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Schleierkraut im Regen

Prudence hob ihren Rock und eilte so schnell über den Flur, wie es für eine junge Dame gerade noch angebracht wäre, sollte sie erwischt werden. Wie ein gejagtes Reh sah sie sich immer wieder nach hinten um. Der Regen, der gegen die Fensterscheiben des Flures prasselte, klang wie Musik in ihren Ohren und er war greifbar nah, wenn sie nur das Glück haben sollte, nicht erwischt zu werden. Es hatte schon seit langer Zeit nicht mehr geregnet, vor allem für englische Verhältnisse, weshalb sich sogar die Gäste im Saal über ihn gefreut hatten. Aber Prudence freute sich nicht einfach nur über den Regen. Regen freute sie immer, egal wie häufig er vorkam, wie heftig er war, denn er bedeutete für sie Leben, die Erneuerung der Welt. In diesem Moment sehnte sich nach ihm. Wie ein Seufzer der Erleichterung drang die warme Abendluft zu ihr, als sie die Tür öffnete, nach draußen huschte und sie wieder schloss. Gierig sog sie den Geruch der feuchten Luft und der Blumen des Gartens ein und genoss das Gefühl der kühlen Glastür an ihrem Rücken, gegen die sie sich lehnte. Dann öffnete sie die Augen.

Der Mann, der vor ihr stand, sah genauso überrascht aus, wie sie sich fühlte. Wobei sie gar nicht so genau wusste, warum sie überrascht war, ihn hier zu sehen, wo sie doch vom ersten Augenblick an wusste, wer er war. Er war kleiner als seine Brüder, gerade einmal einen halben Kopf größer als sie. Und er sah nicht aus wie sie. Andere hätten vielleicht gesagt er wäre unattraktiver. Aber für Prudence war dem nicht so. Er war anders. Besonders. Seine Wangenknochen und die Konturen seines Kiefers weckten in ihr den Wunsch ihn zu zeichnen. Hatten seine Brüder auch diese unglaublich dunklen Augen gehabt, deren Blick Prudence durch Mark und Bein ging und ein seltsames Kribbeln in ihr auslöste, oder lag das nur an dem schummerigen Licht der Laterne? Es lag bestimmt nur am Licht. Eine andere Lösung hätte Prudence in diesem Moment nicht gelten lassen, da sie viel zu wütend auf ihn war, dafür, dass sie nicht einmal hier die Genugtuung fand, allein sein zu können.

„Das ist meine Terrasse", stellte sie wenig charmant klar. Aiden Nightingale hob eine Augenbraue.

„Ich bin mir recht sicher, dass die Montgomerys nur Söhne haben", merkte er an. „Und da Sie nicht aussehen wie ein Sohn, denke ich nicht, dass Sie ein Anrecht auf diese Terrasse haben."

Prudence' bereits im Voraus genügend angespannte Nerven brachten sie dazu, sich von der Tür abzustoßen und aufrecht hinzustellen. Dass sie wusste, dass er Recht hatte, regte sie nur noch mehr auf. Sie drehten sich in Richtung Garten, nicht bereit, auch nur einen Fuß ins Haus zu setzen.

„Ich habe ein größeres Recht darauf hier zu sein als Sie", entschied Prudence sich, es mit einem deutlich handfesteren Argument zu versuchen. „Ich musste mich schon durch die Hälfte des Balls quälen, während Sie sich äußerst unehrenhaft seit dessen Beginn hier verstecken. Ihre Brüder suchen sie überall, um sie unsympathischen Menschen vorstellen zu können. Seien Sie ein Mann und stellen sich ihnen, Mr. Aiden Nightingale."

Mr. Aiden Nightingale verschränkte seine Arme vor seiner starken Brust, über die Prudence lieber nicht zu genau nachdenken wollte, und zog die Augenbrauen zusammen.

„Da Sie wissen, wer ich bin, vermute ich, dass Sie eine dieser unsympathischen Personen sind?" Prudence entging die versteckte Beleidigung darin nicht.

