12.2 Kapitel
Stella wanderte aufgebracht durch die Gänge. Immer wieder fuhr sie sich wie wild durchs Haar. Sie durfte mittlerweile aussehen wie eine Vogelscheuche nach einem Sturm. Ihre Augen waren weit aufgerissen und hetzten hin und her. Eos hatte sich zwar zurückgezogen, doch für wie lange? Sie war immer noch in ihr drinnen. Stella wollte gar nicht so richtig darüber nachdenken, denn sonst würde sie nur noch mehr die Fassung verlieren. Schon die ganze Zeit versuchte sie Eos aus ihrem Kopf zu verbannen, doch immer wieder glaubte sie ihre Stimme wahrzunehmen oder ihre knochige Gestalt im STE Gebäude zu sehen. Wieso sie? Wieso musste ausgerechnet sie all dieses Leid erfahren? Und wie oft wollte sie sich diese Frage noch stellen? Gerade als sie geglaubt hatte, alles würde gut werden waren auf einmal diese neuen Fähigkeiten aufgetaucht und dann hörte sie plötzlich eine Stimme, die anscheinend schon die ganze Zeit da gewesen war. Sie ließ niedergeschlagen die Luft aus ihren Lungen entweichen und atmete daraufhin lautstark frische ein. Für eine Weile war es vielleicht das Beste es zu akzeptieren und sich später damit auseinanderzusetzen.
Stella sah sich verwirrt um. Sie hatte nicht darauf geachtet wohin sie ging und fand sich plötzlich im zweiten Stock, welcher zum Krankenzimmer führte wieder. Es war schon ein paar Tage her, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Sie ging an der Bibliothek vorbei, in welcher es stockdunkel war und folgte beinahe blind den Wänden. Die Tür zum Krankenzimmer war einen kleinen Spalt geöffnet, durch welchen schwaches Licht drang. Als Stella gerade umkehren wollte, erkannte sie eine Silhouette am Boden vorm Fenster sitzen. »Luna?« fragte Stella in die Dunkelheit. Selbst durch das Fenster drang kaum Licht. Viele Wolken wanderten am Himmel und verdeckten die Sterne. Selbst der Mond drang nur schwach durch die dicke Wolkendecke. Das Mädchen reagierte nicht, doch umso näher Stella kam, umso sicherer war sie sich, dass dort wirklich Luna hockte. Doch weit und breit war kein Rollstuhl zu entdecken. Was hatte sie nur hier zu suchen?
Besorgt hockte sie sich zu Lunam und legte eine Hand auf ihre Schulter. Das Mädchen bebte leicht und schluchzte. Sie ließ ihre Schultern trübsinnig hängen und eingetrocknete Tränen waren schwach an ihrer Wange zu erkennen. »Was machst du denn hier?« wollte Stella wissen. Luna sah kurz auf. Ihre Blicke trafen sich und Stella konnte den ganzen Schmerz, welcher in Lunas Augen lag sehen. Es war, als würde ihr eigenes Herz in zwei Teile zersplittern. Anscheinend hatte nicht nur sie einen harten Tag hinter sich. Tröstend kuschelte sie sich neben Luna. Diese ließ ihren Kopf auf Stellas Schulter fallen. Wieder begannen bei ihr die Tränen zu fließen. Sie konnte einfach nichts dagegen unternehmen. Ihr ganzer Körper zog sich zusammen und kuschelte sich an Stella - bis auf Lunas Beine. Die blieben unbeweglich wie die Beine einer Stoffpuppe liegen. »Stella, ach Stella, ich kann sie nicht mehr spüren.« Sie vergrub ihr Gesicht immer tiefer in Stellas Bluse, welche bestimmt schon durchnässt war von Lunas vielen Tränen. Luna war warm, doch sie strahlte eine niedergeschlagene Kälte aus, sodass Stella frösteln musste. Das Mädchen schien noch zerstörter zu sein, als Stella es selbst vor einer Stunde noch gewesen war. »Was kannst du nicht mehr spüren?« Stella versuchte die Frage so sanft wie möglich klingen zu lassen, doch sie wusste bereits wovon Luna gesprochen hatte. Als sie ganz neu auf dieser Schule gewesen war, war sie Luna in der Bibliothek begegnet. Damals hatte sie ein Buch vom obersten Regal gewollt, doch sie war zu klein dafür gewesen. Daraufhin hatte Luna ihr anvertraut, dass sie noch nicht vollends gelähmt war. Ihre Füße waren nicht stark genug sie zu tragen, doch spüren konnte sie sie. Stella hatte Lunas triumphierender und glücklicher Gesichtsausdruck vor Augen, als sie das Buch in den Händen gehalten hatte und ihr übergeben hatte. Doch so wie es nun um Luna aussah, konnte sie ab der Hüfte abwärts gar nichts mehr spüren. Luna schluchzte ein weiteres Mal, bevor sie leise antwortete: »Meine Beine. Ich habe jegliches Gefühl für sie verloren« Ein kraftloser, verzweifelter Schrei drang aus ihrer Kehle und sie warf sich auf die Seite. Ihr Kopf schlug ungeschickt gegen die Wand, doch sie hatte zu sehr mit ihren Tränen zu kämpfen. Sie sah gar nicht mehr aus wie das Mädchen, welches Stella kannte. Luna war stark und schien sich von nichts unterkriegen zu lassen, doch dieses Mädchen hingegen wirkte so verloren und einsam. Als hätte sie all das Glück der Welt verlassen. Sie glich einem schlaffen Sack Mehl, der langsam seinen Inhalt durch das andauernde weinen verlor.
