22.12. II
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Sleeping At Last - Two
Tom Walker, Zoey Wees - Wait for You
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Jaschas Geländewagen gab sein Bestes, als er sich die engen, verschneiten Straßen zu dem Dorf hinauf kämpfte, das einst zu einer Heimat geworden war. Als ich aus dem Fenster des Autos schaute, war alles um uns herum weiß, denn obwohl sich das Dorf in einem Tal und nicht hoch in den umliegenden Bergketten befand, war man schon hier so weit oben, dass zu dieser Zeit des Jahres alles mit einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Mit gemischten Gefühlen schaute ich zu, wie schneebedeckte Felder und Nadelwälder an uns vorbeizogen und schließlich die vertrauten Hausdächer und der mintgrüne Kirchturm des Dorfes am Horizont auftauchten. Friedlich und still lag es dort in seinem Bett zwischen den Bergmassiven und entließ weiße Rauchschwaden in die sonnengetaufte Winterluft. Es war ein malerisches Bild, das auf einer Leinwand vor Ausdruck strotzen würde, wenn man es nur richtig einfinge.
Jascha lenkte den Wagen jedoch nicht direkt ins Dorf hinein, sondern daran vorbei. Ruckelnd passierten wir eine verschlungenen Straße ein Stück den Berg hinauf, bis der Fels schließlich die Sicht auf eine verschneite Holzhütte freigab, die friedlich vor einem aufsteigenden Nadelwald lag. Ich keuchte und mein Herz begann wie von selbst heftiger zu klopfen, als ich das Häuschen erblickte und eine seltsame Aufregung erfasste mich, als Jascha das Auto parkte und wir beide den kurzen Weg zur Hütte nahmen, der frisch geräumt aussah.
Zögerlich, fast schon scheu betrat ich das Innere des Hauses, schüttelte mir in der Diele den Schnee aus den Schuhen und trat dann in den gedrungenen Wohnbereich. Es sah fast genauso aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Alte, rustikale Holzmöbel drängten sich in den Raum und gaben ihm zusammen mit einem hübschen Kachelofen eine gemütliche, heimelige Stimmung. Auf dem Boden lag ein flauschiger Teppich und neben den bunt zusammengewürfelten Kissen auf dem dunkelroten Sofa saß ein hässlicher Plüschschneemann, der obligatorisch jeden Winter heraus gekramt wurde. Nur die Bilder an der Wand brachen das urige Landhausthema, denn bei ihnen handelte es sich um hochmoderne, künstlerische Fotografien. Kompositionen aus Farben, Form und Licht.
Eine Weile lang stand ich einfach dort und nahm den Raum in mich auf, der die verschiedensten Erinnerungen in mir hervorrief und sich dabei so sehr nach Heimat anfühlte, dass es fast wehtat. Dann hörte ich plötzlich ein lautes Miauen, gefolgt von einer großen flauschigen Fellkugel, die mit erhobenem Schwanz auf mich zu lief.
"Sockl!", rief ich aus und mit einem breiten Lächeln im Gesicht hob ich meinen getigerten Kater hoch und drückte ihn an mich. Socke schnurrte, als ich ihn ausgiebig das lange Fell hinter den Ohren kraulte und rieb seinen Kopf an der Jacke, die ich immer noch trug. "Oooh", flüsterte ich dem Kater zu, "Hast du mich etwa vermisst? Ich habe dich jedenfalls vermisst, du kleiner Vielfraß!"
"Es ist nicht besser geworden mit seiner Verfressenheit", kommentierte Jascha, der sich seiner Wintersachen entledigt hatte und hinter mir ins Wohnzimmer trat. "Ich glaube, ich habe ihn verzogen. Der Kater hat mich vollkommen unter Kontrolle."
Ich grinste und vergrub mein Gesicht in Sockes weichem Fell. "Einmal ein unverschämter Frechdachs, immer ein unverschämter Frechdachs. Nicht wahr, mein Sockl?"
Jascha lächelte schief, legte den Haustürschlüssel auf eine Kommode und strich sich schließlich durch sein zerzaustes Haar, als er ein wenig verloren in seinen eigenen Wohnbereich schaute.
