
14 - Alles eine Frage der Perspektive
14 - Alles eine Frage der Perspektive
Alla meldete sich nicht. Oder, wenn sie es tat, dann sagte Grischa Hope nichts davon. Auf jeden Fall verging der Samstag und dann der Sonntag und die darauffolgende Woche und sie saß auf glühenden Kohlen, endlich mehr zu erfahren. Aber es passierte nichts. Zum Glück – Hope hätte nie gedacht, dass sie diesen Satz einmal formulieren würde – war die letzte Woche vor den Weihnachtsferien so vollgepackt mit Arbeiten, Tests und Klausuren, dass sie wirklich wenig Zeit hatte, weiter über Jela nachzudenken. Was ja nicht hieß, dass nicht jedes Mal, wenn sie Grischa begegnete, ihr Herz schneller klopfte bei dem Gedanken, endlich herauszufinden, was los war.
Der Schulstress hatte den weiteren Vorteil, dass ihre Freundinnen ebenfalls keine Zeit hatten, sich darüber Gedanken zu machen, wo Hope mit ihren Gedanken war und keine Gelegenheit, sie darüber auszuquetschen.
Jedes Mal, wenn Hope Grischa sah, fragte sie ihn, ob er etwas Neues wusste. Jedes Mal war seine Antwort ein entschuldigendes Nein. Und bis Mittwoch war das auch wirklich glaubhaft. Die Sache mit Grischa war nur die: Er war ein absolut miserabler Lügner. Hope hatte das fast erwartet, es passte einfach in ihr Gesamtbild von ihm. Aber sie hatte es nie zuvor am eigenen Leib erlebt. Trotzdem war sie sich ziemlich sicher, dass er ab Mittwoch nicht mehr die Wahrheit sagte, als er behauptete, nicht mehr zu wissen als am Samstag. Sie konnte es nicht genau an etwas festmachen, es war eher eine Art Bauchgefühl. Ein nervöses Herumspielen mit der Hand an seinem Rucksack, als sie sich auf dem Gang begegneten, der schnelle Themenwechsel danach beim Mittagessen am Donnerstag, die vielen ähms und öhms, die sonst so überhaupt nicht zu Grischas Sprachbild gehörten – wenn er nicht wusste, was er sagen wollte, dann sagte er einfach etwas anderes; inne zu halten, war für ihn normalerweise keine Option.
Kurzum: Hope war sich spätestens am Freitag relativ sicher, belogen zu werden. Das versetzte ihr einen ziemlichen Stich, denn es bedeutete, dass Grischa sehr wohl wusste, was mit seiner Schwester war, und aber offenbar entweder er oder Alla oder sogar Jela selbst sich entschieden hatten, Hope im Dunklen zu lassen. Aber auf der anderen Seite ging es sie ja im Grunde auch nichts an, sie kannte Jela und Grischa erst seit ein paar Monaten. Und nur weil sie befreundet waren und Hope mit Grischa zusammen war, hieß das ja nicht, dass Hope jetzt ein Recht darauf hatte, alles über sie zu wissen.
Mit diesem Gedanken im Hinterkopf beschloss sie am Freitagabend, das Thema sein zu lassen. Jela war krank, aber es war nicht lebensbedrohlich. Sie wollte nicht, dass Hope wusste, was sie hatte und das war ok, es war ja auch privat. Sie würde nach Weihnachten wiederkommen und vielleicht würde alles wieder wie vorher werden. Ja, das war ein guter Plan.
Als Hope also am Samstagmorgen zum Haus 5 hinüberging, wo Grischa wohnte und wo sie ihn abholen wollte, um dann gemeinsam zum Frühstück zu gehen, war sie fest entschlossen, ihn nicht nach Jela zu fragen.
