11.5 Kapitel
»Das ist unglaublich!« rief Eos begeistert. Sie befanden sich in einer Art Röhre aus Wolken, welche in rasender Geschwindigkeit um die zwei Göttinnen herum kreisten. Wind wehte von allen Richtungen und ließ ihre Augen tränen. Selene blickte sich um und stellte fest, dass alles genauso aussah, wie das letzte Mal. Nichts hatte sich verändert. Doch sie durften sich nicht allzu lange von der Umgebung ablenken lassen! »Bist du bereit?« rief Selene ihrer Schwester zu, welche sofort begriff wovon Selene sprach. Sie nickte und spreizte ihre Finger. Gleichzeitig schlossen sie ihre Augen und stoppten die Zeit. »Eins, ...« Ruckartig schien der Aufzug anzuhalten, welcher sie scheinbar die ganze Zeit nach Unten fuhr. »Elf, Zwölf, Dreizehn, ...« zählte Eos. Die Mädchen sahen sich gegenseitig an. Beide wirkten total konzentriert. All ihre Muskeln waren angespannt. Ein Zeitzauber war an sich nicht schwer, doch den Sog standzuhalten, welcher versuchte weiter runter auf die Erde zu ziehen kostete eine Menge Kraft. Hermes hatte wirklich nicht untertrieben! Der Vitalis Anhänger fing an zu leuchten. Selene konnte die Wärme, die er dabei erzeugte deutlich durch ihr dünnes Kleid spüren. Mit dem Aktivieren des Anhängers wurde ihr auf einmal eine größere Last von den Schultern genommen. Sie erlangte einen Teil ihrer Magie wieder zurück, was die Aufrechterhaltung des Zeitzaubers um einiges vereinfachte. Da hatte Hermes ihnen wohl nicht zu wenig versprochen. Das Vitalis funktionierte prächtig! »Siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig, sechzig, einundsechzig, ...« Eos stimme klang klar trotz des tobenden Windes. Ihr schien es wohl nicht an Magie zu mangeln. Immerhin hatte sie auch nicht einen Teil davon an eine andere Person abgesplittert. Plötzlich zuckte eine Welle des Schmerzes durch ihre Schulter und Selene schrie auf. Die zwei Göttinnen wurden von den Sturm etwas nach unten gerissen, als Selene kurzzeitig die Kontrolle verlor. Sie blickte auf ihre Schulter und bemerkte, dass der Ärmel ihres Kleides aufgeschlitzt war und Blut durch eine Wunde quoll. Erschrocken blickte sich die Mondgöttin um und entdeckte am Rand des Wirbelsturmes ein kleines schimmerndes Objekt. »Ein Messer!« schrie Selene entsetzt und duckte sich, als es nur ganz knapp über ihren Kopf hinweg zischte. Eos riss ebenfalls total geschockt ihre Augen auf und blickte sich ängstlich um, hörte allerdings nicht auf zu zählen! Wieder löste sich das Messer aus dem Sturm und flog durch die Mitte. Dieses Mal schnitt es Eos ein paar Haare ab. Selene bekam es mit der Angst zu tun. Das Messer wurde durch die Gegend geschleudert und sie konnten nichts dagegen unternehmen, solange der Zeitzauber noch aktiv war. »Achtundneunzig, neunundneunzig, hundert, hunderteins, hundertzw-äääh!« Eos warf sich zur Seite. Wieder rückten sie der Erde ein Stück näher, obwohl sie noch nicht weit genug gealtert waren. Schnell rappelte sich Eos wieder auf und spreizte ihre Finger. Sie mussten unbedingt vermeiden, dass beide gleichzeitig die Kontrolle verloren, denn dann wäre alles aus. Selene sprang ein Stück nach links, als das scharfe Ding von hinten auf sie zukam und im nächsten Moment schon wieder auf sie zugeschossen kam. Sie versuchte nach rechts auszuweichen, doch sie war eine Sekunde zu langsam. Das Messer flog ihr direkt entgegen. Sie riss bestürzt ihre Augen auf und schrie.