„Mein Name ist Prudence Purcell. Mein Vater ist ein Geschäftspartner von Mr. Mullens." Sie hatte bewusst nicht etwas wie „ihrem Onkel" oder der Gleichen gesagt, da sie immer noch nicht ganz verstanden hatte, in welcher Beziehung die beiden zueinander standen. Und da sie Mr. Mullens mochte, klang für sie „ihr Verwandter" einfach zu unpersönlich. In Aidens Augen sprühte ein Funken Interesse auf, der jedoch sofort wieder erlosch.

„Ah. Ich denke er hat von Ihnen geschrieben."

Es war selten gut, was die Leute über sie sprachen. Aber bei Mr. Mullens machte sie sich da eigentlich gar keine so großen Sorgen. Halbherzig und immer noch nicht zu einem Gespräch bereit erwiderte sie die Floskel: „Hoffentlich nur Gutes."

„Tatsächlich ja", antwortete Mr. Nightingale, ein Hauch von Unglauben in seiner Stimme. „Er mag Sie sehr gerne. Was erstaunlich ist, da er zwar mit vielen Menschen zu tun hat, aber nur wenige von ihnen wirklich mag."

Prudence gab einen verstehenden Laut von sich und beobachtete den Regen. Ein paar Sekunden lang keine Worte, nur das Tröpfeln. Wieder ging keiner der beiden.

„Überrascht sie das?", wollte Aiden wissen. Prudence hatte so intensiv darüber nachgedacht, wie sie Mr. Nightingale hätte weg ekeln können, dass sie einen Moment brauchte um zu verstehen, dass diese Frage auf das Thema davor bezogen war. Sie schüttelte den Kopf.

„Eigentlich nicht. Viele Menschen, die immer zu allen nett sind, verfluchen sie innerlich und mögen nur wenige von ihnen tatsächlich. Das ist nicht so ungewöhnlich. In unserer Gesellschaft sind die meisten Nettigkeiten nur Oberflächlich."

„Einer der Gründe, warum ich hier draußen bin", murmelte Mr. Nightingale und richtete seine Manschettenknöpfe. Er fühlte sich unwohl. Die Art, wie er an seiner Kleidung herum zupfte, die Art wie er stand, ja sogar die Art wie er seine Nase kraus zog, ließen ihn wirken wie ein eingesperrtes Tier. Prudence fühlte sich an ihre Katze Kitty erinnert, der ihre Schwester früher immer Hauben aufgesetzt hatten, um mit ihr Teestunde zu spielen. Und noch viel mehr fühlte sie sich an sich selbst erinnert. Einen kurzen Moment hatte sie Mitleid mit ihm, wollte seine Anspannung lösen und dachte doch tatsächlich darüber nach, die Terrasse mit ihm zu teilen und ein Gespräch zu beginnen. Doch auch wenn das allemal besser gewesen wäre, als Zeit mit diesen aufgeblasenen Lackaffen da drinnen zu verbringen: Das war ihre Terrasse. Ihre Insel im stürmischen Meer der Aristokraten. Sie hatte alleinigen Anspruch darauf genommen, bereits seit dem ersten Ball der Montgomerys. Es war eine sehr schöne Terrasse. Sie war perfekt, zu klein, um von den Montgomerys aufgesucht zu werden, weit genug vom Ballsaal entfernt, um nicht von Gästen entdeckt zu werden und immer noch nah genug am Ballsaal, dass man im Notfall schnell wieder zurück kommen könnte. Sie würde sie nicht kampflos an einen wildfremden hergeben. Egal wie schön die dunklen Augen waren, mit denen er ihr neugierig verstohlene Blicke zuwarf.

„Es ist anstrengend und ermüdet mich, mich immer verstellen zu müssen. Ich kann gar nicht verstehen, wie die anderen es mit so einer Leichtigkeit schaffen. Mir kommt es unnatürlich vor. Als würde ich in ein Korsett gepresst werden, durch dass ich kaum noch Luft kriegen kann." Und da war es wieder. Dieses Verständnis für ihn, dass sie nicht haben wollte. Sie schlang die Arme um sich. Allein der Gedanke daran ließ sie das Gesicht verziehen. Mr. Nightingale sah sie verwundert an. „Auch wenn ich das mit dem Korsett selbstverständlich nicht hundertprozentig einschätzen kann. Aber so stelle ich es mir vor."

