schnell überspielen können. In ihrem überglücklichen Zustand hatte Selene das jedoch nicht mitbekommen. Dabei hatte sie auch total vergessen, dass sie zuvor noch mit ihren Gefühlen zu kämpfen hatte, als sie ihre nun wieder schwarzen Haare gesehen hatte.
Selene kuschelte sich in die weiche Bettdecke. Nur wenige Zentimeter neben ihr lag Eos und starrte an die Decke. Sie wirkte wie eine leblose Puppe. Selbst als Selene sie mehrere Male am Arm anstieß, reagierte sie nicht. Sie schob beleidigt ihr Kinn nach vorne und rief dann lauter den Namen ihrer Schwester. Erst dann wurde sie auf Selene aufmerksam. Verwirrt hob sie ihre Augenbrauen an und versuchte in dem Gesichtsausdruck ihrer Schwester herauszufinden was sie von ihr wollte. Nach einer Weile die sie mit stummen Anstarren verbracht hatten, räusperte sich Selene schließlich. »Ich wollte dir nur danken«, erklärte sie Eos. Wieder kuschelte sie sich in ihr Bett und rückte etwas näher an ihre Schwester heran, die sie zusätzlich in diesem kalten Zimmer wärmte. »Wofür?« Selene lachte leise in ihr Kissen. Die Müdigkeit hatte sie schlagartig überrollt. Es war ihr kaum noch möglich die Augen offen zu halten. »Für alles was du für mich in dem letzten Jahr getan hast.« Ihre Stimme war nur noch ein leises Flüstern und im nächsten Moment war sie auch schon verstummt. Sie ließ alle die überflüssige Luft aus ihren Lungen entweichen und begann regelmäßig zu atmen. Eos beobachtete sie eine ganze Weile. Jeden Atemzug von Selene nahm sie genau unter die Lupe. Schließlich ertappte sie sich, wie sie unbewusst zu lächeln angefangen hatte. Sofort verdüsterte sich ihre Stimmung. Hatte sie gerade wirklich gedacht, dass die Mondgöttin vielleicht ihre Freundin sein könnte - ihre erste Freundin? Als Erinnye ganz alleine in der Unterwelt hatte sie selten die Gelegenheit neue Leute zu treffen. Und wenn sie mal jemanden über dem Weg lief, dann war diese Person bereits tot und wandelte als Geist durch die staubige, trostlose Gegend im Hades. Auch wenn die Vorstellung wirklich schön war, hatte sie immer noch Pflichten die sie seit Anbeginn der Zeit zu erfüllen hatte. Schnell schlug sie die Decke zurück und stand auf, bevor sie sich noch in die einladenden Arme des Schlafes begeben konnte. Immerhin hatte sie heute Nacht noch etwas vor. Mit schnellen Schritten verließ sie das Zimmer und machte sich auf den Weg zum Schultor, welches wohl nie verschlossen wurde. Eiskalte Luft blies ihr entgegen, als sie in die dunkle Winternacht hinaus trat. Der Mond tauchte hin und wieder hinter den Wolken auf und erhellte kurz die Lichtung vor der Schule. Sie raffte sich zusammen und lief die Stufen nach unten hinein in den Wald. Das Messer, welches ihr unglücklicherweise auf dem Weg zu Erde aus der Hand gerutscht war, musste hier doch noch irgendwo liegen. Das Selene in diesem Strudel getötet werden sollte, war nicht geplant gewesen. Tisiphone hatte nämlich vor sie erst dann umzubringen, wenn sie entweder den Fluch wieder auf sich genommen hatte oder wenn sie wenigstens Louise gefunden hatten.
Blöderweise hatte Selene herausgefunden, dass Tisiphone nicht wirklich Eos war. Erst hatte sie gedacht, dass jetzt alles aus wäre und sie Selene vorzeitig umbringen musste, doch dann hatte sie doch die Möglichkeit gehabt ihr die grauen Blätter des Baumes zu verabreichen. Diese ließen nämlich die letzten paar Stunden vergessen. Je nachdem wie viel des Saftes der Blätter man aufgenommen hatte. Das Problem war jedoch, dass die Wirkung der Blätter nicht Ewig hielt. Tisiphone war nicht genau bekannt wann die Wirkung nachlassen würde, was bedeutete, dass sie einen Weg finden musste um Selene relativ bald wieder den Blättersaft zu geben.
