14.1 Kapitel
Nun standen sie sich also gegenüber. Der Junge, dem sie als Einzigen vertrauen konnte. Den Einzigen, den sie mehr über sich erzählt hatte als sonst jemanden. Mark war für sie da gewesen, als es ihr dreckig gegangen war. Er hatte auf sie aufgepasst und dafür gesorgt, dass man sie nicht noch mehr verletzen konnte. Dieser nun so fremd scheinende Junge war es gewesen, welcher sie vor Louise verteidigt hatte und welcher sie wieder zurück ins Krankenzimmer gebracht hatte. In seiner Gegenwart hatte sie sich immer schon wohl gefühlt und trotzdem hatte sie ihn verletzt. Er war vor mittlerweile einigen Monaten zu ihr ins Zimmer gekommen und hatte sie aufgefordert mit ihm zu reden. Sie hatte geredet und ihm mit einem letzten Kuss das Herz gebrochen. Selene würde nie vergessen, wie er ausgesehen hatte, als er nach ihren letzten Kuss das Zimmer verlassen hatte - ohne ein einziges Wort zu sagen. Immer schon hatte er sie einfach so hingenommen wie sie war. Nie hatte er nachgefragt. Er hatte sie ihr Halt geboten, als sie am abstürzen war und er hatte sie gehen lassen, als sie gehen musste.
Es war hart für sie ihn anzusehen, wenn sie wusste, dass sie ihn verletzt hatte. Stundenlang hatte sie einfach nur seiner Stimme gelauscht, wie sie es bei fast jedem getan hatte. Nie hatte sie ihn gesehen und doch jedes Mal gewusst, wenn er in ihrer Nähe war. Ihre Liebe war vielleicht nichts besonderes gewesen. Sie war kurz und nie war sie der Weg gewesen, auf welchen Selene gegangen war. Eher wie ein Trampelpfad neben der zum Großteil düsteren Straße ihres Lebens, die sie mit Lügen, Verstecken und Angst entlang gegangen war. Daraus hätte nie etwas werden können. Und was Selene in diesem Moment noch härter traf, als ihn wieder zu sehen, war die Tatsache, dass sie ihn beinahe vergessen hatte. All die Zeit, die sie getrennt waren hatte sie beinahe nie an ihn gedacht. Ihr halbes Leben hier auf der Erde und die Zeit danach hatte sich beinahe durchgehen um Louise gedreht. Ihre einzig richtige Freundin. Und schon wieder ging es um das schwarzhaarige Mädchen mit den Lockenkopf. In all dieser Zeit hatte Mark nur eine Nebenrolle gespielt. Er mag vielleicht unwichtig geschienen haben, doch für sie war er der nötige Halt gewesen. Durch ihn hatte sie wieder Fuß gefasst, als sie mit beinahe allem überfordert war. Durch ihn konnte sie weiterleben und das alles durchziehen. Mark war also weitaus wichtiger gewesen, als es vielleicht gewirkt hatte. Verdiente er daher nicht die Wahrheit? Verdiente er nicht zu erfahren, was geschehen war? Wer da nun tatsächlich vor ihm stand?
Eos Blick huschte zwischen den Zweien hin und her. Würde ihre Augen noch schneller hin und her wandern, dann würde sie vor Schwindel umfallen. Doch weder Mark noch Selene bemerkten das Mädchen neben ihnen. Beide starrten sich nur stumm an. Mark wirkte genervt über die beiden Mädchen. Immer wieder musste er Schüler zum Direktor schleppen, die die Regeln einfach nicht akzeptierten. Aber das war nun einmal zu seiner Aufgabe geworden. In Selene wirbelten hingegen alle Emotionen, die man sich nur vorstellen konnte. Von außen sah man sie allerdings nur mit halb geöffneten Mund sprachlos wie ein Zombie da stehen. Die Schüler, die neben ihnen durch den Gang eilten warfen ihr schon Blicke zu. Manche von ihnen würde Eos als eifersüchtig deuten. Andere schienen Selene einfach nur als Merkwürdig abzustempeln. Selbst Eos musste zugeben, dass sich ihre Schwester äußerst komisch verhielt.
Sie schluckte den Klos in ihren Hals hinunter und öffnete ihren Mund um zu sprechen, doch es kamen keine Wörter heraus. Dabei hatte sie vor Sekunden noch gewusst, was sie sagen wollte. Nun war ihr Gehirn wie leer gefegt. Es gab keine Anhaltspunkte auf das, was sie sagen wollte. Selene blickte sich um und musste feststellen, dass ihr sie immer noch von den unterschiedlichsten Schülern angestarrt wurde. Viele von ihnen kannte sie sogar noch. Namen hatte sie sich zwar nicht gemerkt, aber sie konnte nach wie vor die Aura, die jeden von ihnen Umgab spüren. Als sie noch blind gewesen war, hatte sie sich nie erklären können wieso sie immer so genau gewusst hatte wer gerade an ihr vorbei gegangen war oder wer am anderen Tisch in der Schulkantine sein Mittagessen verzehrt hatte. Aber im laufe der Zeit war es ihr wieder eingefallen. Da sie der Erschaffer der Elements war, hatte sie ein Gespür für sie entwickelt und genau dieses Gespür hatte ihr das Leben erleichtert. Damals hatte beinahe jeder Schüler sie ehrfürchtig angesehen, falls er es überhaupt gewagt hatte sie anzusehen. Das versetzte ihr einen kleinen, dennoch zu spürenden Stich, als ihr noch einmal deutlich vor Augen geführt wurde, wie sie sich damals gegenüber vielen verhalten hatte. Speziell Louise gegenüber. »Ich kann nicht«, brachte sie schließlich hervor. Sie sah betrübt zu Boden. In seine himmelblauen Augen wagte sie einfach nicht zu sehen. Das erste und letzte Mal als sie sie gesehen hatte, hatten sie so offen ausgesehen. Diese hier waren anders. Sie gehörten nicht mehr ihr. Hatte er vielleicht sogar eine neue Freundin? Unvorstellbar war es jedenfalls nicht, so wie er nun aussah! Er hatte über die letzte 18 Monaten etwas an Muskeln aufgebaut, doch nicht zu viel. Sein Gesicht war makellos, was für einen pubertierenden 15 jährigen ziemlich ungewöhnlich war und seine Stimme war auch etwas tiefer geworden. Er sah immer noch wie der Mark aus, der sie weinend im Park hinter dem Schulgebäude aufgemuntert hatte, nun sah er allerdings noch ein bisschen besser aus.
