♕ 5.
„Das Gesicht einer Frau ist perfekt, wenn der Augenabstand genau 46 Prozent der Entfernung von einer Schläfe zur anderen beträgt. Der Abstand von der Pupille zum Mund muss exakt 36 Prozent der Entfernung des Haaransatzes vom Kinn ausmachen." murmelt der Arztkittel, wie aus eine Fachbuch auswendig gelernt, vor sich hin. Während dessen fuchtelt er mit einem Maßband in meinem Gesicht rum.
Was redet der für Scheiße? Ich weiß, dass ich kein hübsches Porzellangesicht habe. Diese Maße erfüllt es sicher nicht, das kann man schon von weiten erkennen. Ich habe kein Model Gesicht. Schon allein wegen meiner Hakennase, zudem sind meine Backen mit viel zu viel Fett ausgepolstert. Aber auf den Millimeter genau muss doch auch nicht alles perfekt sein.
Ich lasse die fünf Minuten, in denen Edward mein Gesicht bis ins Detail ausmisst und alle Einzelheiten in einen kleinen Notizblock kritzelt, über mich ergehen. Alvaro steht daneben und schaut mit hocherhobenen Augenbrauen zu. Ich schiele zu ihm herüber, er sieht umwerfend aus. Sehr süß, wenn sich auf seiner Stirn diese kleinen Fältchen bilden. Er hat bestimmt dieses perfekte Idealgesicht, sein Augenabstand beträgt mit Sicherheit diese 46% der Gesichtsbreite. Hat er sich operieren lassen? Oder ist er eine Naturschönheit?
Ich wäre gerne so schön wie er. Oder wenigstens ansatzweiße. Mein Körper und mein Gesicht sind von dem Idealbild weit entfernt. Bei mir müsste man wahrscheinlich hundert Schönheitsoperationen durchführen. Und nicht mal die würden reichen.
„So ich habe dein Gesicht jetzt mal grob ausgemessen." grinst Edward mir zu. Grob? Das i leicht untertrieben!
Ich stehe langsam von der Liege auf. Meine Blicke schweifen wieder zu Alvaro. „Ich würde jetzt gerne nach Hause." sage ich leise in seine Richtung. Alvaro steht immer noch neben mir, lächelt jetzt aber leicht. „Aber gerne doch, Tara." Er nimmt meine Hand, und wir verlassen gemeinsam die Praxis.
Die vielen schönen Räume, durch die wir hindurchgehen, nehme ich kaum wahr. Die Ereignisse der letzten Stunde haben mein Gehirn leicht vernebelt. Ich bin plötzlich sehr müde. Mühsam versuche ich ein Gähnen zu unterdrücken.
Unten an Alvaros Ferrari angekommen fühle ich Erleichterung in mir aufsteigen. Mir ist nichts passiert, er hat mich nicht vergewaltig und ist eigentlich sehr nett und höfflich gewesen.
„Hier, der Vertrag." Alvaro streckt mir den Stapel Papier entgegen. Den hatte ich ja ganz vergessen. „Überlege dir gut ob du ihn unterzeichnest, oder nicht. Dein weiteres Leben hängt davon ab. Ich gebe dir bis morgen Zeit. Schlaf noch einmal drüber, und lese dir alle Einzelheiten nochmal genau durch. Wenn du Fragen hast, stehe ich dir natürlich jeder Zeit zur Verfügung." Alvaro hält mir einen kleinen Zettel mit einer Nummer hin. Ich nehme ihn entgegen und lächle „Okay."
Die Fahrt verläuft schweigend, während ich erneut versuche mir den Weg einzuprägen, wippt Alvaro langsam zu der klassischen Musik, die das Autoradio hergibt, mit.
Nach einer Weile stehen wir vor meinem Haus. Woher weiß er wo ich wohne? Ich bin vollkommend verwirrt, ich habe es nicht erwähnt soweit ich mich erinnern kann. „Wie hast du hier her gefunden?" frage ich mit selbstsichere Stimme und schaue Alvaro an. „Ich habe ein bisschen recherchiert.", lächelt er mich an. Allein wegen seinen Grübchen, die sich beim Lächeln bilden, könnte ich dahinschmelzen.
