24.12. I
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Matt Maeson - Dancing After Death
BANNERS - Perfectly Broken
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Am nächsten Morgen wachte ich in Jaschas Armen auf. Das Sonnenlicht, das durch die nachlässig zugezogenen Vorhänge in unser Schlafzimmer fiel, kitzelte mich an der Nase, doch ich seufzte nur im Halbschlaf, vergrub mich tiefer in den Decken und kuschelte meinen nackten Körper an Jaschas. In diesem Moment war alles selig, alles war gut. Ich fühlte mich sicher, mir war warm und ich war zuhause. Mein Zuhause lag neben mir.
Langsam öffnete ich die Augen und blickte auf Jascha, der noch immer tief schlafend einen Arm um mich gelegt hatte. Sanft streichelte ich ihm durch die zerzausten Haare und ich hatte das Gefühl, mein Herz müsste vor Liebe zu ihm zerbersten. Von meinen Gefühlen ergriffen drückte ich ihm einen winzigen Kuss auf die Wange, dann löste ich mich vorsichtig aus seinen Armen, stand auf und trat an die große Kommode unseres Schlafzimmers. Dort lag meine Kamera, die ich gestern beim Umziehen ein wenig nachlässig auf der hölzernen Oberfläche liegen gelassen hatte. Nun nahm ich sie in die Hand und drückte einen Knopf, woraufhin sie mit einem leisen Surren zum Leben erwachte. Mein Herz hüpfte wie ein Flummi in meiner Brust, als ich mich zum Bett wandte und davor kniend den passenden Winkel suchte.
Das Licht floss so wunderbar über Jaschas friedlichen Züge wie die halb zur Seite gefallene Decke über seinen nackten Oberkörper. Seine Wimpern warfen sanfte Schatten auf seine Haut und das Chaos seiner Haare zeugte von einer magischen Nacht. Für mich war es ein Bild purer, wahrer Schönheit. Kraftvoll und ausdrucksstark und dabei doch zutiefst in sich selbst ruhend. Ich stellte die Kamera ein, hielt sie gerade, atmete aus und... Klick. Ein Lächeln erfüllte mein Gesicht, als ich das Foto betrachtete. Es war perfekt.
Da hörte ich plötzlich ein kratzendes Geräusch an der Tür, gefolgt von einem aufgebrachten Miauen. Ich vergewisserte mich, dass Jascha friedlich weiterschlief und sich nicht von Sockes Terror wecken ließ, dann legte ich die Kamera auf meinen Nachttisch, streifte mir ein T-Shirt und ein Höschen über und verließ auf Zehenspitzen das Zimmer, wo schon mein verhungernder Kater wartete und mich empört anmiaute.
"Armer Kerl", sprach ich zu Socke, "Hat dich etwa noch niemand gefüttert, Sockl-Nimmersatt?"
Mit Socke auf den Fersen tapste ich nach unten, doch bevor ich mich in Richtung Küche wenden konnte, blieb mein Blick an der bemalten Tür hängen und es war, als melde sich die Realität mit einem kräftigen Schlag ins Gesicht bei mir zurück.
Eine kalte Gänsehaut zog sich über meinen Körper und mein Herzschlag beschleunigte sich auf die unangenehmste Art und Weise.
Heute war Weihnachten. Der Tag, den Jascha und ich niemals wieder nur zu zweit hatten feiern sollen.
Auf einen Schlag war alle Leichtigkeit vergangen. Innerlich fiel ich von meiner seligen Wolke, stürzte und krachte erbarmungslos auf den Boden der Realität. Mein Atem ging stoßweise und ich griff nach dem Türrahmen, in dem ich wie angewurzelt stehen geblieben war, als Gefühle, mächtig und dunkel, sich in mir an die Oberfläche kämpften. Tiefe Trauer. Ein überwältigendes Schuldgefühl. Hoffnungslosigkeit. Sie drohten, mich zu packen und mich mit sich in ihren dunklen Abgrund zu ziehen.
Erst das fordernde Streifen Sockes um meine nackten Beine holte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich schüttelte mich, so als könne ich damit auch alle Erinnerungen abschütteln, die mich heimsuchten, und rieb mir kräftig mit beiden Händen über das Gesicht.