Wieder waren beide unbewusst einfach nur dagestanden und hatten sich angestarrt, bis Eos schließlich die Geduld verlor und Mark beiseite stieß. Er taumelte, rempelte beinahe eine Gruppe von Mädchen an, die sofort Herzchen in den Augen hatten, bis er schließlich wieder sicher auf seinen Beinen stand. Marks Kopf lief rot an, teils aus Wut über die zwei Mädchen und teils aus Scham, dass eine von ihnen ihn so einfach umrennen konnte. Doch Eos kümmerte sich nicht weiter um den fremden Jungen. Stattdessen zischte sie Selene zu: »Was tust du da?« Ihr Blick zeigte deutlich, dass sie im Gegensatz zu Selene nicht die Zeit aus den Augen verloren hatte. »Ich kann ihn doch nicht einfach alles verschweigen. Außerdem könnte er uns helfen«, zischte sie zurück, wirkte dabei immer noch etwas verträumt. Trotzdem machte sie deutlich, was ihrer Ansicht nach das Richtige war. Dabei ergab das für Eos kaum Sinn. Wer war dieser Junge überhaupt? Er konnte wohl kaum das Risiko wert sein, welches Selene da eingehen wollte. Die beiden Göttinnen stießen beinahe mit ihren Köpfen zusammen, so nahe waren sie sich mittlerweile gekommen. Dennoch schien keine von beiden sich geschlagen geben zu wollen. Plötzlich wurde Eos abrupt weg gerissen. »Du hast noch eine Verabredung mit dem Direktor!«, fuhr Mark sie an, der wieder brutal am Handgelenk gepackt hatte. Eos versuchte sich zu wehren, sich von ihnen loszureißen, doch er blieb eisern. Überrascht riss Selene die Augen weit auf, als ihre Schwester plötzlich so weit weg war, obwohl sie kurz zuvor noch so nah gewesen war. Das hatte Selene echt nicht kommen sehen, sodass sie eine ganze Weile brauchte um endlich in die Gänge zu kommen. Sie fing an hinter den Zweien hinterher zu rennen. Jeder einzelne Schritt fühlte sich dabei so vertraut an. Genau hier fühlte sie sich wohl. Wohler als in ihrem wahren Zuhause. Aber so war es nun mal. Sie konnte es einfach nicht abstreiten, dass ihr die 14 Jahre auf der Erde mehr bedeutet hatten als die Jahrhunderte bei all den anderen Göttern.
Sie hatte ihre Schwester und Mark bereits aus den Augen verloren, bevor sie überhaupt die Aula, welche auf halber Höhe zum ersten Stock lag, erreicht hatte. Trotzdem lief sie weiter. Immerhin hatte er bereits angedeutet, dass es er Eos zu Dorethia, der Direktorin dieser Schule, bringen würde. Wieso er auf einmal so viel Wert auf die Regel legte, konnte sie sich nicht erklären. Als sie ihn kennen gelernt hatte, war er eher der Regelbrecher gewesen und hatte die meisten Menschen schikaniert, weshalb er nie besonders beliebt gewesen war. Genau wie sie. Da Mark aber nun beinahe alle Mädchen an dieser Schule anhimmelten, an welchen er vorbeiging und er gerade dabei war Eos zu verpetzen, schloss Selene daraus, dass er ein völlig anderer Mensch geworden war. Sie schüttelte ihren Kopf, damit sie all die aufkommenden traurigen Gedanken loswerden konnte. Wieso mussten die auch immer kommen, wenn es gerade der komplett falsche Zeitpunkt war? Sie erreichte gerade den Flur in welchen das Zimmer zum Direktorat lag, als die Tür dazu in ihre Angeln fiel. Also waren sie tatsächlich darin verschwunden! Ihre Finger umschlossen den Türgriff, den sie schon so oft berührt hatte. Gerade wollte sie eintreten, als sie unwillkürlich inne hielt. War sie wirklich bereit dazu Dorethia wieder gegenüberzutreten? Nach all der Zeit? Sie hatte der Schulleiter versprochen, dass sie zurückkommen würde. Sie hatte ihr versprochen noch die Zeit, die ihr auf der Erde blieb zu nutzen. Aber sie war gestorben.
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