„Wir sehen uns morgen in der Schule. Ich hoffe du unterschreibst. Du würdest mir eine große Freude bereiten." verabschiedet sich Alvaro von mir. Ich hebe meine Hand um zu Winken, aber im nächsten Moment ist er schon davon gebraust. Eine kleine Staubwolke bildet sich, ich muss etwas husten.
Schnell gehe ich ins Haus, und renne in mein Zimmer. Zuhause ist wie immer niemand da, meine Eltern arbeiten jeden Tag bis spät abends, und meine Schwester treibt sich nachmittags immer in der Stadt herum. Mir ist das Recht, so habe ich wenigstens meine Ruhe. Ich schmeiße mich in mein Bett und verkrieche mich unter der warmen Bettdecke. Ein paar Minuten später bin ich auch schon eingeschlafen.
„Tara, bist du da?" die laute Stimme meiner Mutter lässt mich auffahren. Wieso muss Sie immer durchs ganze Haus brüllen. „Ja." schreie ich wütend zurück. Das Verhältnis zu meiner Mutter ist zurzeit sowieso nicht das Beste.
Mein Magen knurrt laut, ich habe vollkommend vergessen Nahrung in mich hineinzustopfen. Normal ist das bei mir nicht. Ich liebe Essen, und das sieht man auch. Skeptisch schaue ich auf meine Speckfalten. Aber trotzdem hole ich eine Schokolade aus meinem geheimen Vorrat. Ich könnte nie auf diese Glückshormone verzichten.
Während ich genüsslich auf meiner Milka Schokolade kaue, fällt mein Blick auf den Vertrag. Ich muss mich entscheiden. Einfach so weiter leben wie bis her, und die täglichen Demütigungen ertragen. Oder ich unterzeichne diese dämlichen Bedingungen, und bekomme ein Leben, das ich mir immer erträumt habe. Alles spricht für Möglichkeit zwei, glasklar. Aber der Vertrag ist sehr weitgehend und uneingeschränkt formuliert. Langsam und konzentriert studiere ich jeden Satz noch einmal genau.
✣ Alle Mittel die zum Erhalt der Schönheit der Fragmentarischen dienen, sind zugelassen, auch wenn diese noch so schmerzhaft und grauenvoll sind
Allein dieser Punkt bereitet mir Gänsehaut. Werde ich Schmerzen haben? Was ist mit grauenvoll gemeint? Sport? Wenn ich nur an dieses tägliche Sportprogramm denke, wird mir schon schlecht.
Soll ich ihn anrufen, und nachhaken was er damit genau meint? Aber eigentlich weiß ich, dass es nicht leicht wird aus MIR einen perfekten Menschen zu zaubern. Da muss ich schon ein paar Schmerzen in Kauf nehmen. Körperliche, sowohl auch geistige. Sofort verstecke ich meine Schokolade wieder in meinem Geheimversteck. Ab jetzt ist Beherrschung angesagt.
Müde falle ich in mein Bett- das war mit Abstand der aufregendste Tag, den ich je erlebt habe.
Ich sitze kerzengerade in meinem Bett. Wie fast jeden Morgen. Das magendurchdringende Geräusch meines Weckers erlöst mich aus meinem Albtraum. Alle standen Sie um mich her rum, ich war nackt, und Sie lachten. Es war dieses fiese herablassende Lachen. Sie schrien umher und warfen meine Klamotten in den Dreck. Während des gesamten Traums habe ich versucht meine intimen Bereiche und meine Speckspaten mit den Händen zu verdecken. Erfolglos.
Es war schrecklich. Schweiß gebadet, ganz außer Atem sitze ich jetzt da, und höre mein Herz bis in den Kopf pochen. Es war nur ein Traum, nur ein Traum, versuche ich mich zu beruhigen.
Diesen Morgen muss ich mal wieder ausgelaugt und müde in den Tag starten. Albträume dieser Art habe ich oft. Wann hört das endlich auf? Nie. Außer ich werde schöner.
