24.12. II
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GIMS, Sia - Je te perdonne
Sigrid - Home To You (This Christmas)
***
Irgendwann gab es keine Tränen mehr, die wir beide weinen konnten. Alles war vollkommen still.
Langsam setzte ich mich auf und zog die Beine an. Jascha, der noch immer den Affen im Arm hielt, lehnte sich schwer an die Wand an und schaute mich aus müden, roten Augen an.
"Es ist meine Schuld", krächzte ich
Schwach schüttelte Jascha den Kopf. "Es war ein Unfall."
"Aber ich hätte auf ihn aufpassen müssen."
"Gib dir nicht die Schuld, Charlie."
Ich schluckte heftig und vergrub das Gesicht in meinen Händen. "Es tut mir so leid, Jascha", flüsterte ich, "So unendlich, unendlich leid."
"Ich weiß", wisperte Jascha kraftlos.
Geschlagen bettete ich den Kopf auf meinen Knien.
"Nicht nur das tut mir Leid", gab ich leise von mir, "Auch alles danach. Ich war nicht fair zu dir und dann habe ich dich im Stich gelassen, als du mich am meisten gebraucht hast. Ich bin einfach abgehauen." Vorsichtig blickte ich in seine Richtung und mein Sichtfeld verschwamm schon wieder. "Kannst du mir das verzeihen, Jascha?"
Mit nachdenklicher Miene taxierte Jascha mich. "Ich glaube, ich habe dir schon lange verziehen", antwortete er schließlich, "Schon bevor ich dich in der Stadt gesucht habe. Ich wollte irgendwann einfach nur noch, dass du wieder heim kommst."
Ich nickte matt. Um Jaschas Vergebung zu wissen, hob zumindest einen Teil der Last von meinen Schultern, dennoch kam sie mir in diesem Moment schier untragbar vor.
Da legte Jascha den Kopf schief und blickte mich aus traurigen Augen an. "Und ich hoffe, auch du verzeihst mir die Dinge, die ich dir angetan habe", sagte er mit rauer Stimme, "Du warst nicht die einzige, die damals Fehler gemacht hat und ich weiß, ich habe dir mit meinem Verhalten damals wehgetan. Das tut mir sehr Leid."
"Natürlich vergebe ich dir", flüsterte ich.
Wir schauten einander an. Leer und roh. Und doch so wahrhaftig voreinander, wie wir es vielleicht noch nie vorher gewesen waren. Schließlich sprach ich aus, was ich schon die ganze Zeit hatte sagen wollen.
"Ich liebe dich, Jascha. Und ich bin so froh, dass du mich wiedergefunden hast."
Jaschas Mundwinkel bewegten sich ganz leicht. "Ich liebe dich auch, Charlie", antwortete er und hielt meinen verhaltenen Blick mit seinem fest. Dann seufzte er einmal tief auf, wischte sich mit der Hand übers Gesicht und erhob sich. Auch ich atmete noch einmal durch, bevor ich es Jascha schließlich gleich tat. Unsere Blicke trafen sich, dann fielen wir uns inmitten der verwaisten Möbel und Spielzeuge unseres Sohnes in die Arme und hielten einander fest. Wir klammerten uns an die Nähe des anderes, so als trauten wir es uns gerade nicht zu, alleine zu stehen.
"Es tut einfach so unglaublich weh", wisperte ich an Jaschas Brust.
"Ja", antwortete Jascha erstickt und sein Oberkörper bebte. Mehr konnte selbst er in dieser Situation nicht sagen.
Schließlich lösten wir uns voneinander. Ich streichelte Jascha über die Wangen und wischte die letzten Spuren seiner Tränen fort. Ein Klos saß in meinem Hals, als ich fragte: "Ist das jetzt unser Leben? Ewige Traurigkeit über das, was geschehen ist?"
Jaschas Stirn schlug nachdenkliche Falten und er strich mit den Fingerspitzen einige feuchte Haarstränen aus meinem Gesicht, während er nach einer Antwort suchte. Schließlich sagte er: "Ich glaube, auf irgendeine Weise wird die Trauer unseren Weg immer begleiten, sonst hätten wir Finn nicht geliebt."
Seine Worte malten eine düstere Perspektive, dennoch kämpfte sich nun ein kleines Lächeln in sein Gesicht und er strich mit seinem Daumen über meine Wange. "Aber die letzten zwei Tage haben mir gezeigt, dass ich noch immer an eine Zukunft mit dir glauben kann. Eine Zukunft, die erfüllt ist und nicht nur traurig."
Bei diesen Worten erwachte in mir mir ein winziges Licht und kämpfte sich durch die Trümmer meines Herzens. Es war ein Licht, das sich in etwa so anfühlte wie Hoffnung. Noch war sie zart und schwach und doch war sie da und leuchtete ihr tapferes Glimmen in eine Zukunft, die mir bisher vollkommen schwarz vorgekommen war.
