♕ 11.
Krampfhaft versuche ich mich am Waschbeckenrand festzuhalten. Es vergehen einige Sekunden, bis ich mich wieder klar im Spiegel sehen kann. Meine Atemzüge passen sich meinem rasenden Herzen an. Noch immer sind meine Augen weit aufgerissen. Ich starre wie gebannt auf meine Brüste, meine überdimensionalen großen Brüste. Die zwei Wölbungen sind ums doppelte gewachsen. Mit so einer starken Veränderung habe ich nicht gerechnet, ich kann mich von meinem Spiegelbild nicht losreisen. Es ist faszinierend aber zugleich bin ich mehr als geschockt. Ich will keinen Monster-Busen haben. Klar, davor waren sie für jeden Geschmack zu klein und unförmig. Aber diese riesigen Brüste? Was haben die sich dabei gedacht, so überdurchschnittliche große Implantate in mich einzupflanzen? Jetzt kann ich nicht mal mehr die Treppe runterlaufen, ohne dass alles wackelt.
Mit meinem Zeigefinger drücke ich vorsichtig auf das Fettgewebe. Meine Brust fühlt sich hart an, und es schmerz etwas. Verwundert und schockiert reiße ich meine Augen noch weiter auf. Harte Brüste? Ist bei der Operation ein Fehler unterlaufen? Ich dachte es sind Spezialisten. Ein Schwall von Panik verteilt sich überproportional schnell in meinen Körper. Ich habe diese höllischen Schmerzen für monströse Brüste aushalten müssen? Es gibt nicht mal einen Lohn für das ich durchmachen musste? Viel zu große Brüste sind die Endschädigung von gefühlten tausend Horrorstunden die ich über mich ergehen lassen musste? Aggressiv und Wut geladen balle ich meine Hände zu Fäusten.
Ich starre noch eine Weile in den Spiegel. Klar eine schöne Form haben sie, und besser zu groß als zu klein, sagt Tabea immer. Aber diese Monsterdinger- eindeutig zu groß für meinem Geschmack. Jeder wird zuerst auf die Dinger schauen, anstatt mir in die Augen zu sehen.
Im Augenwinkel sehe ich wie sich die Türklinke erneut langsam nach unten bewegt.
„Ich habe mir Sorgen gemacht. Was brauchst du denn so lange?" sagt Alvaro, den Blick auf meine Brüste gerichtet.
Peinlich berührt streife ich meinen Pullover wieder nach unten.
„Schön geworden, gell." Alvaro setzt ein breites Grinsen auf.
„Nein. Verdammt, sie sind viel zu groß. Alvaro ich habe riesen Teile an mir dran, rein gar nichts ist daran schön!" Schreie ich ihn wütend in einem hohen Ton an.
Er zuckt leicht zusammen, wahrscheinlich ist er erschrocken über meine Reaktion. „Aber Tara, deine Brüste sind doch noch geschwollen. Die Haut muss mit dem Silikonkissen noch verschmelzen, das braucht Zeit. Es war eine Operation, da sind Schwellungen ganz normal. Nach 2 Wochen müsste sie dann aber zurückgehen, und dann wird deine Brust automatisch kleiner und weicher, kein Grund zur Panik. Chill mal"
Ich soll chillen? Sein ernst? Trotzdem durchfließt ein kleiner Schwall Erleichterung meinen Körper. Die Monsterbrüste werden also noch kleiner. Immerhin.
„Aber den Verband musst du schon noch eine Weile anbehalten, er dient als Schutz."
Er liegt immer noch da, wo ich ihn zuvor auf den Boden gepfeffert habe. Alvaro folgt meinen Blicken, und hebt den weißen Verband auf. Jetzt streicht er meinen Pullover wieder nach oben. Ein peinliches und zugleich ängstliches Gefühl bildet sich in meiner Magengegend. Meine Brüste sind jetzt perfekter, aber ich schäme mich verwunderlicher Weise immer noch. Von außen schaut es schön aus, innerlich fühle ich mich aber immer noch abgrundtief hässlich. Hoffentlich legt sich das bald, ich brauche mein Selbstbewusstsein.
Alvaro wickelt den Verband zärtlich um meinen Brustkorb. Seine Hand berührt meine Haut, und plötzlich breitet sich wieder diese Gänsehaut in mir aus. Im nächsten Moment aber verwandelt sie diese zu einem warmen Kribbeln. Eine heiße Flut von Erregung durchströmt meine Blutgefäße. Liebevoll verbindet Alvaro den Verband am Ende zu. Dann plötzlich greift seine Hand meine rechte Brust. Ich zucke zusammen. Mit leichtem Druck fängt er an mein Fettgewebe zu massieren. Anfangs tut es weh, aber die Glückshormone die ausgeschüttet werden übersteigen den Schmerz.
Ich kann ein kleines Stöhnen nicht unterdrücken. Das Kribbeln verteilt sich immer schnell in meinen Blutgefäßen, meine Schläfe fängt an zu pochen. Auf einmal fühle ich mich sehr zu ihm hingezogen, ein Gefühl in mir will im über seine Haare streichen. Etwas in mir will ihn spüren, ihn berühren.
In der nächsten Sekunde streicht meine Hand über seinen Wangenknochen. Ich fahre mit meinen Fingerspitzen über seine makellose Haut. Die dunkelgrünen Augen schauen mir tief ins Herz und mein Blut pocht in den Venen. Das Kribbeln steigert sich ins unermessliche.
