18 - Keine falschen Hoffnungen
18 - Keine falschen Hoffnungen
Hope knetete ihren Handballen mit ihren Fingernägeln, sodass sich dort kleine mondsichelartige Abdrücke bildeten. Sie stand vor der Haustür von Haus 9, wo Jela wohnte.
Es war Donnerstag, heute war der erste Schultag im neuen Jahr gewesen. Gestern waren sie zurück ins Internat gefahren, vor über einer Woche hatte sie das Gespräch mit ihrer Großmutter geführt. Und heute, jetzt, würde sie mit Jela sprechen. Sie trat entschlossen einen Schritt auf die Tür zu und drückte die Klingel.
Die Betreuerin von Haus 9 öffnete und sah sie misstrauisch an.
„Ja, bitte?", fragte sie.
„Ähm, hallo. Ich wollte zu Jela.", meinte Hope unsicher. Die Betreuerin öffnete die Tür ein wenig, um Hope hineinzulassen. Die betrat den Flur. Es sah genauso aus, wie in ihrem Haus, geradezu war ein Korridor, von dem aus die Küche, der Gemeinschaftsraum und der Betreuerraum, sowie einige Zimmer abgingen. Rechts und links führten Treppen nach oben zu weiteren Räumen.
„Weiß sie, dass du kommst?", fragte die Betreuerin, als Hope bewegungslos im Gang stand, statt sich auf eines der Zimmer zuzubewegen. Hope nickte. Sie hatte ihr Glück kaum fassen können, als sie am Neujahrstag festgestellt hatte, dass ihre Geburtstagsglückwünsche und Neujahrsgrüße tatsächlich gelesen worden waren. Und umso größer war ihre Freude gewesen, als Jela letztere sogar zurückgegeben hatte.
„Ähm...ja, aber sie wollte runterkommen.", murmelte Hope in Richtung der Betreuerin. „Darf ich einfach hier warten?"
Die Betreuerin nickte und deutete in Richtung des leeren Gemeinschaftsraumes. Hope betrat den Raum. Wohnten Louise und ihre beste Freundin Clara nicht auch in Haus 9? Hatten sie mal etwas in die Richtung erwähnt? Hope schüttelte den Kopf, um ihre wirren Gedanken zu vertreiben und ließ sich auf einem der Sessel nieder. Sie fühlte sich wie ein Eindringling, was natürlich albern war. Nervös fummelte sie an ihrem Handy herum und entschloss sich dann, Jela eine Nachricht zu schreiben, dass sie hier war.
Als Jela endlich wieder mit ihr geschrieben hatte, hatte Hope sofort begonnen, eine ewig lange Nachricht an sie zu tippen, in der sie die ganze Situation aufrollte. Nach geschlagenen fünf Minuten schreiben hatte sie festgestellt, dass es vielleicht geschickter war, das persönlich zu klären. Also hatte sie alles wieder gelöscht und um ein Treffen gebeten. Jela hatte Donnerstag, 16:00 Uhr vorgeschlagen. Das war in fünf Minuten, denn Hope war nervös und dementsprechend zu früh.
Jetzt musste sie nur hoffen, dass Jela es sich nicht anders überlegt hatte.
Hope stand auf, lief nervös auf und ab und begann, sich unterschiedliche Anfänge zurechtzulegen, um das Gespräch zu beginnen. Immer wieder schaute sie auf ihr Handy, ob Jela etwas geschrieben hatte, aber es kam nichts.
Irgendwann entsperrte sie ihr Telefon, um nachzuschauen, ob die Nachricht überhaupt angekommen war. Sie war und Jela hatte sie sogar schon gelesen.
Hope setzte sich wieder und kaute auf ihrer Lippe herum. Ihre Hände waren schwitzig. Sie spielte wieder am Handy herum.
Nach schier endloser Zeit hörte sie Schritte auf der Treppe. Hope sprang auf und trat auf den Flur, gerade, als Jela das untere Ende der Treppe erreichte.
Sie sah...anders aus als vor den Ferien. Gesünder, frischer. Hatte sie ihre Braids neu gemacht? Iljitsch lugte fröhlich zwischen ihnen hervor. Aber Hope konnte auch sehen, dass Jela nervös war. Vielleicht noch nervöser als sie selbst.
„Hi.", meinte Hope heiser, räusperte sich und sagte gleich noch einmal. „Hi."
Jela lächelte unsicher.
„Hey...", meinte sie.
Hopes Augen huschten zur offenen Tür des Betreuerraumes, in dem die Betreuerin am Schreibtisch saß und etwas arbeitete und sie schlug vor:
„Wollen wir vielleicht...eine Runde gehen?"
Jela nickte sofort und sie verließen das Haus und gingen wahllos in eine Richtung los. Da es nicht besonders gutes Wetter war, war das Gelände wie ausgestorben. Nur hin und wieder begegneten sie jemandem, aber die meisten Schüler waren vermutlich entweder in ihren Häusern oder in der Bibliothek. Einige Minuten lang sagte keine von ihnen etwas.
„Es tut mir leid.", brach Jela dann das Schweigen. „Grischa hat mir gesagt, dass er es dir erzählt hat. Ich weiß ehrlich nicht, was du jetzt über mich denkst und ich wollte mich entschuldigen, wenn ich dir deine Feiertage vermiest habe."