Prudence verlor den Kampf gegen ein Schmunzeln. Liebe Güte! Sie wollte ihn nicht sympathisch finden! Einer seiner Mundwinkel hob sich. Prudence fand, es stand ihm ungeheuer gut und dass er es öfter tun sollte. Es war seltsam. Es fühlte sich für sie an, als würde sie ihn gut kennen und gleichzeitig gar nicht. Er war eine Spieluhr. Sie sah die tanzenden Figuren, die sich in ihr befanden, ohne die Melodie zu hören, die sie spielte. Aber was für eine schöne Spieluhr er war. Und wie gern sie gewusst hätte, ob ihre Melodien harmonierten und letztendlich eine Symphonie erschaffen konnten. Eine Symphonie? Was dachte sie da?! Sie musste Aiden Nightingale dringend loswerden, bevor sie anfing, ihn zu mögen.

„Wollten Sie nicht gerade gehen?", führte sie das Gespräch zum eigentlichen Thema zurück. Auch Mr. Aiden Nightingales Ton wurde wieder grummeliger.

„Um als exotische Spezies zur Schau gestellt zu werden? ‚Seht euch den Iren an'? Nein danke. Darauf kann ich verzichten." Er warf Prudence von der Seite einen kurzen Blick zu, nicht lange genug, um ihr einen Hinweis darauf zu geben, was er von ihr hielt und verschränkte ebenfalls die Arme. „Und Sie? Wollen Sie nicht wieder rein gehen?"

Entschlossen schüttelte sie den Kopf und dachte an Mr. Barnets Vortrag über die Sklavenhaltung, den sie sich eine halbe Stunde lang sich auf die Zunge beißend hatte antun müssen. „Ganz bestimmt nicht! Ich bin doch gerade erst heraus gekommen! Wissen Sie, was für eine Arbeit das war?"

Er hob den Kopf leicht an. „Ich kann es mir vorstellen. Ich konnte schnell genug durch die Menge hindurch schlüpfen, dass sie es nicht geschafft haben, mich irgendjemandem vorzustellen. Aber sie müssen hier bekannt sein wie ein bunter Hund."

Prudence verdrehte wissend die Augen. „Alle kennen mich, aber niemand kennt mich. Reden wollen sie alle, aber antworten oder gar Meinungen wollen sie nicht hören, es sei denn, sie stimmen mit ihren überein."

Mr. Nightingale schwieg und wandte seinen Blick jetzt nicht mehr von ihr ab. Als hätte er sich an ihren Anblick und ihre Anwesenheit gewöhnt. „Also wie haben Sie es gemacht? Vielleicht kann ich noch etwas von Ihnen lernen!"

Prudence lächelte leicht.

„Phineas", antwortete sie. „Mr. Phineas Grove. Mein bester Freund. Im Gegensatz zu mir ist er kontaktfreudig, sondern auch sehr gut darin, Informationen über Häuser zu sammeln und so die günstigsten Fluchtwege und Verstecke ausfindig zu machen. Er und ich, wir haben gewisse Techniken entwickelt."

Mr. Aiden Nightingale dachte nach. „Ist das der, der diesen großen dunkelhaarigen die ganze Zeit angeschmachtet hat wie ein Verdurstender ein Glas Wasser?"

Prudence blieb das Herz beinahe stehen. Natürlich wusste sie von Phineas Vorlieben. Sie war mit ihm aufgewachsen und kannte ihn so gut wie keinen Menschen sonst, was auf Gegenseitigkeit beruhte. Aber er und Albert waren eigentlich ziemlich gut darin, ihre Beziehung zu verbergen. Und selbst bei den Leuten, die davon wussten, waren beide zu hoch angesehen, als dass sie sich getraut hätten, auch nur etwas anzudeuten. Immerhin war Phineas immer noch der Baron von Fernside. Sie wollte es vehement abstreiten und ihn dafür verurteilen, auch nur an eine solche Anmerkung zu denken. Allerdings sagte ihr etwas, dass er ihr ohnehin nicht glauben würde und so rutschte ihr ein bloßes und nicht sonderlich kluges: „Wie haben sie...?" heraus. Mr. Nightingale warf ihr einen ungläubigen Blick zu.