Sie musste nicht lange warten, bis Grischa die Treppe hinunterkam. Er sah wie gewöhnlich äußerst attraktiv aus, zumindest bis er sich in seinen offenen Schnürsenkeln verhakten, stolperte und die letzten drei Stufen hinunterfiel. Leicht grinsend reichte Hope ihm eine Hand, sodass er sich aus seiner misslichen Lage befreien konnte, wobei er ihr zweimal seinen Ellbogen in die Seite stieß und ihr einmal auf jeden Fuß trat. Hope wunderte sich immer wieder, wie ungeschickt ein Mensch sein konnte und drückte ihm einen schnellen Begrüßungskuss auf die Lippen.
Sie machten sich auf den Weg hinüber ins Hauptgebäude, sprachen über Weihnachten und den Winter und Grischa ließ sich von Hope sogar über verschiedene Griffe auf der Gitarre belehren, die Hope gerade lernte, auch wenn sie bezweifelte, dass er wirklich viel von den Informationen dauerhaft abgespeichert hatte.
Im Speisesaal angekommen bedienten sie sich am doch schon ziemlich abgegrasten Frühstücksbuffet. Mit zwei Brötchen und Unmengen Belag in Grischas Fall sowie einer großen Schale Müsli und einer Auswahl an Obst in Hopes, besetzten sie einen der zahlreichen freien Tische.
Früher waren Hopes Optionen für ein Samstagsfrühstück immer entweder allein oder mit Sophia gegen acht Uhr gewesen, da Amélie am Wochenende eine Mahlzeit vor zwölf Uhr mittags verweigerte und Alina in der Regel nach Hause fuhr (und wenn sie da war, dann war sie eine zweite Amélie). Keine dieser beiden Optionen hatte ihr wirklich gefallen. Grischa und Jela jedoch waren beide für eine Mahlzeit zwischen neun und elf zu haben, was Hopes Freude an Samstagen doch erheblich gesteigert hatte.
Also hatten sich die gemeinsamen Frühstücke als fester Bestandteil ihrer Beziehung mit Grischa etabliert. Wie jedes Mal saßen sie zusammen, aßen ihr Frühstück, kritisierten ihre gegenseitige Getränkewahl (Grischa war absoluter Teeliebhaber, während Hope klare Kaffeeverfechterin war) und diskutierten über alles Mögliche. Hope schalt Grischa, dass er seine Zwischenprüfungen nicht ernst genug nahm (womit sie recht hatte, was ja nicht hieß, dass er deshalb jetzt mehr lernen würde). Dann fiel ihm ein, dass er gestern Abend ein lustiges Video auf YouTube gesehen hatte, was er ihr unbedingt zeigen wollte. Wie sich herausstellte, war es eine Aufnahme von jemandem, der das Harry-Potter-Thema auf seiner Waschmaschine spielte. Es war...faszinierend.
„Oh – ich glaube, es wurde gerade der Käseteller aufgefüllt.", verkündete Grischa dann und reckte den Kopf, um besser sehen zu können, was an der Essensausgabe vor sich ging. Tatsächlich fuhrwerkte eine Küchenhilfe gerade an den Aufschnittplatten herum. „Hey, vielleicht gibt es jetzt wieder meinen Lieblingskäse!"
Grischa erhob sich.
„Was ist dein Lieblingskäse?", fragte Hope neugierig. Grischa zuckte mit den Schultern.
„Was weiß ich, wie der heißt.", meinte er grinsend. „Aber ich weiß, wie er aussieht und er ist lecker, also hole ich mir eine Scheibe." Er lief los in Richtung Ausgabe, wo sich schon eine kleine Schlange gebildet hatte.
„Bring mir noch eine Mandarine mit!", rief Hope ihm hinterher. Er antwortete nicht, aber sie wusste, dass er sie gehört hatte.
Hope wandte sich wieder ihrem Essen zu, schnitt ihren Apfel auf und scrollte durch einige Memes auf ihrem Handy.
Ein leises Quaken ließ sie hochfahren und sie verdrehte die Augen. An Grischas komischen Nachrichtenton („Es ist kein einfacher Nachrichtenton, Hope, es ist die Aufnahme eines Ochsenfroschs! Hör auf zu lachen, das ist cool, Hope!") konnte sie sich einfach nicht gewöhnen. Sie wusste nicht, wieso – sie hatte sich ja sogar mit Sophias Star-Trek-Pfeifenton angefreundet!