"...Ich habe versucht, Ordnung zu halten", begann er kurz angebunden, "Weihnachtlich zu schmücken war aber irgendwie... schwierig. Später wollte ich allerdings noch einen Weihnachtsbaum schlagen, falls du mitkommen möchtest."
Socke befreite sich aus meinen Armen, trottete zum Sofa und begann, sich ausgiebig über das Fell zu lecken. Da nickte ich Jascha zu. "Ja, gern."
Jascha lächelte. Vorsichtig, beinahe schüchtern, so als seien wir wieder 14 und dies unser erstes Treffen hinter der Schulturnhalle. Dann löste Jascha sich aus dem Moment, strich sich über seinen Pullover und stieß sich von der Kommode ab. "Aber vorher: Brauchst du irgendetwas? Essen, Trinken... irgendetwas?"
Ich schlang meine Arme um meinen Körper, so als könnte ich damit verhindern, dass mein leerer Magen bei dem Gedanken an eine Mahlzeit unwillkürlich zu knurren begann. "Etwas zu Essen wäre ein Traum", antwortete ich zögerlich.
"Alles klar, Chefin", meinte Jascha, "Ich sollte noch etwas Eintopf haben, den ich warm machen kann."
"Danke", entgegnete ich. Es war ein ehrlicher Dank und doch merkte man die leichte Zögerlichkeit im Raum. Es war, als wüssten wir beide nicht recht, wie wir in dieser Situation miteinander umgehen sollten. Schließlich räusperte ich mich und meinte: "Ich würde noch kurz unter die Dusche springen, wenn das in Ordnung ist."
Jascha breitete die Arme aus. "Es ist auch dein Haus. Du darfst tun und lassen, was du willst."
Ich schaute mich in dem Haus um, so als würde mir das erst jetzt wieder bewusst werden.
"...Da hast du wohl Recht. Ich glaube, nach einem Jahr muss ich mich erst wieder daran gewöhnen", gab ich zu und rieb mir über die Arme, woraufhin Jascha mir kurz zulächelte und sich dann gefolgt von Socke in Richtung Küche begab. Als man schließlich erst das Knacken des Küchenradios und dann Weihnachtsmusik, begleitet vom Klappern von Töpfen hörte, zog auch ich endlich meine Wintersachen aus und begab mich in den hinteren Teil des Hauses, um zu duschen.
Ich streifte auf der Suche nach Klamotten und einem frischen Handtuch durch die vertrauten zwei Stockwerke der Hütte, wobei das Obergeschoss unter seinen Dachschrägen nicht viel mehr als ein kleines Bad und das Schlafzimmer beherbergte. Darauf, dass allerdings auch die untere Tür gegenüber der Holztreppe noch immer so aussah wie damals, war ich nicht vorbereitet gewesen. Abrupt stoppte ich, als da plötzlich die verschlossene Holztür vor mir lag, die über und über mit amateurhaften, bunten Malereien verziert worden war. Ich konnte nicht anders, als sie anzustarren und sofort bildete sich ein gefährlicher Klos in meinem Hals. Ich war wie eingefroren und unfähig, mich zu rühren, gleichzeitig packte mich das unbändige Verlangen, auf der Stelle wegzulaufen, weil diese Tür einen Sturm an dunklen Emotionen in mir hinaufbeschwor, dem ich nicht gewachsen war. Mit aller Kraft rang ich um die Kontrolle über mich selbst und biss mir dabei so heftig auf die Lippe, dass ich Blut schmeckte, bevor es mir endlich gelang, den Blick abzuwenden. Steif und mit einem verstörenden Pochen in der Brust drehte ich mich um und schaffte es schließlich, das Badezimmer zu betreten.
***
Als endlich das warme Wasser über meinen Körper lief, konnte ich einen erleichterten Seufzer nicht unterdrücken. Ich duschte lange und ausgiebig und schrubbte meinen Körper gründlich, um all den Dreck der letzten Zeit von mir zu waschen. Als ich schließlich vollkommen warm und aufgeweicht war, trocknete ich mich mit einem weichen Handtuch ab, versorgte den Schnitt an meinem Bein und schlüpfte anschließend in frische Klamotten, die ich aus einem der Schränke geholt hatte. Die Kleidung saß gefährlich locker an meinem erschöpten Körper, dennoch fühlte ich mich nach der Dusche bereits deutlich wohler in meiner Haut. Den Blick in den Spiegel jedoch vermied ich. Irgendwie fürchtete ich mich vor der Version meiner selbst, die mir von dort entgegen schauen würde.