„Ich bin nicht blind."

Prudence' Puls raste. „Nur ein Wort an eine Menschenseele und ich schwöre Ihnen, ich werde sie eigenhändig..."

Er schob die Hände in die Hosentaschen.

„Und ich bin kein Ungeheuer. Soll Ihr Freund lieben, wen er liebt. Es tut ja niemandem weh. Aber er sollte besser aufpassen. Sie sagten vorhin, die Leute würden reden, aber nicht zuhören? Nun, sie sehen auch, aber sehen nicht hin, außer es handelt sich um etwas, dass ihnen nutzen könnte. Noch könnte es niemandem nutzen. Aber wenn es das tun könnte, dann würden sie nicht zögern, nicht nur zu sehen, sondern auch hinzusehen. Und dann würde es ihrem Freund schlecht ergehen. Menschen können grausam sein."

Prudence sah ihn verblüfft an. Waren alle Leute in Irland so? Wenn ja: Warum war Prudence noch nie dort gewesen? Sprachlos starrte Prudence in den Regen. Ein paar Sekunden lang keine Worte, nur das Prasseln des Wassers auf den Steinfliesen, das Zirpen der Grillen hier und da und ab und zu das Rauschen des lauen Sommerwindes in den Bäumen. Und wieder ging keiner der beiden.

„Wir dürfen nicht zusammen gesehen werden. Wenn jemand kommt, muss einer von uns schnell ins Gebüsch springen", überlegte Prudence schließlich. „Und da ich absolut langsam und tollpatschig bin, müssen Sie diese Aufgabe übernehmen."

„Was lässt Sie glauben, dass ich schneller wäre?"

Sie verkniff sich den Kommentar, dass sie es an seiner sportlichen Statur ausmachte. Aber man sah ihr die Antwort wohl an, denn er lächelte. Prudence entschied erneut, dass es ihm so gut stand, dass er es eigentlich immer tun sollte.

„In Ordnung", stimmte er ihrem Vorschlag zu. „Aber dafür müssen Sie aufpassen und Bescheid geben, wenn jemand auf dem Flur zu sehen ist. Ich will keinen Moment von dieser wundervollen Nacht verschwenden."

„Ich denke, damit kann ich leben. Bei solchen Aktionen sind eh alle meine Sinne in der Regel auf ‚Alarm-Bereitschaft' gestellt."

„Ach? Dann verbringen Sie wohl häufig Nächte allein mit mysteriösen Fremden auf den Terrassen eines anderen? Und ich dachte, das mit uns wäre etwas Besonderes."

Er schmollte. Sie grinste verwirrt. Flirtete er etwa mit ihr? Oder war das nur eine Wunschvorstellung? Sie hatte noch nie mit jemandem geflirtet und konnte sich auch nicht daran erinnern, dass jemals jemand mit ihr geflirtet hätte. Aber ihre Mutter hatte auch einmal gesagt, dass sie es nicht einmal bemerken würde, wenn ein Mann an ihr Interesse hatte, selbst wenn er ein großes Schild hochhalten würde.

„Nein, das ist tatsächlich eine Premiere für mich. Normalerweise verbringe ich diese Abende lieber allein. Bei diesen mysteriösen Fremden weiß man nie, welche Intentionen sie verfolgen. Womöglich stellen sie sich als fürchterliche Schufte heraus."

„Aber mir vertrauen sie?"

Sein Ton verriet eine Mischung von Hoffnung und Unglauben.

„Nein. Aber das macht nichts. Wenn sie irgendetwas versuchen sollte, denke ich, könnte ich mich verteidigen."