Auf einmal sehe ich einen Hass in seinen Augen. Meine Hand schnellt zurück, Alvaro hat meine Seele gefoltert. Plötzlich kommen die grausamen Erinnerungen, die ich vor ein paar Stunden erleben musste, wieder zurück. Er hat mich zusammen mit seinem Vater und dessen kranken Anhängern so sehr innerlich verletzt. Das Mobbing in der Schule ist Schlagsahne gegenüber dieser Hilflosigkeit auf dem OP Tisch. Aber wie kann ein Psychopath derartige Gefühle in mir auslösen? Diese unbeschreiblichen Emotionen habe ich zuvor noch nie gespürt, ich wusste nicht, dass sie überhaupt existieren. Nein, ich darf das nicht zulassen. Nicht er, er darf diese Gefühle nicht in mir entfachen.
„Verdammt Alvaro." Ich stoße seine Hand von meiner Brust.
Alvaro lächelt nur liebevoll, streift den Pullover nach unten, nimmt meine Hand, greift nach meiner Tasche und zieht mich aus dem Badezimmer.
„Du musst nach Hause, Tara. Ich will nicht, dass sich deine Eltern unnötig Sorgen machen."
Plötzlich ist er wieder so fürsorglich. Ich bin komplett verwirrt und habe keine Zeit über diese Stimmungsschwankungen und über die sonderlichen Gefühle für ihn nachzudenken. Alvaro zieht mich durch die vielen Gänge, hinaus zum Ferrari.
Die Autofahrt verläuft wie immer schweigsam, die klassische Musik die aus dem Radio erklingt, überhöre ich. Die innerliche Unruhe macht mich fertig. Ich sitze einfach nur da, und lasse alles an mir vorbeiziehen.
„Bis morgen in der Schule Tara. Danach kommst du wieder mit zu mir." Grinst mich Alvaro liebevoll an. Das Auto hält und ich verlasse ohne ein Wort zu sagen schnell den Ferrari.
Kurz vor sechs. Meine Eltern sind zum Glück noch nicht da, ich weiß aber, dass sie in den nächsten Minuten auftauchen. Ohne groß zu überlegen sprinte ich hoch in mein Zimmer und falle müde in mein Bett.
Zeit über meine gemischten Gefühle nachzudenken bleibt nicht. Ich ziehe mir die Bettdecke bis hoch zu meiner Nasenspitze und meine Augenlieder fallen schwer und erschöpft zu. Im nächsten Moment bin ich eingeschlafen. Die Dunkelheit umhüllt mich.
Ein. Ein. Ein. Aus. Ein. Aus. Und noch einmal atme ich kurz ein. Die Blutdruckmanschette wird an meinen Oberarm befestigt. Die EKG- Elektroden werden angelegt. Und die Herzfrequenz ist durch das Piepsen auf dem Monitor deutlich hörbar. Viele Schläuche werden um meinen Körper gewickelt, ich bin hier fest verankert. Angekettet. Mein Körper zittert innerlich, jegliches Zeitgefühl ist verloren.
Ich will schreien. Ich muss. Ich muss mich wehren, den tödlichen Schmerzen entkommen. Aber mein Körper gehorcht mir nicht. Verzweifelt versuche ich, mit aller Kraft, meinen Oberkörper aufzurichten. Ich will hier weg, ich muss hier weg. Einfach nur verschwinden. Aber es gelingt mir nicht. Meine ganze Energie verschwende ich darauf, auch nur ein kleines Glied zu bewegen, erfolglos. Die Panik wird unerträglich. Die Angst steigt bis ins unermessliche.
Ein widerliches Geräusch lasst mich aufschreien. Innerlich. Ich höre wie sich das Skalpell durch meine Hautdecke bohrt. Ich versuche wegzuhören. Schaffe es aber nicht, ich höre den Schnitt genau. Zu genau. Der Schmerz durchsticht meine Seele qualvoll.
Ich fühle mich so hilflos. Das ist schlimmste, diese unendliche Hilflosigkeit. Ich kann nichts machen, rein gar nichts. Nicht weglaufen. Nicht in dieses weiße Licht gehen, dass nur ein Hauch von mir entfernt ist. Das Licht der Erlösung, des Todes. Aber dennoch schaffe ich es nicht, es zu erreichen.
Sie werden mich am Leben halten, immer. Eine Puppe, die sich gut zum Experimentieren eignend, lassen sie nicht wegsterben. Der Stich in meinem Herz übersteigt plötzlich die Schmerzen, die durch das Skalpell auslöst werden. Diese Hilflosigkeit ist unendlich mal grauenvoller als das Aufschneiden meiner Bauchdecke. Die Verzweiflung bohrt sich hemmungslos in mein Herz. Es bildet sich ein Loch, gefüllt mit tausendend Wunden. Schmerzvolle Wunden, die vor Hilflosigkeit triefen.
Plötzlich ist ein langegezogenes Piepsen zu hören. Mein Herz hört auf zu schlagen. Die Hilflosigkeit raubt mir den Mut zum Leben. Mein Körper will versagen, aber Sie lassen es nicht zu. Sie wollen mich leiden sehen, Sie werden mich am Leben lassen. Die Erkenntnis schlägt mit voller Wucht auf mein verletztes Herz. Ich muss jede einzelne Sekunde spüren. Schmerzvolle lange Sekunden, getränkt in unendlicher Qual.
Ich zucke zusammen. Erschrocken schlage ich meine Augen auf, ich bin in meinem Zimmer, mein T-Shirt klebt schweißtriefend an meinem zitternden Körper. Es war der schlimmste Albtraum meines Lebens.
Etwas tief in mir drin sagt, dass die Albträume nie aufhören werden. Niemals. Die Traumatisierung ist zu stark. Ich werde die qualvolle Hölle selbst in meinen Träumen immer wieder durchleben müssen. Immer wieder.
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