Ich wollte nicht wieder abstürzen. Nicht wieder von jenen Gefühlen überwältigt werden, die mich damals erst gegen Jascha und dann auf der Flucht vor mir selbst in diese kalte Großstadt getrieben und verschlungen hatten. Nicht jetzt, wo ich Jascha, mein Leben und sogar meine Leidenschaft zur Fotografie wiedergefunden hatte.
Und so riss ich mich zusammen und kämpfte alle Emotionen zurück an den Ort in mir, aus dem sie herausgekrochen waren. Dann drehte ich der verhängnisvollen Tür den Rücken zu und folgte dem Meckern meines Katers in Richtung Küche.
***
Als ich Socke vor dem Hungertod gerettet hatte, schlüpfte ich wieder ins Schlafzimmer und kroch zurück zu Jascha unter die Decke. Dieser blinzelte verschlafen und grummelte etwas, bevor er sich streckte und mich schließlich mit seinen Armen umschloss. Ich seufzte zufrieden, kuschelte mich in Jaschas schützende Umarmung und umklammerte seinen Körper, so als sei er das einzig Warme in einer Welt aus Eis und Schnee. Noch immer pochte mein Herz wie verrückt.
Langsam wurde Jascha wacher. "Alles gut?", fragte er prüfend. Ich nickte und zwang mir ein Lächeln ins Gesicht, dann bettete ich mein Kinn auf seiner Brust und streichelte ihm durchs Haar. "Habe ich dir eigentlich schon einmal gesagt, wie toll du bist?", wisperte ich ihm zu.
Jascha lächelte träge. "In letzter Zeit nicht, nein", antwortete er in seiner belegten Morgenstimme und gab mir einen Kuss auf die Nasenspitze, bevor ihm ein herzhaftes Gähnen entfuhr und er sich zurück ins Kissen sinken ließ.
Wir lagen noch eine Weile ineinander verschlungen da und genossen die gegenseitige Nähe. Liebkosten einander mit sanften Berührungen und trägen, federleichten Küssen. Irgendwann schälten wir uns schließlich doch aus den Decken und zogen uns an. Ich nahm die Kamera vom Nachttisch und zeigte Jascha das Bild, woraufhin diese lachte und das Gesicht verzog. "Hübscher Kerl, der da sabbernd in deinem Bett liegt. Kann man den kennenlernen?"
Ich rollte mit den Augen und boxte Jascha in den Arm, bevor ich ihm schließlich in Richtung Küche folgte. Keinen Blick warf ich auf die Tür und doch legte sich ein schwerer Schleier über mein Herz, als wir an ihr vorbei gingen, und ich bildete mir ein, dass auch Jaschas Schultern vor mir kaum merklich einsackten.
***
"Am besten bereiten wir erst den gefüllten Kürbis und die Bratäpfel für heute Abend vor und danach schmücken wir den Baum und den Rest des Hauses", schlug Jascha nach dem Frühstück vor und riss mich damit aus meinen Gedanken.
Ich schreckte hoch. "...Ja. Guter Plan", gab ich kurz angebunden zurück. Jascha zog fragend die Augenbrauen zusammen, sagte aber nichts, sondern begann, die Zutaten für den Hauptgang zusammen zu sammeln. Ich atmete währenddessen einmal durch und versuchte Atem und Puls durch reine Willenskraft wieder in den Normalbereich zu treiben. Als Jascha mir schließlich ein Küchenmesser in die Hand drückte, sammelte ich mich innerlich und zwang mich, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren.
Jascha und ich arbeiteten Seite an Seite, schnippelten Gemüse und kochten den Backkürbis für heute Abend vor, doch ich merkte, dass ich abgelenkt war. Fahrig und schweigsam bewegte ich mich durch die Küche und meine Brust schien immer enger zu werden, je weiter der Vormittag voranschritt. Ich ließ Schüsseln und Zutaten fallen und erwischte mich immer wieder selbst dabei, wie ich in der Gegend herum starrte, anstatt zu arbeiten, doch es half nichts. All meine Konzentration floss in den Versuch, die unruhigen Emotionen in mir einigermaßen im Schach zu halten. Doch auch Jascha war stiller als sonst und ich bemerkte, dass sich seine Gesichtszüge im Laufe des Vormittags zunehmend verhärteten und sein Kiefer angespannt arbeitete. Zwar versuchte er ab und zu halbherzig, ein Gespräch mit mir in Gang zu bringen, doch dieses verlief meist schnell im Sande und so breitete sich ein ungewohnt beklemmendes Gefühl in dem sonst so behaglichen Raum aus. Irgendwann machte Jascha schließlich das Küchenradio an und Weihnachtsmusik dudelte aus den in die Jahre gekommenen Lautsprechern, während wir schweigend nebeneinander weiter arbeiteten.