Das war eine glatte Lüge. Als sie sieben Jahre alt gewesen war, hatte Prudence, nachdem Timothy Wellings ihr Stofftier gestohlen hatte, schmerzlich erfahren müssen, dass sie nicht in der Lage war, Menschen absichtlich zu verletzen, so gern sie es auch wollte. Mehr als einmal hatte sie bereits jemanden aus Versehen geschlagen oder getreten, aber wenn sie es gezielt tat, weigerte sich ihr Körper, über die Intensität eines Sofakissens hinaus zu gehen. Ob es in wirklichen Notsituationen auch so sein würde, könnte sie nicht einschätzen, aber sie hoffte inständig, es niemals herausfinden zu müssen. Und etwas sagte ihr, dass es diese Nacht auch nicht dazu kommen würde. Sie wusste, wie prekär diese ganze Situation auf andere hätte wirken können. Hätte ihre Mutter erfahren, dass sie hier mit diesem Fremden vollkommen allein, in tiefster Nacht, auf der Terrasse einer angesehenen Familie, Zeit verbrachte, würde diese einen Herzinfarkt haben. Aber Prudence vertraute ihm aus Gründen, die sie selbst nicht verstand. Er kam ihr wie ein Ehrenmann vor. Sie würde sich nicht gegen ihn verteidigen müssen.

„Das kann ich mir zu gut vorstellen", gab Aiden zu, Belustigung in seiner Stimme. Er betrachtete sie. „Ihre wievielte Saison ist das?"

„Meine erste."

„Wirklich? Sie wirken älter als..."

„Achtzehn. Keine Sorge. Das höre ich öfter. In unserer Familie ist das Alter häufig schwer einzuschätzen. Meine Mutter sagt immer ‚Purcell-Frauen sehen nie älter oder jünger aus, als sie sind, sondern immer nur wie sie selbst'."

Was er dazu sagen sollte, wusste er nicht genau und so nickte er nur.

„Die meisten meiner Geschwister sind wesentlich älter als ich und ich stehe ihnen sehr nahe. Ich war es schon immer gewohnt und habe es gleichermaßen bevorzugt, mich mit Personen zu unterhalten, die wesentlich älter sind als ich", erklärte sie und fügte noch hinzu: „Wie alt sind sie eigentlich?", während sie sich innerlich dafür schalt, dass sie so klang, als hätte sie sich die ganze Zeit nichts anderes gefragt.

„Fünfundzwanzig. Aaron ist zweiunddreißig Jahre alt und Adam dreißig."

Er war also auch um einiges jünger als seine Geschwister.

„Ah. Und Sie sind hier, um Mr. Purcell zu besuchen?"

Es kam Prudence komisch vor, mit ihm Konversation zu betreiben. Aber sie hätte sich noch komischer gefühlt, hätten sie sich nur angeschwiegen. Dann hätte sie wahrscheinlich wieder versucht, die unangenehme Stille zwischen ihnen zu brechen, indem sie noch mehr Unsinn schwafelte, als sie ohnehin schon tat. Und doch fühlte sie sich nicht, als ob sie dumm reden würde. Ganz im Gegenteil. Sie fühlte sich wohl. Jedes Mal, wenn sie auf einen Ball ging, hatte sie diesen kleinen Hoffnungsschimmer in sich, den sie nicht unterdrücken konnte. Diesen Hoffnungsschimmer, endlich einmal die Leidenschaft ihrer Schwestern und aller anderen Gäste teilen zu können. Ausgelassen feiern zu können, Spaß zu haben, sich keine Sorgen darüber machen zu müssen, etwas falsches zu sagen, da sie auf einmal auf magische Weise ein Talent dazu besaß, im richtigen Moment den Mund aufzumachen und die richtigen Worte heraus kommen zu lassen, tanzen zu können, als würde keiner sie dabei beobachten und mit allen Menschen im Raum auf Anhieb eine Verbindung aufbauen zu können. Doch kaum hatte sie den Saal betreten, fühlte sie sich wieder so fehl am Platz wie nirgendwo sonst, so sehr, dass es sie schon fast schmerzte und sie sich nur noch wünschte, irgendwo weit weg von all diesen Menschen zu sein, die über sie richteten ohne sie zu kennen und ihr das Gefühl gaben, seltsam zu sein. Prudence hatte in ihren Leben schmerzlich lernen müssen, dass ein Großteil der Menschheit feige und faul ist. Er schreckt zurück, sobald ihm etwas über den Weg läuft, was er nicht sofort verstehen und identifizieren kann, und hat auch meist nicht den Ehrgeiz dazu oder das Verlangen, es verstehen zu wollen. Es ist bequemer, nicht verstehen zu wollen. Aber Aiden Nightingale kam ihr nicht vor wie einer von diesen Menschen. Er war nicht feige und faul. Er bemühte sich nicht einfach nur zu verstehen, er verstand ohne sich groß bemühen zu müssen. Denn wenn man selbst nicht verstanden wurde, war es leichter, zu verstehen. Er war nicht der Typ, der sich ein Urteil über Prudence bildete und es mit anderen teilte, ohne jemals wirklich mit ihr gesprochen zu haben.