Der nächste Morgen sah nicht anders aus als der Morgen davor. Zeitweise verschwand die Sonne hinter den dichten, grauen Wolken. Im Schulgebäude war es zwar nicht kalt, doch das was Eos und Selene an Kleidung zu Verfügung stand, war nicht gerade wärmend. Sie würden sich wohl noch einmal in den Waschraum schleichen müssen. Denn mit nur einer Bluse, die von Selene auch noch dazu total dreckig war, würden sie die Reise zu Louise nicht überleben. Immerhin hatten sie gerade Winter und die Temperaturen fielen stetig ab. Auch wenn sie den Gedanken nicht mochte ihre ehemaligen Mitschüler zu bestehlen, würde wohl kein anderer Weg daran vorbeiführen.
Eos hatte neben ihr noch fest geschlafen, also machte sie sich schon einmal alleine auf den Weg in den obersten Stock. Sie hatte die Zeit zwar nicht ganz im Auge, doch die meisten Schüler und Schülerinnen durften wohl gerade in ihren Klassenzimmern sitzen. Es würde also kein großes Problem werden sich die Klamotten zu besorgen.
Im Waschraum brauchte sie gar nicht lange suchen. Saubere Uniformen waren gleich gefunden und dazu hatte sie auch noch zwei Jacken und zwei Westen mitgehen lassen. Eos und sie mussten den Weg zum nächsten Flughafen, welcher in Edinburgh lag zu Fuß zurücklegen. Dieses Mal konnte sie nämlich niemand bringen. Der einzige mit einem Auto war wohl der Direktor, doch dass hatte er ihnen nicht angeboten und Selene wollte nicht so aufdringlich sein. Immerhin hatte er ihnen mehrere Male zu verstehen gegeben, dass er ihnen nicht traute und er hatte ihnen nur die Flugtickets besorgt, dass er später seine Hände in Unschuld waschen konnte. Dennoch war die Mondgöttin überglücklich über diese zwei Flugtickets. Sonst hätte das eine Reise von Monaten werden können, wären sie zu Fuß durch Großbritannien gewandert. Dennoch mussten sie bereits heute Mittag aufbrechen, wenn sie am nächsten Tag den Flug erwischen wollten. Der Weg durch den Wald, welcher die Schule so weitläufig umgab, würde sicherlich mehrere Stunden dauern. Das heiß dann wohl, dass sie sich wieder einmal von Mark verabschieden musste. Sie hatte keine Ahnung für wie lange oder ob sie ihn überhaupt einmal wiedersehen würde. Wie das alles ausgehen würde, das lag noch in den Sternen.
Es war kurz vor zwölf Uhr Mittag. Selene und Eos waren gerade dabei etwas Proviant und was sie sonst noch so brauchten in zwei Rucksäcke zu stecken, die Eos irgendwo aufgetrieben hatte, als es an der Tür klopfte. Ohne auf eine Antwort zu warten trat Mark kurz darauf ein. Kurz schien er überrascht, als er die Schwestern in ihrer neuen Kleidung sah. Er wusste natürlich sofort, dass diese ihnen nicht gehörte, wollte allerdings auch nicht darauf eingehen. Selene hob ihren Kopf und erstarrte in ihrer Bewegung, als sie ihn erblickte. Er sah so unfassbar gut aus in seiner Schuluniform. Er würde sofort Model werden können, wäre er nicht auf dieser Schule mitten im Nirgendwo. Da fiel ihr ein, dass sie ihn noch nie gefragt hatte, was er einmal machen wollte, sobald er die School of Elements abgeschlossen hatte. Wollte er etwa tatsächlich in den Rat eintreten oder hatte er vielleicht auch andere Träume. Nicht jeder Elements musste nämlich einen Job in deren Kreisen annehmen. Sie konnten auch wie jeder andere ganz normale Jobs ausüben. Mehr als die Hälfte der erwachsenen Elements hatten sogar einen normalen Job und viele ihrer menschlichen Kollegen wussten nicht einmal, dass sie Elements waren. Es war zwar noch nie ein Geheimnis gewesen, dass Elements unter den Menschen lebten, aber dieses Versteckspiel war durch Helmut Trumble entstanden. Seine Tyrannei war zwar beendet, dennoch fürchteten sich immer noch viele Elements, dass man sie umbringen würde, sobald sie ihre wahre Identität preisgeben würden.