Ein Blick auf mein Handy- keine neuen Nachrichten. Wie erwartet. Aber was? nur noch 20 Minuten bis zum Schulbeginn. Pünktlichkeit war noch nie meine Spezialität. Mein vorletztes entscheidendes Schuljahr vor dem Abi! Ich muss disziplinierter werden. Aber im Moment habe ich wirklich andere Probleme, als auf Pünktlichkeit zu achten oder mich mit langweiligen Matheformel rumzuschlagen.
Der Vertrag. Er ist noch nicht unterzeichnet. Aber dieser Albtraum, hat mir meine jetzige Situation noch mal vor Augen geführt. So kann es nicht weiter gehen. Ich brauche ein neues Leben, als neue schöne Tara. Egal welche Bedingungen in dem Vertrag stehen. Ich werde ALLES dafür tun um schön und beliebt zu sein. Die alles verändernde Entscheidung ist getroffen.
Eilig springe ich aus dem Bett. Im nächsten Moment umklammere ich aber schon die Bettkante, in meinem Kopf beginnt sich alles zu drehen.
Nachdem sich mein Kreislauf wieder beruhigt hat torkle ich die Treppe hinunter ins Bad. Wie immer abgeschlossen- meine Zwillingsschwester Tabea blockiert das Bad jeden Morgen über mehrere Stunden. Ich fluche leise. Warum müssen sich Naturschönheiten schminken? Sich stundenlang die Haare kämmen? ICH hätte das Recht stundenlang im Bad zu stehen, um meine Pickel abzudecken und meine krausen Locken einigermaßen in Form zu bringen. Ich will nicht, dass jemand bei meinem Anblick Tod umfällt. Wütend hämmere ich gegen die Tür. „Tabea, verdammt! Ich muss da jetzt rein!"
Nach fünf Minuten schließt die gestylte Königin Tabea dann endlich die Tür auf. „Bei dir ist doch eh nichts mehr zu retten." murmelt sie nur. Ich werfe ihr einen wütenden Blick zu, aber ich weiß dass sie Recht hat. Selbst ein Kilo Schminke würde mein Gesicht nicht erträglicher machen.
Abgehetzt und völlig außer Atem komme ich im Klassenzimmer an. Eine verschwitze Haarsträhne klebt noch an meiner Wange. Schnell platziere ich sie hinter meinem Ohr. Ich lasse mich müde auf meinen Stuhl fallen. Noch rechtzeitig geschafft.
Schräg vor mir sitzt er. Alvaro. Besorgt mache ich einen Blick in meine Tasche- ein Glück den Vertrag habe ich nicht vergessen. Er war immer noch nicht unterzeichnet. Aber ich werde es noch tun- meine Unterschrift unter die vielen Bedingungen setzten. Ich bin fest entschlossen. Ein kleines Lächeln bildet sich auf meinem Gesicht, bald werde ich schön sein. Ich bin nur noch eine Unterschrift von einem perfekten Leben entfernt.
Meine Augen schweifen zu Alvaro. Er hat sich nicht umgedreht, als ob nichts wäre. Vor ihm ein Füller, ein Bleistift und ein Radiergummi, perfekt geordnet in einer geraden Linie, parallel zur rechten Tischkante. Einfach alles an ihm ist perfekt, sogar seine Stifte liegen schnurgerade auf dem Tisch. Ordnung ist das halbe Leben, diese Worte hämmerte mir meine Oma schon früh ein. Geholfen hat es nichts, es gibt keinen unordentlicheren Menschen als mich.
Mir wird warm ums Herz, wenn ich daran denke, dass ER mich bald verändern wird. ER wird mir dabei helfen endlich beliebt und schön zu sein. Schnell hole ich den Vertrag aus meiner Tasche. Ich setzte meinen Kugelschreiber auf die Linie am Ende des Blattes und atme einmal tief durch.
Ich werde perfekt sein. Endlich. Die Demütigungen werden ein Ende haben.
Ich wusste nicht worauf ich mich einlasse... Hätte ich es gewusst, hätte ich niemals unterschrieben. Diese Unterschrift ist die Prophezeiung meines zukünftigen Horror-Lebens.
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