"Ich glaube dir", flüsterte ich Jascha zu und dann berührten sich unsere Lippen. Es war der Hauch eines Kusses. Ganz leicht und kaum spürbar, so als wollte niemand von uns diesen zerbrechlichen Moment zerstören.
Als wir uns schließlich voneinander lösten, hob Jascha den Affen vom Boden auf. "Was hältst du davon, wenn wir das tun, was Finn jetzt am liebsten getan hätte?", fragte er.
Ich lächelte leicht. "Rausgehen und Schneetraktoren bauen?"
Jascha nickte, dann lächelte er mir zu und nahm meine Hand. Als wir Finns Zimmer schließlich verließen, schloss ich die Tür nicht ganz, sondern lehnte sie an. Irgendwie fühlte sich das richtiger an.
***
Draußen setzte schon langsam die Dämmerung ein, doch Jascha und ich machten uns nichts daraus. Vor unserer Blockhütte türmten wir den Schnee zu Haufen auf und formten sie in Gebilde, die entfernt an jene Traktoren erinnerte, die unser Sohn es geliebt hätte. Und obwohl der Anlass unendlich traurig war, spürte ich wieder so etwas wie eine zarte Leichtigkeit in mir aufflackern.
Als uns kalt wurde, gingen wir hinein, beendeten die Vorbereitung der Bratäpfel und schmückten den Weihnachtsbaum. Bald erfüllte der Duft von Bratkürbis und Wildreis das Haus. Jascha deckte den Tisch und ich zündete alle Kerzen an, die ich finden konnte, bis unser gesamtes Zuhause in einen warmen, goldenen Schein getaucht wurde.
Schließlich verschwand ich nach oben, um mich fertig zu machen. Als ich einen Blick in den Spiegel wagte, schaute ich in ein Gesicht, das unglaublich abgekämpft aussah. So wie Jascha sah man auch mir an, dass ein schweres und schreckliches Jahr hinter mir lag. Und dennoch war das Gefühl in mir anders. Der Schmerz war wieder roh und frisch und doch überwältigte er mich nicht mehr. Es war, als hätte er in dem Moment die Übermacht über mich verloren, in dem ich ihm Raum gegeben hatte. Jetzt pochte er noch immer kaum erträglich in meiner Brust und doch ließ er ein wenig Platz. Platz für Zweisamkeit, für das Festhalten eines schönen Augenblicks mit der Kamera, das Tollen im Schnee oder das Gefühl von weichem Fell zwischen den Fingern.
Vielleicht war also wirklich etwas dran an dem Zerbrechen. Vielleicht schaffte erst das den Platz, um auch langsam wieder zu heilen.
Ich schminkte mich, machte meine Haare und zog ein fließendes, dunkelgrünes Kleid an. Auf dem Weg zum Abendessen strich ich einmal sanft über Finns Tür, bevor ich mich ins Wohnzimmer begab, in dem Jascha bereits auf mich wartete. Als dieser mich sah, leuchteten seine Augen auf und er erhob sich vom Sofa, wobei mir auffiel, dass er jenen feinen grauen Anzug trug, den er auch an unserer Hochzeit angehabt hatte. Mein Mann blickte mich voller Bewunderung an, dann reichte er mir den Arm und führte mich feierlich in die festlich geschmückte Küche.
Wir aßen bei Kerzenschein und auch Sockl stibitzte sich seinen Anteil. Die Stimmung zwischen uns war festlich und doch ließ sie Platz für die Trauer, die von nun an unweigerlich auch ein Teil unseres Weihnachtsfests sein würde. Alles war erlaubt. Worte der Erinnerung, ein Lächeln, ein unpassender Witz, Schweigen, plötzliche Tränen, Trost und zugewandte Blicke. Wir verstanden einander tief. Und es war in Ordnung, wie wir uns heute fühlten und schwankte es auch noch so chaotisch zwischen Euphorie und Niedergeschlagenheit hin und her.
Schließlich ergriff ich das Wort. "Ich habe nachgedacht", begann ich, "Über die Welpensache."
Jascha, der sich gerade eine Gabel voll Reis in den Mund geschaufelt hatte, hielt mitten in der Bewegung inne und hob interessiert seine Augenbrauen, gefolgt von einem Mundwinkel.
Ich schmunzelte über seine Reaktion und fuhr fort: "Vielleicht können wir das im Frühjahr doch einmal angehen."
Endlich fiel Jascha wieder ein, wie Kauen funktionierte. Er lächelte und hielt sich dann eine Hand vor den Mund, während er fragte: "Wie kommt es zu solch einer Gemütsänderung?"
Ich zuckte nur unschuldig mit den Schultern. "Vielleicht hat jemand in deinem Haushalt erkannt, dass beides zusammen möglich ist. Trauern und Weitermachen. Stück für Stück eben. Und vielleicht hält dieser Jemand deine Schnapsidee doch für einen ganz guten ersten Schritt."