Eos räusperte sich laut um ihre Schwester wieder zum Leben zu erwecken. »Ich muss noch schnell etwas erledigen. Wir treffen uns dann vor dem Schulgebäude, okay?« Sie stopfte noch die Weste in ihren Rucksack, machte ihn zu und schwang ihn sich über die Schulter, bevor sie dann lautlos den Raum verließ. Dabei konnte sie einfach nicht anders als ihre Augen zu verdrehen. Als ob die Zwei etwas so intimes zu besprechen hätten, dass sie nicht zuhören durfte.
Als die Tür zufiel rann auch schon die erste Träne über ihre Wange. Sofort kehrte der liebevolle Ausdruck von damals in seine Augen zurück. Er lächelte verlegen, kam dann mit zwei großen Schritten auf sie zu. Nur wenige Millimeter von ihr entfernt blieb er dann stehen und betrachtete sie eingehend. Gerade wollte Selene sich die Träne wegwischen, als er ihre Hand ergriff. Verdutzt sah sie ihn tief in seine Augen. Er hatte all sein Misstrauen gegenüber ihr abgelegt. Ob er das nun getan hatte, weil er ihr wirklich wieder vertraute oder weil er es als einzige und letzte Chance sah sich wieder mit ihr zu versöhnen, da er genauso gut wie sie wusste, dass sie vermutlich nicht wieder zurückkehren würde. Langsam hob er seine Hand und wischte mit seinem Daumen ihre Träne weg. Diese zärtliche Berührung ließ sie lächeln. Ihr Lächeln schien auf ihn über zu gehen, denn schon im nächsten Moment strahlte er ebenfalls. Am liebsten würde sie ihn mitnehmen, aber er hatte ein eigenes Leben mit eigenen Verpflichtungen. Es stand ihr nicht zu sein ganzes Leben umzukrempeln. Immerhin waren sie sich erst gestern wieder begegnet. »Du brauchst nicht traurig sein, wir werden und bestimmt irgendwann wiedersehen«, sagte er ihr. Doch das war eine Freudenträne gewesen und keine, die sie aus Traurigkeit vergossen hatte. Sie freute sich einfach so Louise endlich wiederzusehen und die Sache ein für alle Mal zu beenden. Aber sie sagte es ihm nicht, denn die Tränen die ihr nun über die Wangen liefen waren sehr wohl aus Traurigkeit vergossen worden. Sie schlug betrübt die Augenlider nieder. All das hatte er und sie schon einmal durchmachen müssen und schon wieder hatte sie zugelassen, dass ihre Gefühle sie überrollt haben. »Hey, hey!«, sagte er und fuhr wiederholt über ihre Wangen. »Hör zu, alles wird gut werden. Du wirst diese Sache sicherlich wieder in Ordnung bringen, okay?« Sie nickte wild, brachte es aber nicht übers Herz ihn wieder in die Augen zu sehen. Denn sie wusste, dass es sie sofort daran erinnern würde, wie sie ihm genau an dieser Stelle erklärt hatte, dass es zwischen ihnen aus war. »Ich danke dir. Danke dafür, dass du uns geholfen hast«, flüsterte sie und umarmte ihn ganz fest. Dabei konnte sie jeden einzelnen Muskel unter seinem Hemd spüren. Wiederholt war sie überrascht, wie sehr er sich doch entwickelt hatte. Er verkrampfte sich im ersten Moment und schien sich unsicher zu sein, ließ ihre Berührung dann aber doch zu. Seine Arme um ihren Körper fühlten sich einerseits so vertraut an, andererseits schien etwas zu fehlen.