„Mein Bruder dachte, es wäre mal an der Zeit ihn zu besuchen, da er sonst immer nur uns besuchte. Aaron reist sehr gerne, auch wenn er, seit unser Vater gestorben ist und er den Titel des Earls übernehmen musste, nicht mehr sehr viel Zeit dafür hat."

Von dieser gleichermaßen traurigen und ungewöhnlich ehrlichen und substanzreichen Offenbarung wurde sie komplett aus ihren Gedanken gerissen.

„Oh. Das tut mir leid!"

Er schüttelte den Kopf.

„Das muss es nicht. Die Arbeit des Earls macht ihm Spaß. Er geht darin richtig auf."

Ach ja. Sein Bruder der Earl. Wenn alles noch genauso war wie als sie den Saal verlassen hatte, und davon ging Prudence aus, würden ihre Schwestern da drinnen immer noch mit seinen Brüdern tanzen und lachen. Darauf hätte sie jetzt auch Lust gehabt. Wenn sie nicht gerade dazu gezwungen wurde und hunderte Paare von Augen auf sie gerichtet waren, liebte sie es zu tanzen. Sie konnte die Musik aus dem Ballsaal bis hier hin hören. Leise summte sie und schaukelte sacht hin und her. Aiden musterte sie lächelnd. Ertappt sah sie auf und zuckte zusammen.

„Du merkst schon, dass du singst, oder?", hörte sie die Stimme ihres Bruders in ihrem Kopf. Wenn es um Musik ging, vergaß sie sich immer. Noch häufiger als bei allen anderen Dingen.

„Mozart", erklärte sie peinlich berührt. „Einer meiner Lieblings-Komponisten."

Aiden schmunzelte und nickte verstehend. Dann räusperte er sich.

„Möchten Sie tanzen?"

Sie blinzelte verwirrt.

„Hier? Jetzt? Mit Ihnen?"

Augenblicklich schämte er sich dafür diesen Vorschlag gemacht zu haben und strich sich verlegen durchs Haar.

„Warum nicht? Es ist niemand da, man hört die Musik und außerdem..."

„Unglaublich gerne", unterbrach sie ihn und verwehte all seine Bedenken mit dem Wind. So ein Angebot hätte sie heute Abend niemals erwartet. Es mochte etwas ungewöhnlich und seltsam sein, aber um Welten besser als ihr üblicher Gnaden-Tanz mit Phineas. Sie sah auf den Boden und dann in den Garten. „Das heißt, wenn es Ihnen nichts ausmacht, nass zu werden. Denn hier wird wahrscheinlich nicht genug Platz dafür sein. Mir macht es nichts." Sie streckte den Arm aus dem Schutz der Überdachung und spürte glücklich die Tropfen auf ihrer Haut. „Ganz im Gegenteil."

Aiden griff nach ihrer Hand.

„Mir auch nicht."

Sie drehte ihren Kopf zu ihm. Sein Lächeln war ansteckend und löste so ein warmes Gefühl in ihrer Brust aus. Sie gingen in die Mitte der Terrasse, wo der Regen ohne irgendeine Störung seine Arbeit vollziehen konnte, und begannen, sich im Takt der Musik zu wiegen und leise vor sich hin zu summen. Scheinbar kannten sie beide das Lied sehr gut. Prudence fühlte sich wohl. Sicher. Sie konnte alles um sich herum vergessen, die nervigen Kommentare und Blicke der Menschen im Ballsaal und auch, dass man ihr gesagt hatte, sie wäre eine schlechte Tänzerin. Es gab nur sie, ihn, perfekte Harmonie und die Musik. Und Prudence musste erstaunt feststellen: Sie waren eine Symphonie. Sie sah sich um. Sah wie die Wassertropfen auf die Rosenblüten aufschlugen und meinte halb traurig, halb amüsiert:

„Morgen werden meine Schwestern wieder unzählige Blumen von unzähligen Verehrern erhalten, die nicht wissen, was das, was sie da geschickt haben, bedeutet."

