2 - Ein klassisches, russisches Problem
2 - Ein klassisches, russisches Problem
Hope beugte sich über das Wörterbuch, das vor ihr lag, dann zu dem ebenso wenig hilfreichen Online-Übersetzer auf ihrem Handy und dann wieder zurück zu ihrer zerfledderten und über und über mit Bleistiftnotizen bekritzelten Ausgabe der Brüder Karamasow. Sie verstand diesen Satz einfach nicht, die Wörter waren unzusammenhängend und ergaben keinen Sinn. Seufzend lehnte sie sich zurück.
Es war Freitag. Sie hatte die erste Schulwoche erfolgreich gemeistert, die wie erwartet recht ereignislos verlaufen war. Aktuell saß sie im Gemeinschaftsraum von Haus 4 und war frustriert.
„Wieder stecken geblieben?" Amélie sah von ihrem eigenen Buch auf und ihre Freundin mitfühlend an. Hope nickte und fuhr mit der linken Hand gedankenverloren ihren langen, hellblonden Zopf nach unten.
„Vielleicht sollte ich mir einfach mal ein umfangreicheres Wörterbuch zulegen.", meinte sie genervt. „Ehrlich, die Hälfte der Worte stehen hier nicht einmal drin und jetzt habe ich eins, das kennt nicht mal Google. Es sei denn, es bedeutet Getreide, aber das kann ich mir in dem Zusammenhang nicht wirklich vorstellen. Es ist einfach extrem anstrengend, ein Buch so zu lesen."
„Vielleicht hast du den Zusammenhang falsch verstanden?", fragte Sophia vorsichtig, die an einem Tisch am Fenster saß, wofür sie sich von Hope einen verzweifelten Blick einhandelte.
„Niemand zwingt dich, ein Buch auf Russisch zu lesen.", wandte Amélie ein. Hope lehnte sich in ihrem Sessel zurück.
„Aber es ist ein großartiges Buch und wert, es im Original zu lesen.", jammerte sie. „Außerdem sprechen meine Eltern beide russisch, obwohl keiner von ihnen Russe ist und sie einfach beide in ihrer Schulzeit viel zu große Streber waren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie nervig es ist, dass sie sich unterhalten können,ohne dass ich weiß, worum es geht. Ich meine, sie sind ja nicht mal Muttersprachler! Sie machen das einfach, weil sie es können und weil es mich nervt." Hope starrte ihren Roman und das schon arg mitgenommene Wörterbuch böse an, als ob sie beide schuld an ihrer miserablen Lage wären.
„Ich kann es mir vorstellen." Sophia sah jetzt von ihrem Geschichtsaufsatz auf, an dem sie seit einer Viertelstunde herumbastelte. „Meine Eltern sprechen auch beide arabisch, aber ich habe es nie gelernt. Wäre ich ein bisschen motivierter, diese komischen Buchstaben zu lernen, würde ich deinem Beispiel folgen."Sie drehte sich zu Amélie und Hope in der Sitzecke um.
„Hä, aber du hast doch zwei Sprach-Leistungskurse gewählt, sollte es nicht in deiner Natur liegen, das lernen zu wollen?", fragte Pauline, die mit ihnen zusammen Politik hatte und ebenfalls hier imGemeinschaftsraum saß, um sich mit Alina Klatschmagazine anzuschauen und über Mitschüler zu lästern (oder zumindest war das vermutlichder Plan, Alina selbst war nämlich noch nicht aufgetaucht). Sophia seufzte.
„Schon, aber hast du dir mal das arabische Alphabet angeschaut?" Sie legte ihren Kuli zur Seite. „Da gibt es fünf unterschiedliche Zeichen, die alle wie das englische „th" ausgesprochen werden, aber eben doch irgendwie unterschiedlich. Es ist ein Ding der Unmöglichkeit, da durch zusehen!"
Pauline zuckte mit den Schultern und wandte sich wieder Hope zu.
„Also, wenn du Probleme mit Russisch hast, frag doch mal Jela.", schlug sie vor. Hope runzelte die Stirn. Sie konnte sich nicht daran erinnern, eine Jela zu kennen.