„Du musst dich nicht entschuldigen.", meinte Hope sofort. „Ich...ich hoffe, es geht dir besser."
Jela nickte.
„Mir geht es besser. Ich habe die Therapie abgebrochen. Meine Schwester hat mich überzeugt, dass es vielleicht nicht so schlimm ist...so zu sein."
„Das ist es ganz sicher nicht.", stellte Hope gleich klar. Sie wollte, dass Jela wusste, wie sie zu dem Thema stand, hatte es sich doch bei ihrer Großmutter so gut angefühlt, zu wissen, wie der andere dachte. „Also bist du noch...?", ergänzte sie unsicher.
Jela nickte.
„Ich werde mich wohl daran gewöhnen müssen, dass ich das nicht loswerde.", meinte sie, klang aber noch nicht ganz überzeugt.
„Vielleicht ist es ja nichts, was man loswerden muss?", versuchte Hope sie aufzumuntern. Jela sah sie einen Moment lang an.
„Das sagen so viele. Meine Geschwister, ein paar meiner Freunde zuhause. Dass es nicht schlimm ist. Aber ich hatte einfach mein Leben lang diese Vorstellung, dass es falsch ist, dass man sich das aussuchen kann und...und dass man dafür in die Hölle kommt.", sagte sie und wurde dabei immer leiser. „Und weißt du, ich will wirklich nicht in die Hölle kommen."
Hope ging auf einmal auf, warum Jela ein so viel größeres Problem mit dem Thema hatte als ihr Bruder und ihre Familie allgemein. Sie hatten schon mehrfach darüber geredet, dass der Glaube für Jela eine große Rolle in ihrem Leben spielte und dass sie im Gegensatz zu ihren Familienmitgliedern auch regelmäßig Gottesdienste und kirchliche Veranstaltungen besuchte.
Hope selbst hatte von Hause aus recht wenig mit dem Thema Kirche zu tun, da ihre Mutter eine Kirche noch nie betreten hatte und ihr Vater sich schon als Jugendlicher vom Glauben seiner Eltern distanziert hatte. Aber Hope hatte es wahnsinnig spannend gefunden, sich mit Jela darüber zu unterhalten. Jetzt jedoch erschien ihr dieser Glaube, den Jela als so wichtig empfand, mehr und mehr als etwas Negatives.
„Aber die Leute mit denen ich im letzten Monat geredet habe, die haben mir gesagt, dass ich mich verändern muss und dass ich mich mit Jungen beschäftigen muss.", redete Jela weiter, ihre Stimme wurde wieder kräftiger. „Und sie haben gesagt, dass ich den Kontakt zu...bestimmten Leuten abbrechen soll."
Hope blieb stehen, nicht wirklich überrascht, aber doch schockiert.
„Zu mir?", fragte sie dann und versuchte, die Verletztheit in ihrer Stimme zu verstecken. Vermutlich nahm Jela sie dennoch wahr, denn sie sagte sofort:
„Ich will das nicht. Das war der Punkt, wo ich begonnen habe, zu zweifeln. Ich will dich nicht verlieren, ich verbringe wahnsinnig gerne Zeit mit dir. Ich mag es, was wir haben." Sie senkte den Blick. „Und es tut mir leid, das kaputt gemacht zu haben."
„Hey...", meinte Hope jetzt, ein bisschen überfordert und trat näher an Jela heran. „Alles wird gut, ok? Du hast nichts kaputt gemacht." Sie schloss ihre Arme um ihre Freundin. „Du hast es vielleicht ein bisschen durcheinander gewürfelt, aber wir kriegen das wieder hin, in Ordnung?"
Jela bewegte sich einen Moment lang nicht, dann löste sie sich aus der Umarmung, ein erleichtertes Lächeln auf dem Gesicht.
„In Ordnung."
Hope zögerte noch kurz und dachte an das Gespräch mit ihrer Großmutter.
„Jela, ich möchte noch eine Sache sagen.", sagte sie dann. „Ich mag dich, ich mag dich wirklich, wirklich gerne." Sie biss sich unsicher auf die Unterlippe. „Aber ich bin nicht wie du. Ich bin mit Grischa zusammen und habe eigentlich auch nicht vor, daran etwas zu ändern. Ich...ich möchte einfach nicht, dass du dir falsche Hoffnungen machst."
Sie sah Jela in die Augen und konnte die Enttäuschung förmlich spüren. Trotzdem nickte ihre Freundin.
„Ich verstehe das.", sagte sie. „Danke, dass du mir das so klar gesagt hast."
Hope fiel ein Stein vom Herzen. Sie lächelte ein bisschen.
„Es tut mir wirklich leid.", ergänzte sie. „Vielleicht, in einem anderen Universum, während wir ein wunderbares Paar gewesen. Aber ich mochte wirklich, was wir hatten." Sie sah Jela an. „Können wir wieder dahin zurückkommen?"
Das darauffolgende Nicken kostete Jela sichtlich Überwindung. Aber sie brachte ein Lächeln zustande. Einige Augenblicke sahen sich die beiden Mädchen an, ein bisschen unsicher, wie es jetzt weitergehen sollte. Dann sagte Hope:
„Ich habe ein paar Brettspiele mitgebracht, von zuhause. Wenn du willst, können wir was spielen."
Jela rang einen Moment lang sichtlich mit sich, dann nickte sie.
Gemeinsam verschwanden die beiden in Richtung der Bibliothek.
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