Sie sah zu ihm auf.

„Einer hat vor kurzem Gardenien mit orangen Lilien geschickt. Können Sie sich das vorstellen? Damit sagt er ihr, dass er heimlich in sie verliebt ist und für sie schwärmt und sie gleichzeitig hasst und sich an ihr rächen will."

Aiden schnaubte lachend und schüttelte den Kopf.

„Ich bin nicht der Typ, der häufig Blumen verschenkt. Aber wenn ich es doch endlich einmal tun sollte, sollte ich mich wohl vorher erkundigen, was genau ich da verschicke. Ich wusste gar nicht, dass Bouquets so gefährlich sein können."

Prudence wurde rot. Sie hatte einfach so daher geredet, ohne nach zu denken und hoffte wirklich, dass das nicht wie eine Aufforderung für ihn gewirkt hatte, ihr Blumen zu senden. Sie war achtzehn. So verzweifelt war sie nun auch wieder nicht.

„Was für Blumen würden sie gerne einmal geschickt bekommen?", wollte er wissen und sah sich im Garten um.

„Was müsste ein Mann ihnen schenken, um von ihnen als würdig angesehen zu werden? So wie es klingt, entsprachen ihre bisherigen Sträuße nicht ihren Ansprüchen."

„Oh! Ich hab noch nie...!" Sie biss sich auf die Lippe und zwang sich, den Satz nicht zu beenden. Wie funktionierte das mit dem ,nicht verzweifelt wirken" nochmal? Sie seufzte. „Schleierkraut", meinte sie und sah auf. „Schleierkraut und nichts weiter. Nicht pompös und nicht groß. Kein schnulziges Gedicht und keine riesigen Gestecke. Ganz simpel. Ganz klar."

Aiden betrachtete sie, neugierig und interessiert und fragte: „Was bedeutet..."

„Aiden!"

Mr. Aiden Nightingale drehte seinen Kopf ruckartig in die Richtung der Tür. Auch Prudence hatte Mr. Mullens Stimme erkannt, riss sich schnell von ihrem Tanzpartner los und versteckte sich hektisch hinter einer Pflanze am Rand der Terrasse. Nun war doch sie diejenige im Gebüsch und sie würde es morgen anhand von blauen Flecken zu spüren kriegen. Sie presste sich an die Wand und betete, dass sie nicht entdeckt werden würde. Wenn die beiden allein zusammen gesehen werden würden, würde ihre Mutter ihr den Kopf abreißen. Und wenn es nur von Mr. Mullens war.

„Weißt du wie gefährlich das ist, Prudence! Weißt du, was die Leute behaupten könnten?! Denk doch nur an deine Schwestern!"

Durch die Blätter des Buschs hindurch konnte Prudence Mr. Mullens gut sehen. Und auch Aiden, der aussah, als würde er innerlich fluchen.

„Da bist du!", sprach Mr. Mullens ihn an. „Was machst du denn hier? Es regnet in Strömen!"

Aiden warf ihm einen ungläubigen Blick zu.

„Was ich hier mache?" Er streckte seine Hand aus, ließ den Regen auf sie fallen und lachte. „Du kennst mich!"

Mr. Mullens lächelte liebevoll und nickte wissend.

„Ihr seid nur einen Monat lang hier. Da müsst ihr euch zeigen! Ich will doch mit meinen Neffen dritten Grades angeben!"

Mr. Mullens kam heraus, blieb jedoch unter der Überdachung stehen. Aiden lächelte unsicher und Prudence entdeckte darin auch eine gewisse Traurigkeit.

„Ich fürchte, da bin ich nicht der richtige für."