„Wen?", stellte jetzt Amélie die Frage, die Hope hatte vermeiden wollen. Sie war zwar mit recht vielen Leuten aus ihrem Jahrgang bekannt, hielt sich jedoch meist an die Mädels aus ihrem Zimmer. Trotzdem wäre es ihr äußerst peinlich, wenn sich herausstellen würde, dass diese Jela doch bei ihnen im Jahrgang wäre und Hope es tatsächlich geschafft hätte, sie vier Jahre lang zu ignorieren.
„Jela.", wiederholte Pauline. „Jelena Kudawzewa. Oder so. Keine Garantie für den Nachnamen. Sie ist im Jahrgang unter uns, wohnt im Haus 9. Sie ist Russin, deshalb habe ich auch keine Ahnung, wie man ihren Namen ausspricht."
„Ich wusste gar nicht, dass wir ausländische Schüler an der Schule haben.", wunderte sich Amélie, die jetzt doch ihr Buch weggelegt hatte, um an der Konversation richtig teilzunehmen.
„Hallo-ho?" Sophia wedelte mit der Hand und deutete an sich herunter. Amélie verdrehte die Augen.
„Du zählst nicht. Du warst nie in Tunesien.", meinte sie.
„Libyen.", korrigierte Sophia.
„Afrika.", fasste Amélie es zusammen. „Wie auch immer."
„Leute, könnten wir bitte auf Jela zurückkommen?", rief Hope die anderen Mädels zur Ordnung.
„Ja, also...", druckste Pauline herum. „Jela. Sie ist seltsam. Hängt viel alleine rum."
„Ist sie so schüchtern oder was?", fragte Sophia und klickte mit ihrem Stift herum.
„Nein, im Gegenteil. Sie ist extrem selbstbewusst. Sie redet nicht viel, aber wenn, dann in einem gigantischen Tempo und mit diesem komischen Akzent, und sie macht sich ständig irgendwelche Notizen, dauernd, überall hin und immer in russischen Buchstaben. Sie ist einfach...anders und deshalb traut sich irgendwie keiner so recht an sie ran.", erzählte Pauline. In diesem Moment tauchte Alina schlitternd in der Tür zum Flur auf, schmiss ihre Tasche auf einen freien Stuhl und ließ sich alles andere als elegant neben Pauline nieder.
„Angst machen? Um wen geht's?", fragte sie, leicht außer Atem.
„Jela, kennst du wahrscheinlich nicht.", erklärte Pauline und zog ein paar Zeitschriften unter Alina hervor, auf die diese sich gesetzt hatte.
„Aber hallo, du sprichst doch nicht etwa von Jelena, der Unausprechlichen?" Alina grinste. „Sie hat einen Namen für ihr Ohr und wie man sagt auch für andere Körperteile..." Ihre Augenbrauen wackelten anzüglich. „Und sie schaut dir immer direkt in die Augen, ohne zu Blinzeln!"
„Ganz genau." Pauline zeigte mit dem Finger auf Alina. „Das ist so gruselig. Außerdem hat sie ihre Lehrbücher bemalt!"
Amélie prustete los.
„Ihre Lehrbücher?", kicherte sie. Hope runzelte die Stirn. Dann stand sie ruckartig auf. Alina und Pauline verstummten in ihren haarsträubenden Geschichten über das Mädchen.
„Ich frag sie einfach.", erklärte sie. „Und mache mir selbst ein Bild, wie gruselig sie ist."
Sophia nickte zufrieden mit dem Kopf und schob eine Nadel zurück, die aus ihrem Hijab gerutscht war. So wie Hope sie kannte, war sie vermutlich erleichtert, dass es wenigstens ein Mädchen in ihrem Freundeskreis gab, welche nicht auf ungefilterten Klatsch hörte.
„Irgendwelche Ideen, wo ich sie finden könnte?", fragte Hope in die Runde.
„Der Schulkeller.", schlug Alina vor.
„Oder sie baut sich gerade ein Baumhaus im Wald.", ergänzte Pauline und die beiden brachen wieder in Gelächter aus.
„Dann also nicht.", meinte Hope leise zu sich selbst. Sie mochte Alina wirklich gern, aber ihr Mangel an Ernsthaftigkeit raubte ihr oft einfach den letzten Nerv. Seufzend griff sie nach ihrem Roman, ihrem Wörterbuch, ihrem Handy und ihrem Bleistift, bevor sie die arme Sophia bei den kichernden Mädchen zurückließ.
