♕ 4.
Ich starre mit weit aufgerissenen Augen auf ein abgemagertes dürres Mädchen. Ihr Kopf hängt in einer zugezogenen Schlinge, der Henkersknoten umschlingt ihren zarten Hals fest. An ihrem Ohr- angetrocknetes Blut.
Sie trägt ein blaues, viel zu großes Kleidchen, das wie ein nasser Sack an ihren dünnen Körper hängt. Sie ist so dürr, dass man jede einzelne Rippe deutlich sehen kann. Sie besteht nur aus Knochen, die mit einer Hautschicht überzogen sind. Ihre strohigen blonden Haare hängen kraftlos und matt herunter. Das erschreckendste aber, ist ihr Gesichtsausdruck. Ein qualvoller Schrei zeichnet sich auf dem hübschen Gesicht ab.
Ihre Haut ist grau, aber noch nicht sehr verschrumpelt. Sie kann also erst vor kurzen gestorben sein. Oder wurde sie umgebracht? Ihr Kopf, der im Vergleich zum Körper riesig erscheint, hängt schlapp in der Schlinge, es sieht also nach Selbstmord aus. Aber wieso um Himmelswillen ist sie so dürr? Die dünnen Beinchen hätten sie doch niemals tragen können.
Obwohl ihr Gesicht qualvoll verzogen ist, erkennt man, dass sie sehr schön gewesen sein muss.
Alvaro holt Luft und flüstert: „Fiona hat sich selbst das Leben genommen. Sie sah keinen Ausweg mehr. Ihr Selbsthass hat sie zur Magersucht gebracht. Sie war Model einer großen Agentur. Sie war mit sich selbst sehr unzufrieden, der Druck der anderen Models verstärkten ihre Minderwertigkeitsgefühle. Sie hungerte sich zu Tode, um schön zu sein. Kurz bevor ihre Organe versagt hätten, begann sie Suizid. Dass sie an so schweren Depressionen litt, hat fast niemand gewusst."
Ich schlucke. Ich weiß, dass die Models bestimmte Kleidergrößen brauchen, um überhaupt in dieser Branche eine winzige Chance zu haben, um erfolgreich zu sein. Die heutige Gesellschaft bevorzugt Streichhölzer, die über den Laufsteck stolzieren. Wer ein Gramm zu viel Fett hat, ist abgeschrieben. Wer aber seinen Hunger unter Kontrolle hat und Tag für Tag Kalorien zählt, wird angehimmelt.
Mir gefällt das. Ich finde dünne Leute schön. Nur wer ein bestimmtes Gewicht hat, hat doch überhaupt erst die Chance von anderen als schön empfunden zu werden. Menschen mit Fettpolster entsprechen nun mal nicht dem Schönheitsideal.
Ich bin nicht dünn, also auch nicht schön. So ist das Gesetz. Problem ist, ich schaffe es nicht mich runter zu hungern, meine Liebe zu Schokolade ist leider zu groß.
Aber genug von meinen Sorgen. Vor meinen Augen hängt eine Leiche! Jetzt nehme ich den ekligen Geruch wieder war. Meine Nasenlöcher weiten sich. Ich habe noch nie einen toten Menschen gesehen, geschweige denn keinen, der sich erhängt hat. Sie war doch so schön, und so dünn. Wieso hat sie sich umgebracht? Sie war perfekt. Ich wäre gerne so gewesen wie sie.
Nochmal schaue ich in das Gesicht des Mädchens. Es ist wunderschön, obwohl ihre rechte Pupille weit nach außen gedreht ist. Ein Schauer läuft über meinen Rücken. Sie muss höllische Schmerzen gehabt haben.
Plötzlich bemerke ich einen tiefen Schnitt auf ihrem Dekolleté, das But ist bereits angetrocknet. Was hat das zu bedeuten? Die Schlinge um ihren zarten Hals konnte diesen tiefen Schnitt nicht verursacht haben.
Ich spüre einen dicken Kloos im Hals. Ich bin völlig überfordert und starre noch eine ganze Weile auf den leblosen Körper. Der restliche Raum liegt im Dunkeln, die halb offene Tür wirft einen Lichtstrahl exakt auf das dürre Mädchen. Ich bin nicht fähig auch nur einen einzigen Schritt in dem Raum zu machen.
„Ich weiß, dass ist erschreckend" jetzt höre ich Alvaros Stimme. Er schließt die schwere Holztür leise.
Ich atme tief durch. Man sieht nicht alle Tage eine verrottete Leiche. Wieso ist diese Leiche in Alvaros Haus? Gehört sie nicht unter die Erde begraben? Die Gedanken schwirren nur so durch meinen Kopf.
Aber Alvaro scheint auf meine Gedanken keine Rücksicht zu nehmen. Er spricht leise weiter. „Ich will dir damit zeigen, dass du durch Magerwahn keinen perfekten Körper bekommst. Ich finde sie schon fast zu dünn. Sich zu Tode zu hungern bringt nichts.
Allein dünn zu sein reicht nicht. Alles muss perfekt sein, jedes einzelne Körperteil. Mit Schönheitsoperationen ist das ganz leicht, man kann alles ganz einfach verändern. Sogar deine Ohrmuscheln können wir neu formen."
Ich nehme seine Worte nur dumpf war. Der Schock steckt mir noch in meinen Gliedern. Er spricht so, als würde er einen Wikipedia Eintrag vorlesen. Seine Sätze klingen immer so hochgestochen, jetzt fällt es mir wieder auf. Die letzten Worte hallen noch in meinen Kopf. Schönheitsoperationen sind einfacher, man kann alles verändern, sogar deine Ohrmuscheln können wir neu formen. Aber wen meint er mit wir?