Jascha lächelte und blickte mich liebevoll an. "Ich gehe davon aus, dass dieser Jemand nicht Socke ist?", fragte er sanft.
Ich schüttelte den Kopf.
Jascha griff über den Tisch hinweg und nahm meine Hände. Erst sah es so aus, als wolle er etwas sagen, dann hob er sie aber einfach zu seinen Lippen und küsste sie.
"Den Abwasch machen die Wichtel oder im Zweifel wir morgen", sagte er leise über den Tisch hinweg, "Aber ich muss jetzt mit meiner Frau tanzen."
Ich grinste, als er aufstand und mich mit sich ins Wohnzimmer zog, wo bereits ein kleines Feuer im Kamin brannte und der Holzstern an der Decke den Raum zusammen mit den brennenden Kerzen den Raum in ein gemütliches Licht tauchte. Jascha hob etwas Zeug von dem alten Plattenspieler, der inzwischen hauptsächlich noch als Dekoobjekt diente, kramte eine Weihnachtsplatte aus irgendeiner Schublade und legte sie auf.
Es war nicht der beste Ton, den der alte Kasten nun schmetterte, aber uns genügte es. Schwungvoll ergriff Jascha meine Hüfte und zog mich in eine Drehung. Ich legte den Kopf in den Nacken und lachte, als wir ungestüm umher wirbelten und dabei beinahe eine Stehlampe mit uns rissen. Wir drehten uns umeinander und packten ein paar verstaubte Tanzschritte aus, bevor wir schließlich langsamer wurden und uns nur noch seicht zur Melodie wiegten. Irgendwann nahm Jascha mein Gesicht in seine Hände und wir küssten uns innig, bis der Plattenspieler plötzlich den Geist aufgab.
"Ich habe eine Idee", flüsterte ich an Jaschas Lippen, bevor ich mich sanft aus seiner Umarmung löste. Ich ließ meinen verwirrten Mann im Wohnzimmer stehen, verschwand in Finns Kinderzimmer und kehrte mit ein paar Spielzeugautos und dem blauen Affen wieder. Jaschas Gesicht nahm einen betroffenen Ausdruck an, als er sah, was ich mitgebracht hatte, doch ich nahm sanft seine Hand.
"Komm", sagte ich zu ihm, "Wir lassen Finn Teil von heute sein." Ich führte Jascha zum Baum und legte die Autos darunter ab. Jascha verschränkte währenddessen neben mir die Arme vor der Brust und legte nachdenklich den Kopf schief. Dann verschwand er kurz aus der Tür und kam mit einer Rolle Bindfaden und einer Schere zurück. Wortlos band er Schlaufen an die kleinen Autos und hängte sie an den Baum. Den Affen setzte er schließlich ganz nach oben auf die Spitze.
Ich wischte mir eine Träne von der Wange. "Das gefällt mir", sagte ich mit belegter Stimme und Jascha legte einen Arm um mich und drückte mir einen Kuss auf die Schläfe.
Eine Weile standen wir dort, bewunderten den Baum und dachten an unseren Sohn.
"Ich mag das", flüsterte ich irgendwann.
"Was?", fragte Jascha.
"Weihnachten so zu feiern, wie Finn es gefallen hätte."
Jascha nickte und lächelte leicht. "Ja, mir gefällt das auch."
***
Spät am Abend saßen wir am Boden des Wohnzimmers vor dem prasselnden Kaminfeuer. Jascha hatte den Arm um mich gelegt und mein Kopf ruhte an seiner Brust. Ich blickte durch das Fenster hinaus und beobachtete, wie es draußen zu schneien anfing.
"Weißt du, Jascha", begann ich leise, "Ich dachte, ich könnte die Schneeflocken nie wieder ertragen. Es hat sich angefühlt, als würde der Winter mich damit verhöhnen, weil er mich daran erinnert, dass Finn nicht mehr da ist, um den Schnee mit mir zu genießen."
Jascha bewegte sich unter mir, legte sein Kinn auf meinen Kopf und folgte meinem Blick nach draußen, während er mir zuhörte.
"Aber vielleicht", fuhr ich fort, "Ist der Schneefall ja auch nur Finn, der mir sagen will, dass ich es jetzt erst Recht genießen sollte. Wegen ihm. Weil ich ihm nirgendwo näher sein kann, als unter den fallenden Schneeflocken."
Jascha drückte mir einen Kuss ins Haar, dann einen weiteren an die Schläfe.
"Ich denke, das ist eine gute Vorstellung", meinte er und zog mich ein wenig an näher an sich heran.
Ich ließ mich an Jaschas Körper sinken und beobachtete die weißen Flocken, die vor der Fensterscheibe tanzten. Das Sternenlicht schien von draußen hinein und Socke kam schnurrend angetapst und rollte sich in meinem Schoß zusammen.
"Ich glaube", sagte ich und blinzelte, "In dem Fall kann ich mich auch wieder mit Schneeflocken anfreunden."
***
ENDE
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