Nachdem sie still neben Luna gesessen und gewartet hatte, bis sich das Mädchen wieder beruhigte, war eine gute Stunde vergangen. Sie hatte sich wieder in Stellas Arme gekuschelt und lag nun unbeweglich da. Man könnte fast glauben, dass sie schlafen würde, wenn sie ihre geröteten Augen nicht geöffnet haben würde. Schon eine Weile starrte sie müde auf eine Ritze im Boden. »Wir sollten langsam wieder ins Bett gehen« verkündigte Stella vorsichtig. Sie hatte Angst etwas Falsche zu sagen. Wer weiß, was Luna wieder die Tränen zurückbringen würde. Zu ihrer Erleichterung nickte sie jedoch nur und rollte sich langsam von Stella hinunter.
Stella richtete sich nun langsam wieder auf. Ihre Gelenkte waren etwas eingerostet und ihre Beine etwas taub, was sie in Gegenwart von Luna vielleicht nicht erwähnen sollte. Sie streckte sich und bemerkte dabei Luna, die beschämt ihren Kopf hängen ließ. Und plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie Luna nun zurück ins Krankenzimmer tragen musst! Kein Wunder, dass Luna so beschämt zu Boden sah und jeglichen Blickkontakt mit Stella vermied, immerhin wurde sie bisher immer von Aurora getragen. Auch Stella war das nun etwas unangenehm. Etwas zögerlich hockte sie sich wieder neben Luna und griff langsam mit dem einen Arm unter Lunas Schulter und mit dem Zweiten fuhr sie unter Lunas Kniekehlen. »Soll ich..« »Ja, nimm mich einfach so« Sie griff um Stellas Hals und ließ sich hochheben. Das braunhaarige Mädchen war ganz überrascht, dass Luna so leicht war und gleichzeitig etwas erschrocken, dass sie Lunas Knochen so deutlich durch ihre rosa-weiß karierte Hose zu fühlen. Wie als würde sie ein Skelett hochheben. Stella öffnete mit ihrem Fuß die Tür zum Krankenzimmer. Es brannte nur eine Lampe hinten im Eck, doch das reichte um den Weg in Lunas Abteil zu finden. Sie schlüpfte durch den Vorhang des mittleren Abteils und legte Luna auf das Bett. Dann schob sie noch schnell den Rollstuhl, welcher komischerweise am anderen Ende vom Raum stand zum Bett und wandte sich dann zum gehen. Da fiel ihr wieder ein, dass Luna ihr noch gar nicht verraten hatte, was sie eigentlich draußen am Gang getrieben hatte oder wie sie dort überhaupt hingekommen war. Doch sie wollte das Thema nicht wieder aufleben lassen und entschied sich deswegen einfach zu gehen. »Gute Nacht« murmelte sie. Sie schob den Vorhang zur Seite und war gerade dabei zu verschwinden, als sie von Luna angehalten wurde. »Warte« sagte sie. Stella drehte sich um und hob überrascht ihre Augenbrauen an. »Ich danke dir« Ein Lächeln huschte ganz schnell über ihr Gesicht, bevor es wieder erstarb, doch das reichte Stella. Sie lächelte zurück und verschwand. Doch leider war ihr Tag noch nicht ganz vorüber. Immerhin stand ihr noch ein Gespräch mit Louise bevor. Sofort konnte sie die Anwesenheit von jemand fremden in ihrem Körper spüren. Die letzte Stunde war dort nichts gewesen, doch nun schien sich Eos wieder an die Oberfläche zu drängen.
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