„Wer ist wir?" frage ich nun laut. „Mein Vater und ich. Mein Vater ist Schönheitschirurg. Im ersten Geschoss hat er seine Praxis." antwortet Alvaro. „Er ist Profi, schon berühmte Models haben sich ihm anvertraut. In der Modebranche ist er sehr gefragt. Er verlangt mehrere Millionen für einen Eingriff, aber du würdest alles kostenlos bekommen."
Ich schlucke. Ich wäre nicht fähig auch nur einen anständigen Satz heraus zu bringen. „Komm wir gehen nach oben, dann zeig ich dir seine Praxis.", grinst Alvaro und schiebt mich wieder in Richtung der langen Wendeltreppe. Meine Beine fühlen sich wie Wackelpudding an. Mühsam setzte ich einen Fuß vor den anderen. Die Ereignisse in den letzten Minuten haben mich förmlich überrollt.
Oben angekommen, fühle ich wieder eine Wärme durch mich fließen. Ich atme nocheinmal tief durch. „Dein Vater ist Arzt?" frage ich verwirrt mit leicht zittriger Stimme. „Komm ich zeig es dir."
„Aber du führst mich nicht wieder zu einer Leiche?" frage ich ängstlich. Einen derartigen Anblick würde ich sicher nicht noch einmal durchstehen. „Nein, keine Angst." antwortet Alvaro ruhig.
Wir gehen wieder durch sehr viele Räume. Das ganze Haus hat nur weiße Möbel. In den Ecken stehen goldene Statuen, die griechische Götter darstellen. Mir kommt es fast so vor als würde ich durch ein Schloss oder einen modernen Palast gehen.
Plötzlich sehe ich einen hübschen großen Mann am Ende einer großen Halle stehen. Alvaro und ich gehen auf ihn zu.
„Hallo, du musst Tara sein." der attraktive große Mann streckt mir seine Hand entgegen. Wow! Er hat auch so wunderschöne dunkelgrüne Augen. Das erste was mir an einem Menschen auffällt, sind komischerweise immer die Augen. Und dieser Mann hat sehr schöne aber auch durchdringende Augen. Sie durchleuchten mich förmlich, es ist fast so als würde er mein Gesicht Zentimeter für Zentimeter begutachten. Es ist mir sehr unangenehm, wenn mich Leute anstarren ohne mit den Wimpern zu zucken.
Er trägt einen weißen langen Arztkittel mit dem Etikett Prof. Dr. Dr. med. Edward Caffron. „Das ist mein Vater Edward." sagt Alvaro jetzt. „Es freut mich dich kennen zu lernen Tara, Alvaro hat mir schon von dir erzählt." erzählt Alvaros Vater freundlich. Ich schüttele ihm die Hand. Seine großen starken Hände zerdrücken meine fast.
Was wird Alvaro wohl über mich erzählt haben? Wir kennen uns doch kaum. Oder ist das nur wieder so eine Höflichkeitsfloskel? Ich hasse solche Floskeln, die nur dazu dienen eine angenehmere Stimmung zu machen, aber nichts aussagen.
„Ha-haalo." bringe ich nur hervor und lächle ihn zaghaft an. Er lächelt freundlich zurück.
„Da haben wir viel Arbeit vor uns, aber ein paar Ansätze sind schon vorhanden. Gute Wahl Alvaro." sagt Edward jetzt in Alvaros Richtung. „Sie hat noch nicht eingewilligt." murmelt dieser nur.
Der Arztkittelmensch schaut wieder zu mir. Ich kann generell Ärzte in diesen Kitteln nicht ausstehen. Es ist nicht so das ich Angst vor ihnen habe, aber diese Götter in Weiß halten sich immer für etwas Besseres. Schon allein deswegen habe ich eine Abneigung gegen Ärzte, egal ob Haus,- oder Zahnärzte. Mit Schönheitschirurgen hatte ich noch nie etwas zu tun, aber alle Ärzte haben diese „eingebildete" an sich. „Komm rein und schau dich ein bisschen um, Tara". Jetzt öffnet er die Tür seiner Praxis.
Vorsichtig trete ich in das Zimmer. Hier ist es noch heller als im restlichen Haus. Große Fenster lassen die Sonnenstrahlen in dem Raum. Ich gehe langsam zu dem riesigen Fenster, man sieht nur sehr viele Bäume. Mir wird wieder etwas mulmig zumute, wenn ich daran denke, dass ich mich ganz alleine mitten im Wald befinde.
Die Praxis ist mit neustem Equipment ausgestattet. Und man sieht gleich das alles sehr sauber gehalten wird, man könnte sogar vom Fußboden essen, so wie der glänzt. In der Mitte des Zimmers stehen ein großer Untersuchungsstuhl und eine weiße Liege. Ich streiche mit meinen Fingerspitzen vorsichtig über das weiße Polster, plötzlich entdecke ich eine kleine Gravur darauf: Wer schön sein will, muss leiden. Mir fallen so kleine Details komischerweise immer ins Auge, auch wenn sie noch so unbedeutend sind.
„Komm Tara" Edward deutet mit seinen großen Händen auf die Untersuchungsliege. „Lass mich dich mal genauer betrachten."
Ich lege mich auf die große weiße Liege. Der Arztkittel kommt langsam näher. Er hat wieder diesen Röntgenblick. Ein kaltes Kribbeln breitet sich in meinem Körper aus.
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