Sie lösten sich voneinander und Selene schnappte sich ihren Rucksack. Eos würde bestimmt schon auf sie warten. Wenn sie noch vor Anbruch der Dunkelheit den Wald hinter sich haben wollten, dann sollten sie besser schon losgegangen sein und nicht immer noch ihre Zeit in dieser Schule vertrödeln. »Bis bald«, sagte sie und nahm den Rucksack auf ihren Rücken. Kurz wartete sie auf eine Reaktion von Mark, aber diese blieb aus. Er blieb einfach ruhig und starrte auf den Boden. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sich ebenfalls verabschieden würde, doch er tat es nicht. Nicht einmal, als die Tür hinter ihr zuschlug. Einen Moment wartete sie noch und lauschte. Mark schien sich aber nicht zu bewegen. Etwas traurig darüber setzte sie sich in Bewegung und ging den dunkeln Gang entlang.
Kurz bevor Selene das Ende des Ganges erreicht hatte, hörte sie wie die Tür ihres alten Zimmer geöffnet wurde. Dann vernahm sie Schritte, die sich ihr schnell näherten. Langsam kam sie zum stehen und drehte sich um. Mark kam auf die zu gerannt und rief ihren sterblichen Namen. »Mark, was is-«, der Rest ihres Satzes blieb an seinen Lippen hängen. Selene war ganz überrascht von den plötzlichen Kuss, dass sie unfähig war sich zu bewegen.
Er hatte seine Hände in ihre Haare vergraben und küsste sie, wie er sie schon seit einer halben Ewigkeit küssen wollte. Auch sie gab sich den Kuss hin. Seine Lippen waren so weich und er küsste wirklich gut. Doch irgendetwas fehlte und irgendetwas fühlte sich so verdammt falsch an. Irgendetwas in ihr wehrte sich gegen ihn, bis sie ihn schließlich sanft von sich drückte. Erst wollte er nicht nachgeben, zog sich dann aber doch zurück. Verwirrt sah er ihr in die Augen und dann wusste sie die Antwort. Das was gefehlt hatte war echte Liebe. Die ganze Zeit hatte sie gedacht, dass sie ihn immer noch lieben würde, aber dem war anscheinend nicht mehr so. Zwischen ihnen war nichts mehr. Es hatte einfach nicht gefunkt. »Mark, es tut mir so leid«, flüsterte sie. Betrübt ließ er seinen Kopf hängen. »Ich weiß schon, ich habe mir bereits gedacht, dass nicht ich es bin den du liebst, trotzdem wollte ich mir sicher sein. Nun habe ich meine Antwort.« Er hatte es also bereits gewusst, bevor sie es überhaupt bemerkt hatte? Aber wie..? »Du solltest gehen.« Er nickte in Richtung Eingang. »Das sollte ich tatsächlich«, sagte sie, bewegte sich aber keinen Millimeter. Sie konnte ihn doch nicht wieder so stehen lassen. Genau das hatte sie vermeiden wollen und doch war es wieder passiert. »Mark..« »Sunshine, es ist in Ordnung. Wirklich.« Mark umfasste ihr Gesicht mit seinen Händen und richtete es so aus, dass sie ihn ansehen musste. Er lächelte und es wirkte nicht einmal gefälscht. Tatsächlich konnte sie auch sehen, dass er traurig war, doch das war nicht markant. Anscheinend war er wirklich davon ausgegangen, dass sie ihn zurückweisen würde. »Aber ich..« Sie wollte irgendetwas sagen, wusste aber wirklich nicht was. Nichts konnte beschreiben wie verwirrt sie gerade war. »Geh jetzt, deine Schwester wartet.« Die wirren Worte, die sowieso keinen Sinn ergeben hätten, blieben in ihrem Hals stecken. Zögerlich ging sie ein paar Schritte rückwärts. Erst langsam, doch als Mark sie aufmunternd anlächelte, drehte sie sich schließlich um. Am liebsten wäre sie nicht gegangen, aber er hatte ja recht. Sie musste gehen. Doch die Sache war noch nicht vorbei. Irgendwann würde sie sich bei ihm erklären können.
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