Ohne wirklich darüber nachzudenken, warf sie einen Blick auf Grischas Handy, was noch immer auf dem Tisch lag und auf dessen Sperrbildschirm soeben eine Nachricht aufgepoppt war. Die Nachricht war von Alla und sie war auf Deutsch, was der eine Punkt war, der Hopes Aufmerksamkeit darauf lenkte. Der zweite Punkt war ihr Name. Zusammen führten diese beiden Dinge dazu, dass sie etwas tat, was sie normalerweise nie getan hätte: Sie las die Nachricht.
Du musst Hope ja nicht sagen, dass Jela.., stand darin. Hope widerstand dem Drang, das Pop-up anzutippen, um die Nachricht ganz zu lesen. Das war nun wirklich zu viel.
Was sie jedoch tat, war Grischa auffordernd anzusehen, als er wiederkam, eine Mandarine vor ihr platzierte und sich fröhlich zwei Scheiben Käse auf sein Brötchen legte.
„Es tut mir leid.", sagte sie. „Du hast eine Nachricht von Alla bekommen und ich wollte nicht auf dein Handy schauen, aber ich habe es getan. Und ich möchte Antworten."
Grischa ließ sein Brötchen sinken, sein breites Grinsen wich einem überraschten Ausdruck. Er drückte den Home-Button, um die Nachricht ebenfalls zu lesen und machte dann ein leises „Oh."
Hope sah ihn immer noch erwartungsvoll an. Er schien zu überlegen, was er sagen sollte. Nach einigen Augenblicken erschien ein entschlossener Ausdruck auf seinem Gesicht.
„Ok, weißt du was?", sagte er. „Ich sage dir jetzt einfach die Wahrheit. Und ich hoffe, dass das nicht total nach hinten losgeht, also wenn doch, dann wäre es gut, wenn du es auf mich schiebst und im Hinterkopf behältst, dass Jela nicht wollte, dass du es weißt."
Hopes Entschlossenheit schwand zugunsten eines schlechten Gewissens. Konnte sie ihn wirklich zwingen, ihr die Wahrheit zu sagen, wenn Jela das gar nicht wollte?
„Warte, Grischa.", sagte sie also schweren Herzens. „Wenn Jela nicht will, dass ich es weiß, dann...sag es mir nicht. Ich frage nicht weiter nach, versprochen."
Sie nahm wieder ihren Apfel und ihr Messer zur Hand und begann, ihn zu schälen, auch wenn sie das nie tat, aber jetzt brauchte sie einfach etwas zu tun.
Grischa sah sie eine Weile an.
„Was ich wem erzähle, ist doch meine Sache, oder?", meinte er dann ruhig. Hope hielt in ihrem Tun inne und sah ihn verdutzt an. Damit hatte sie nicht gerechnet.
„Aber...", setzte sie zum Protest an. Grischa unterbrach sie:
„Ok, pass auf. Ich denke, du solltest wissen, was los ist. Alla findet das im Grunde auch. Jela sieht das anders, aber leider sieht Jela einige Dinge ein bisschen anders, als gut für sie wäre. Und deshalb werde ich jetzt nicht das machen, was sie will, sondern was Alla und ich denken, was sie wollen sollte.", erklärte er. Hope wurde immer verwirrter und legte vorsichtshalber das Messer zur Seite.
„Ich verstehe kein Wort von dem, was du gerade gesagt hast...", meinte sie und knibbelte an einem Viertel ihres geschälten Apfels herum.
„Oh, bin ich versehentlich zu Russisch gewechselt?", fragte Grischa erschrocken. „Das passiert manchmal, tut mir leid. Aber nein, ich bin mir sicher, ich habe deutsch geredet. Außerdem kannst du ja russisch, und..."
„Ich habe sprachlich schon verstanden, was du sagst, aber ich weiß immer noch nicht, was du mir damit mitteilen willst.", unterbrach Hope ihn. Er blinzelte. Dann nickte er.