Wir aßen eine Kleinigkeit zu Mittag dann begaben wir uns an die Füllung für die Bratäpfel. Inzwischen hatte sich ein erstickendes Brodeln in mir breit gemacht und meine Kehle war so zugeschnürt, dass es fast schmerzte. Es kostete mich alle Kraft, nicht entweder abzuhauen oder in irgendeiner Form zu explodieren, doch der dunkle Sturm an Emotionen drängten sich immer weiter an die Oberfläche und ich merkte, wie ich nach und nach die Oberhand verlor. Ich wusste nicht, wohin mit mir.
Wohin mit all dem Chaos in meinem Inneren, das ich weder erklären, noch mit ihm umgehen konnte? Ich spürte das dringende Bedürfnis, mit Jascha darüber zu sprechen, aber jedes Mal wenn ich ansetzte, fehlten mir die Worte. Oder der Mut.
Was sollte ich auch sagen?
Hey Jascha, ich liebe dich und bin froh, wieder hier zu sein, aber diese eine Tür in unserem Haus treibt mich in den Wahnsinn, weil ich versuche, so zu tun, als existiere sie nicht, aber das klappt nicht und ich fühle mich wie eine miese Verräterin.
Bescheuert.
"...okay?"
Ich schreckte hoch. "Was?", rief ich in die Küche hinein und brauchte einen Moment, um mich wieder zu orientieren.
Jascha runzelte die Stirn. "Ich sagte", wiederholte er gereizt, "Ich gehe kurz in den Keller Äpfel holen. Du kannst in der Zeit ja schon mal die Vanillesauce ansetzen."
Er wandte sich zur Tür.
"Nicht gehen!", schrie ich schrill, als urplötzlich die Panik in mir aufstieg, "Bitte geh nicht weg, Jascha!"
Ich war kurz davor, zusammenzubrechen. Tränen stiegen in mir auf und ich begann plötzlich, unkontrolliert zu zittern.
"Es tut mir leid, ich...", stammelte ich, "Ich... Ich weiß nicht, was los ist, Jascha. In mir ist nur Chaos. Ich bin unruhig, meine Gedanken sind überall, nur nicht hier, und meine Gefühle... Es tut mir leid, ich..."
Ich brach ab und presste die Lippen aufeinander, während ich hilflos zu meinem Mann schaute, der noch immer den Türgriff in der Hand hielt. Als Jascha sich schließlich zu mir umdrehte, lag eine tiefe Traurigkeit in seinem Blick. Wortlos trat er auf mich zu und schloss mich in die Arme, während ich mich zitternd an seinen Schultern festklammerte und um Fassung rang.
Schließlich drückte mich Jascha sanft von sich weg. Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen. "Es wird Zeit, dass du dich ihm stellst, Charlie", sagte er ruhig und sein Daumen strich sanft über meine Schläfe.
Ich schüttelte meinen Kopf und meine Stimme klang noch immer hysterisch. "Nein. Nein, ich... Solange die Tür zu ist, ist er noch da. Er liegt dort drin in seinem Bettchen und schläft. Alles ist in Ordnung, Jascha."
Jaschas Augen waren gefüllt von Zerbruch. Von Traurigkeit, Schmerz und tiefem Leid. Mit unendlich sanfter Stimme sprach er zu mir. "Das ist nicht wahr, Charlie, und das weißt du. Wenn du frei sein willst, dann musst du dieses Zimmer betreten."
Er ließ mich los.
"Ich gehe jetzt die Äpfel holen", sagte er mit ruhiger Stimme, "in Ordnung?"