Als ich mich schließlich zu Jascha in die Küche gesellte, saß dieser schon am gedeckten Tisch mit einer Schüssel Eintopf in der Mitte und las Zeitung. Als er mich bemerkte, schaute er von seinem Artikel auf. "Charlie! Schön, dich mal wieder in dieser bescheidenen Küche begrüßen zu dürfen", witzelte er und ich schmunzelte und setzte mich ihm gegenüber an den kleinen Holztisch.
"Och, zumindest an einen gedeckten Tisch könnte ich mich wieder gewöhnen", gab ich zurück, "Wenn da nur die Gesellschaft nicht wäre."
Jascha grinste und mit wurde ein wenig wärmer.
Wir aßen miteinander und schmissen uns anschließend wieder in unsere Winterklamotten, um in das angrenzende Waldstück zu stapfen, wo wir einen süßen Weihnachtsbaum fanden, der in das kleine Wohnzimmer passen würde. Es wurde dunkel und nach einem kurzen Abendbrot feuerten wir schließlich den Kamin an und verbrachten den Abend lesend mit Socke auf dem Sofa. Es war seltsam. Auf der einen Seite wirkte alles normal. Vertraut und so wie immer. Gleichzeitig jedoch war uns beiden bewusst, dass nichts mehr normal war und dass es ein "so wie immer" für uns aktuell nicht gab. Und so schwebte stets eine gewisse Beklemmung zwischen uns und überschattete die scheinbare Romantik dieses beschaulichen Winterabends vorm Kamin.
Schließlich machte sich auch Jascha auf zu duschen. Als er den Raum verließ, verschwammen plötzlich die Zeilen vor meinem Auge. Ich ließ meinen Roman sinken und starrte ins Feuer, während jene dunklen, beunruhigenden Gedanken in mir hochkamen, die schon seit meiner Ankunft unterschwellig an mir gezerrt hatten. Nun, allein in dem halbdunklen Zimmer, rumorten sie umso mächtiger in mir und umkrallten mit schwarzen Klauen meine Eingeweide, bereit, mich mit all jenem Schmerz zu ersticken, der der Grund gewesen war, warum ich meine Heimat überhaupt vor so vielen Monaten verlassen hatte.
Meine Hand verkrampfte sich um die Seiten meines Buches und mein Atem wurde schneller, während die Gedanken und Emotionen in mir immer heftiger und unkontrollierter tobten. Irgendwann kam es mir so vor, als würden die Wände des Raumes plötzlich näher kommen und mir die Luft zum Atmen nehmen. Mein Atem wurde flach und japsend und schließlich hielt ich es nicht mehr aus. Bevor ich innerlich noch erstickte, flüchtete ich die Wendeltreppe hinauf ins Dachgeschoss und trat durch das Schlafzimmer hinaus auf den breiten Balkon der Hütte.
Kühle Luft empfing mich, als ich nach draußen trat und ich hatte das Gefühl, endlich wieder frei Luft holen zu können. Die Terrasse war leer, alle Gartenmöbel weggeräumt und nur der Whirlpool, der Jaschas und mein ganzer Stolz gewesen war, stand abgedeckt in der Ecke.
Ich schlang die Arme um meinen Körper und trat an das alte Holzgeländer, das den geräumigen Balkon begrenzte. Ein eisiger Wind umwehte meine Nase, als ich in das dunkle Tal hinabschaute. Alles war von einem nächtlichen Schwarz bedeckt. Nur dort, wo das Dorf stehen musste, flackerten tapfer kleine, orangene Lichter in die Nacht hinaus.
Ich schloss die Augen und atmete einmal tief ein und wieder aus, spürte die eisige Luft in meiner Lunge, die meine Nerven beruhigte und einen angenehm kühlen Frieden über mein aufgebrachtes Herz brachte.
Als ich meine Augen wieder öffnete, glitt mein Blick unwillkürlich hinauf in den Himmel. Bauschige Wolken zogen vor einem sonst sternklaren Himmel hinweg und mir fiel auf, dass die Sterne hier so viel heller und strahlender leuchteten als draußen in der Stadt.