„Ach so.", sagte er kleinlaut. Er sah sich um, aber der Speisesaal war recht leer, mal abgesehen von einer Handvoll besetzter Tische, von denen allerdings keiner in ihrer Nähe war.
„Jela ist nach Hause gefahren, um eine Therapie zu machen.", sagte er nach einer Weile leise. „Aber sie ist nicht krank. Zumindest nicht nach der klassischen Definition."
„Ich verstehe immer noch nicht.", antwortete Hope und kratzte die Apfelschalen auf ihrem Teller zusammen. „Warum macht sie eine Therapie, wenn sie nichts hat?"
„Sie denkt, es ist eine Krankheit. Ich denke das nicht, aber sie ist der festen Überzeugung, dass sie davon geheilt werden kann.", erzählte Grischa weiter. „Und leider gibt es auch Leute, die das behaupten."
Die Art wie er sie ansah, gab Hope das Gefühl, dass sie bereits wissen sollte, wovon er sprach. Aber sie hatte nach wie vor keine Ahnung. Das teilte sie ihm mit einem hilflosen Schulterzucken mit. Er senkte seine Stimme noch ein wenig:
„Hope, sie macht eine Konversionstherapie." Er sah auf seinen Teller hinunter, auf das unberührte Käsebrot.
Hope starrte ihn an. Sie kannte das Wort, sie hatte darüber gelesen. Aber nie hatte sie jemanden gekannt, der das für sinnvoll hielt. Zugegeben, sie kannte auch niemanden, der es möglicherweise brauchen könnte.
Sie kannte keine homosexuellen Menschen. Und erst recht keine, die es wirklich in Betracht ziehen würden, sich davon heilen zu lassen.
„Aber das ist doch...man kann doch nicht...es funktioniert doch gar...warum will sie...ist sie...warum jetzt?", stammelte sie. „Warum sie?"
Grischa lächelte schmal.
„Das ist halt so. Und ich denke, im Grunde weiß sie das auch. Aber sie...kann das nicht annehmen.", erzählte er traurig.
„Aber warum jetzt?", wiederholte Hope die Frage, die sie am allerwenigsten verstand.
„Weil jetzt etwas passiert ist, dem sie nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Oder jemand." Grischa sah Hope direkt in die Augen. Und Hope verstand.
„Hat sie...sich verliebt?", fragte sie erstaunt. Grischa nickte. Hope blinzelte. Das hatte sie gar nicht mitbekommen. Warum hatte sie das nicht mitbekommen? „Aber, in wen? Ich habe nie gemerkt, dass sie mit jemandem ernsthaft Kontakt hätte?"
Grischa sah sie ungläubig an.
„Ich meine, man kann sich auch aus der Ferne in jemanden verlieben. Hab ich gehört.", fuhr Hope fort. „Aber normalerweise verbringt man doch Zeit mit jemandem und unterhält sich und stellt dann irgendwann fest, dass man ihn mag. Oder sie."
Er musterte sie von oben bis unten und sah sie dann noch einmal intensiv an. Als würde er darauf warten, dass sie etwas Offensichtliches begriff.
„Aber mir fällt niemand ein, mit dem Jela auch nur annähernd so viel Zeit verbracht hätte wie mit..."
Und da fiel der Groschen. Hopes Augen weiteten sich erschrocken und ein leises Oh verließ ihre Lippen.
„...mir."
Sooo, jetzt ist es also raus...was sagt man dazu? Ein bisschen frischer Wind für die Hope/Jela-Verfechter unter euch...oder? Wer weiß.
Ironischerweise spielt das nächste Kapitel an Heilig Abend und es wäre natürlich cool gewesen, wenn ich das ausgerechnet heute hochgeladen hätte, aber naja, das ist jetzt eben so.
In jedem Fall wünsche ich allen, die es feiern, ein frohes Weihnachtsfest, allen anderen ein paar entspannte freie Tage und wir sehen uns dann nächste Woche!
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