Ich stand in der Mitte der Küche. Starr und verloren. Irgendwie brachte ich die Andeutung eines Nickens zustande und Jascha ging und man hörte nur noch die Kellertür auf- und wieder zugehen.
Für eine Weile stand ich einfach nur da, unfähig, mich zu rühren. Dann, ganz langsam, bewegte ich mich auf die Küchentür zu, die Jascha hinter sich einen Spalt offen gelassen hatte. Ich öffnete sie wie in Zeitlupe, trat hindurch und bog in den Flur hinein. Schritt für Schritt.
'Du musst nicht stark sein. Manchmal reicht es, nur einen einzigen entschlossenen Schritt zu gehen.'
Jaschas Worte von vor zwei Tagen hallten in meinem Kopf wider, als ich mich den Flur entlang kämpfte. Mit jedem Schritt näher zur Tür des Kinderzimmers begannen meine Hände, unkontrollierter zu zittern. Tränen benetzten bereits jetzt meine Wangen, als ich die bunt bemalte Tür erreichte und langsam meine Hand zum Türknauf ausstreckte.
'Ich bin zerbrochen. Ich habe es mir erlaubt zu zerbrechen und dann habe ich mir erlaubt, zu heilen. Stück für Stück.'
Die Tür schwang auf und alles sah noch genau so aus, wie wir es für unseren zweijährigen Sohn eingerichtet hatten. Der flauschige, cremefarbene Teppich auf den Holzdielen, das Kinderbettchen mit Finns Plüschtieren, der Schrank gefüllt mit Bilderbüchern über Traktoren, die er so geliebt hatte. So als sei Finn nur kurz mit Papa draußen im Schnee spielen und würde gleich mit triefender Nase und grinsenden roten Pausbäckchen ins Haus gestiefelt kommen.
Ein Schluchzer löste sich aus meiner Kehle und ich presste eine Hand auf meinen Mund, als ich den kleinen blauen Affen bemerkte, den jemand zu den anderen Kuscheltieren aufs Bett gesetzt hatte. Den Affen, den wir Finn hatten schenken wollen, bevor unser drittes gemeinsames Weihnachtsfest als Familie zum schlimmsten Tag unseres Lebens geworden war.
Ich taumelte ein paar Schritte ins Zimmer hinein, dann brach ich zusammen.
Der Schmerz wallte in mir auf, formte eine donnernde Lawine und überrollte mich. Er traf mich mit erbarmungsloser Wucht, riss den Boden unter meinen Füßen weg und trieb mich mit sich hinab in die Tiefe. Dorthin, wo alles schwarz war, wo man nicht mehr atmen und auch nicht mehr leben konnte.
Ein verzweifeltes Schluchzen entfuhr mir, dann noch eins und noch eins, bis ich schließlich bitterlich anfing zu weinen. Ich weinte, schluchzte, schrie. Beweinte meinen Sohn, der hier bei mir sein sollte und doch nie wieder da sein würde. Meinen Sohn, der den Schnee über alles geliebt hatte, der mit leuchtenden Augen auf den Schultern seinen Vaters gesessen und Schneeflocken gefangen hatte und der sich dann gewundert hatte, warum die Flöckchen immer schon weg waren, wenn er sie seiner Mama zeigen wollte. Nie wieder würde ich sein Lachen hören oder den tippelnden Schritten auf den Holzdielen lauschen, nie wieder seine Händchen auf meiner Wange spüren und seinen kleinen Körper in meinen Armen wiegen, wenn wir abends noch am Kamin saßen und Bücher über Traktoren lasen.
Finn war tot. Und ich war schuld.
Ich kauerte mich auf dem Teppich im Kinderzimmer zusammen, als der Schmerz mein ganzes Sein erfüllte und mich innerlich in Stücke riss. Ich schrie und schrie und schrie, bis meine Kehle nicht mehr konnte und weinte hässliche, hemmungslose Tränen, bis von meinem lauten Heulen nur noch stummes, verzweifeltes Schluchzen blieb.
Irgendwann öffnete sich hinter mir die Tür und Jascha trat ein, auch sein Gesicht tränennass. Er schleppte sich zu Finns Bett und nahm den Affen in seinen Arm, dann sank er an der Wand zu Boden, vergrub das Gesicht in seinem Arm und fing bitterlich an zu weinen.
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