Winzig kleine Schneeflocken tanzten durch die Luft und landeten auf meiner Haut, um dort zu kleinen Wasserpünktchen zu zergehen und Traurigkeit legte sich über mein Herz. Flackernd schloss ich meine Lider und reckte mein Gesicht gen Himmel, um zu versuchen, die winzigen Flocken auf meiner Haut zu spüren. Sie waren kaum wahrnehmbar. Und doch waren sie da.
"Wie geht es dir da oben?", flüsterte ich einer weißen Wolke am Himmel zu, "Hast du ein schönes Zuhause bei den Schneeflocken gefunden?"
Hinter mir klackte die Balkontür und ich drehte mich um und entdeckte Jascha, der im Begriff war, hinaus zu kommen.
"Brauchst du einen Moment für dich?", fragte er, "Oder darf ich mich zu dir gesellen?"
Ich lächelte schwach, bevor ich ihn mit einer Kopfbewegung zu mir einlud. Jascha trat neben mich ans Geländer und ließ seinen Blick über den nächtlichen Horizont schweifen, während auch er einen tiefen Atemzug nahm. Eine Weile lang standen wir einfach nur dort und ließen die Stille auf uns wirken, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
"Ich habe angefangen, Schneeflocken zu hassen", ergriff ich irgendwann das Wort, "Es fühlt sich einfach so unfassbar falsch an, dass wir hier stehen und dem Schnee zusehen dürfen und er nicht. Ich will nicht, dass der Winter mich andauernd daran erinnert, dass ich nicht mehr komplett bin."
Jascha löste seinen Blick von den funkelnden Lichtern des Dorfes und schaute nachdenklich zu mir hinüber.
"Es fühlt sich falsch an, weil es falsch ist", antwortete er mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er zögerte kurz, dann fuhr er fort: "Aber irgendwie habe ich auch angefangen, den Schnee als Vorbild zu sehen. Er kommt und fällt und er begräbt alles unter sich, ob es uns gefällt oder nicht." Er fuhr mit der Hand über das Holz des Geländers, auf das sich eine zarte Schneeschicht gelegt hatte. "Aber wenn dann die Sonne hervorkommt und beginnt, die Welt wieder aufzuwärmen, weiß der Schnee auch, dass er wieder gehen muss. Denn Winter ist auch nur eine Saison."
"Hm", machte ich nachdenklich, während Jascha wieder hinauf in den Himmel blickte. Mir fiel auf, wie viele Falten sein Gesicht zeichneten, die vor einem Jahr noch nicht da gewesen waren. Da war eine neue Ernsthaftigkeit, die sich über sein Antlitz gelegt hatte. Und doch kam ich nicht umhin, auch den Ausdruck des Friedens zu erkennen, der auf seinen Zügen lag, als er seinen Blick hinauf zu den Sternen richtete.
"Wie hast du es geschafft, Jascha?", fragte ich und meine Stimme zitterte ein wenig.
Jascha blickte mich an. "Was?"
"Nicht zu zerbrechen."
Jaschas Ausdruck wurde traurig. "Oh, ich bin zerbrochen", antwortete er leise, "Ich habe mir erlaubt, zu zerbrechen und dann habe ich mir erlaubt, wieder zu heilen. Stück für Stück. Es ist noch lange nicht alles gut, aber... Ich glaube, ich bin auf dem richtigen Weg."
Meine Lippen zitterten leicht, doch ich antwortete nicht mehr, sondern wandte meinen Blick wieder in die Ferne. Zarte Schneeflocken umtanzten uns und mischten sich mit den weißen Wolken unseres Atems. Irgendwann ließ ich meinen Kopf auf Jaschas Schultern sinken. Jascha legte erst einen Arm um meine Seite, dann zog er mich sanft an sich, umklammerte mich mit seinen Armen und hielt mich fest. Wie ein Ertrinkender auf See oder der Anker, der verhindern will, dass ich in den Fluten verloren gehe. Ich atmete zitternd ein, dann erwiderte ich seine Umarmung und schlang meine Arme um ihn.
Und so standen wir dort.
Arm in Arm. Innig verschlungen.
Wir hielten einander fest und schauten in den Dezemberhimmel, so als könnten wir dort etwas Wertvolles wiederfinden, das wir einst verloren hatten.
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