Etwas ratlos streifte Hope über das Schulgelände. Ihre erste Idee war gewesen, in Haus 9 nach Jela zu fragen, aber dort hatte ihr die Betreuerin keine Antwort geben können. Also versuchte Hope ihr Glück jetzt in der doch recht großen Schulbibliothek, die viele Schüler für ihre Hausaufgaben nutzten.
Möglichst systematisch streifte sie durch die Regalreihen und fragte hier und da jemanden, der so aussah, als könnte er zehnte Klasse sein, ob er diese Jela gesehen hatte. In den einzelnen Jahrgängen kannte man sich und da es fünf Wohnhäuser für Mädchen gab, hatte sie immer noch eine 20%ige Chance, wenn sie ein Mädchen fragte, dass sie zufällig im selben Haus wohnte, wie diese Jela. Demnach ging sie davon aus, dass zumindest ein paar Leute wissen würden, von wem sie sprach – sie hatte recht. Allerdings waren die Antworten enttäuschend. Anscheinend hatten Pauline und Alina recht gehabt –Jela war ein Einzelgänger, und niemand scherte sich darum, wo solche Leute sich gerade befanden.
Schließlich, als sie die Suche beinahe aufgegeben hatte, deutete ein Neunt- oder Zehntklässler in Richtung eines etwas abseits stehenden Tisches, an dem ein Mädchen saß.
Hope runzelte die Stirn und ging ein paar Schritte näher, um das so heiß betuschelte Mädchen zu betrachten, dass sich jetzt von ihrem Platz erhob, ein Buch aus dem Regal nahm und dann mit dem Blick einmal durch den Raum huschte, kurz an Hope hängen blieb, bevor sie sich wieder setzte.
In diesem Moment fragte Hope sich, wie sie ihr vorher nicht hatte auffallen können. Das Bemerkenswerteste an ihr waren wohl ihre Haare: Sie trug dunkelbraune Cornrows...oder zumindest glaubte Hope, dass man die so nannte. Es waren viele schmale, geflochtene Zöpfe, die sich im Gesamtbild zu einer gigantischen Frisur zusammenschlossen. Seit solche Frisuren, ähnlich wie Dreadlocks, seit einigen Jahren im Trend waren, waren sie auch im Internat keine Seltenheit mehr, aber auffallend waren sie trotzdem. Einige, fünf oder sechs, waren jedoch gefärbt. Nicht pink oder grün, wie es viele Jugendliche aus Rebellion taten (zumindest hoffte Hope, dass sie es aus Rebellion taten, sie konnte sich nämlich nicht wirklich vorstellen, dass jemand sich die Haare grün färben würde, weil er es tatsächlich schön fand), nein, Jelas Zöpfchen waren weiß, blütenweiß, so weiß, dass Hope sich unwillkürlich fragte, wie Jela das hinbekommen hatte. Sie wandte sich ihr wieder zu.
Denn viel interessanter noch als ihre unglaubliche Frisur war ihr Verhalten. Sie saß mittlerweile wieder nach vorn gebeugt am Tisch und schrieb. Mit der rechten Hand hielt sie ihren Kugelschreiber und arbeitete scheinbar an einem Aufsatz, mit der linken führte sie einen Bleistift über ein Notizbuch und füllte die kleinen Seiten in einer rasenden Geschwindigkeit. Einen kurzen Moment noch zögerte Hope, dann schloss sie ihre Finger fest um den weichen Leineneinband ihres Romans und schob den Bleistift hinter ihr Ohr, bevor sie einen Schritt machte, und noch einen und noch einen, bis sie direkt vor Jelas Tisch stand. Die sah auf.
„Hi." Hope schluckte. „Du bist Jela, oder?"
„Jap." Jela zog erwartungsvoll die Stirn kraus. „Und du?"
„Ähm...Hope." Hope räusperte sich und zupfte an ihrem Zopf herum. Aus einem Impulsheraus streckte sie Jela die Hand entgegen. „Privjet." Sie verzog ihre Lippen zu einem etwas schiefen und sehr peinlichen Grinsen. Jela stand auf und nahm die Hand. Ihr Gesicht sah jedoch nachdenklich aus. „Ist irgendwas?"