Das Glas zersprang und das Messer löste sich auf. Die Splitter flogen losgelöst von der Schwerkraft nach oben und verwandelten sich in Glitzerstaub. Die lila Flüssigkeit ergoss sich über Selenes Kleid, verblasste jedoch sofort wieder. Das Messer hatte sich direkt in das Vitalis gebohrt und es zerbrochen. Selene konnte sofort spüren, wie etwas gewaltsam an ihren Kräften zerrte. Ihre Beine wurden mit einem Mal so schwer, dass sie es kaum schaffte aufrecht zu stehen. »Hundertdreiundzwanzig, hundertvierundzwanzig, ...« schrie Eos um Selene zu erklären, dass sie nicht mehr lange aushalten musste. Ihre Haut verlor langsam an Farbe. Zuerst färbten sich die Finger so hellblau, dass sie schon fast weiß waren, doch Selene gab nicht auf. Egal wie viele Schmerzen sie im Moment hatte, egal wie viel Kraft sie das noch kosten sollte. Sie waren so weit gekommen. Selene konnte Louise nicht einfach im Stich lassen nur weil sie Schmerzen hatte. Als sie auf der Erde gewesen war hatte sie so viel schlimmeres erleiden müssen, da war das doch ein Zuckerschlecken! Sie schrie auf und sank auf ihre Knie. Ihr Haar hatte sich grau gefärbt und fiel ihr total fettig um die Schultern. Ihre Haut straffte sich über ihre Knochen. Ihr Erscheinungsbild war fürchterlich. So schlimm hatte Eos nicht einmal ausgesehen, als sie von Helmut Trumble gefangen gehalten worden war. »Hundertsiebenunddreißig, hundertachtunddreißig, hundertneununddreißig, ..« Eos sprang nach vorne, umschlang ihre Schwester mit beiden Armen und ließ den Zauber verklingen. Sie wurden nach unten gerissen und Selene schrie vor Schmerzen auf. Ihre Schwester drückte sich ganz fest an sie um sie zu beschützen, wofür Selene unglaublich dankbar war. Eos half ihr ihre Schmerzen zu überstehen. Langsam ließ sich unter ihren Füßen grüne Bäume erkennen. Sie kamen immer näher und schließlich schlugen die Schwestern auf dem Boden auf und alles um sie herum wurde schwarz.
Es war dunkel und die Sterne strahlten, doch der Mond war nirgends zu sehen. Selene blinzelte benommen. Sie fühlte sich so schwer. Als hätte man ihr Gewichte an ihren Körper geschnallt. Ruckartig richtete sie sich auf und betrachtete mit großen Augen ihren neuen Körper. Ihre Haut war blass und rein und ihre Beine waren ungewöhnlich lang. Die blonden Haare erinnerten Selene an ihre Haarfarbe, die sie als Sunshine hatte. Sie sah nun genauso aus wie ihre Schwester Eos! Plötzlich stiegen ihr Tränen in die Augen. Die Welt um sie herum verschwamm, als das Wasser ihre Sicht trübte. Selene hatte es geschafft. Sie war wieder auf der Erde, die sie stolz als ein Zuhause bezeichnen konnte. Alles hier fühlte sich so vertraut an. Die gefrorene Erde, die sie unter ihren Fingern spürte, der kalte Wand und der Himmel, der so weit entfernt schien. Hier fühlte sie sich viel geborgener, viel freier als im Olymp. Die Erde hatte Selene gefehlt. Die ganze Zeit hatte sie das Gefühl gehabt, dass sie nicht vollkommen war. Seitdem sie wieder bei ihrer Schwester bei den anderen Göttern gewesen war, klaffte ein kleines aber aussagekräftiges Loch in ihrem Herzen und nun schien es gefühlt worden zu sein. Konnte es denn möglich sein, dass ihr wahres Zuhause nicht ihr wahres Zuhause war? Langsam richtete sich nun auch Eos auf, die neben Selene im Gras lag. Sie sah ganz verschlafen aus und blickte sich erst um, bevor sie etwas sagte: »Haben wir es geschafft? Ist das die Erde?« Selene nickte und wischte sich die Tränen weg. Eos sollte sie nicht weinen sehen. »Wie geht's dir?« fragte Eos nach einer Zeit etwas besorgt nach. Sie deutete mit einem Kopfnicken auf das zersprungene Vitalis Gefäß. »Alles okay. Anscheinend hat meine Energie ausgereicht um den Körper zu vollenden« stellte Selene fest und begab sich auf ihre Füße. Sie war groß - größer als sie bei ihrem letzten Besuch auf der Erde war. Damals war sie ungefähr fünfzehn Zentimeter kleiner gewesen! Auch Eos richtete sich auf und betrachtete den Wald, welcher die Beiden umgab. Alles sah so gleich aus. »Wo sind wir hier?« wollte sie von Selene wissen. Langsam setzte sich Selene in Bewegung und folgte einen Pfad, der ihr nicht ganz unbekannt war. »Im Glenmore Forest Park«
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