„Ich überlege noch, ob du dich über mich lustig machst oder höflich sein willst.", erklärte das andere Mädchen mit einem leichten osteuropäischen Akzent. Er war da, aber nur kaum hörbar, was Hope ein bisschen überraschte. Aus den Erzählungen von Alina und Pauline hatte sie angenommen, dass Jela kaum zu verstehen sein würde.
„Höflich.", erklärte Hope rasch. „Ich wollte dich auf keinen Fall irgendwie..." Sie runzelte die Stirn, weil ihr kein passendes Worteinfiel. „Ich wollte freundlich sein.", meinte sie schließlich.
„Na gut."
Die beiden Mädchen standen sich gegenüber und musterten einander. Hope wusste nicht genau, was Jela an ihr so lange ansah, denn sie konnte sich nicht vorstellen, was an ihr groß Aufmerksamkeit erregen könnte. Aber es war ihr ganz recht, denn jetzt konnte sie Jela noch einmal genauer betrachten.
Ihre Haut war verhältnismäßig dunkel und ließ vermuten, dass zumindest einer ihrer Großeltern Schwarz war. Ihre Augen jedoch hatten einen Bernsteinton, der Hope faszinierte, ohne dass sie wusste, warum.
Als Hope jedoch ein zweites Mal hinsah und Jela als gesamte Person betrachtete, bemerkte sie etwas, was ihr bisher nicht aufgefallen war: Jela war nicht hübsch. Nicht im konventionellen Sinne. Sie hatte Segelohren und ihre Nase war zu groß. Ihr Körper war gedrungen und wirkte wie eine groteske Mischung aus breiten, männlichen Schultern und einer fülligen, kurvigen, weiblichen Taille.
„Willst du was Bestimmtes?", fragte Jela nach einigen Augenblicken des gegenseitigen Anstarrens und durch ihren Akzent klang es unfreundlicher als es vermutlich gemeint war.
„Ähm, ja." Eilig hielt Hope ihr Buch nach vorn. „Ich wollte dich um Hilfe bitten."
Neugierig sah Jela zu, wie Hope durch den Roman blätterte und beugte sich ein wenig in ihre Richtung, um amüsiert die ein oder andere Bleistiftnotiz zu erkennen. Schließlich hatte Hope die richtige Seite gefunden und drehte das Buch, sodass Jela lesen konnte, was sie mit ihrem Finger markierte.
„Ich verstehe diesen Satz nicht. Kannst du mir erklären, worum es geht? Wie ich es drehe und wende, die Wörter passen einfach nicht zusammen." Hope ließ sich auf einen Stuhl sinken und sah Jela an, die sich den Absatz durchlas und dann ebenfalls wieder Platz nahm.
„Das ist eine Metapher.", erklärte sie. „Oder nein, eher eine Anspielung. Es geht um die Politik, man versteht es nicht, wenn man keine Ahnung von der damaligen russischen Gesellschaft hat."
Sie begann, zu erklären, was mit dem Satz gemeint war und nach und nach erschloss sich Hope nicht nur dieser eine Abschnitt, sondern auch viele weitere vorherige Dinge, deren Sinn ihr nicht recht hatte einleuchten wollen. Gespannt folgte sie den Ausführungen von gleichermaßen Jelas rauchiger Stimme und einer immer größer werdenden Sammlung eilig gekritzelter kyrillischer Buchstaben auf einem Stück Papier.
Irgendwann begann Hope, Fragen zu stellen und trat damit eine angeregte Diskussion los, die später zu anderen Themen abschweifte, bis die beiden Mädchen sich gegenübersaßen und über Gott und die Welt redeten, vergessend, dass sie noch Hausaufgaben zu machen hatten, bis die Bibliothekarin begann, die Lichter der Bibliothek zu löschen.
Ja, ich weiß, die Kapitel sind noch ziemlich ähnlich den ersten von Rain - aber das wird nicht lange so bleiben, glaubt mir! Nächsten Dienstag geht es weiter und spätestens am Donnerstag bekommt ihr was zu lesen, was ihr noch nicht kennt, versprochen!
Es tut mir übrigens Leid, Wattpad hat random ein Drittel meiner Leerzeichen gelöscht, also wenn irgendwo Worte aneinanderkleben, dann hab ich die eben übersehen (ich mache das hier aber auch gerade parallel zu einer Statik-Vorlesung, also habt ein bisschen Nachsicht!
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