Sie wünschte sich, ihm ermutigend über die Schulter streichen zu können. Und sie wünschte sich, nicht mehr in diesem Busch zu sitzen. Mr. Mullens sah sich um und sie rutschte stattdessen noch ein Stück weiter hinein. Jetzt sah sie kaum noch etwas, sondern hörte nur noch die Stimmen der beiden.

„Komm herein. Du bist klitschnass! Es ist zwar warm, aber du könntest dich durch deinen Leichtsinn trotzdem erkälten!"

„Ja, sofort. Gib mir bitte nur noch fünf Minuten! Ich..."

„Aiden!", wiederholte Mr. Mullens tadelnd.

Prudence konnte schemenhaft erkennen, wie Aiden seinen Kopf in ihre Richtung drehte. Er seufzte.

„In Ordnung. Ich komme."

Dann sah sie nur noch seine Füße, wie sie sich von der Terrasse bewegten. Sie wäre am liebsten hervorgesprungen, hätte geguckt, ob sie noch einmal einen Blick auf ihn werfen konnte, während er den Gang entlang ging, und ihm vielleicht sogar noch einmal zugewinkt. Aber sie entschied sich, in diesem Rosmarin-Gestrüpp zu bleiben und zu warten, bis die beiden weg waren und sie in Sicherheit, fluchte innerlich und hoffte inständig, es würde morgen nichts mit Rosmarin zum Dinner geben.

Nach diesem Abend wusste Prudence zwei Dinge mit vollständiger Sicherheit: Erstens: Sie hatte ihren Seelenverwandten gefunden. Sie hatte Liebe auf den ersten Blick nie für abwegig gehalten, hätte allerdings nicht erwartet, dass es sie jemals erwischen würde. Zumal sie die gesamten restlichen achtzehn Jahre ihres Lebens niemals für irgendjemanden etwas empfunden hatte, dass dem auch nur ansatzweise gleich kam. Sie wollte ihn wiedersehen. Sie wollte mehr Zeit mit ihm verbringen als an diesem Abend. Am liebsten ihr ganzes Leben. Mein Gott! Sie kannte diesen Mann doch kaum! Und doch kannte sie ihn so gut. Und was sie nicht kannte, wollte sie kennenlernen. Alles von ihm. Was uns zu Punkt Nummer zwei bringt: Sie würde ihn niemals wiedersehen. Mr. Mullens ging nicht häufig auf Bälle, eine Eigenschaft, die sie sehr an ihm schätzte, immerhin würde sie es ja auch nicht, wenn sie nicht dazu gezwungen werden würde, würde so viel Zeit mit seinen Neffen dritten Grades verbringen, wie er nur konnte und schließlich würden sie in weniger als einem Monat wieder zurück nach Irland gehen und sie würde Aiden Nightingale nie wieder sehen. Ihr blieb noch die kleine Hoffnung, dass sie ihm davor vielleicht noch einmal durch Zufall begegnen würde, bei einem Spaziergang oder so, und dort noch einmal zumindest fünf Minuten mit ihr reden könnte, bevor sie ihn dann nie wieder sah. Er hatte sie gemocht, auch wenn sie sich nicht vorstellen konnte, dass er auch nur ähnlich intensiv für sie empfand wie sie für ihn. Das hoffe sie zumindest. Nein, das musste schon so gewesen sein, sonst wäre er nicht bei ihr geblieben. Oder hätte sie zum Tanzen aufgefordert. Prudence vergrub ihr Gesicht in ihrem Kissen. Es war erst letzte Nacht passiert. Sie hatte ihn nur einmal gesehen. Nur einen Abend lang. Und auch wenn dieser Abend der wahrscheinlich schönste und perfekteste in ihrem Leben gewesen war: Er würde irgendwann zu einer schönen Erinnerung werden, die man zwar in seinem Herzen behielt, aber von der man die Details und das Gefühl, dass sie einem gegeben hatten, vergaß. Und wenn Prudence ehrlich war, stimmte dieser Fakt sie noch trauriger als alles andere. Was sie jetzt brauchte, war eine Tasse Tee zum Frühstück. Sie sah auf die Uhr. Es war schon fast Elf. Ihre Eltern hatten sie wohl ausschlafen lassen und ohne sie gegessen. Sie zerrte sich aus dem Bett, warf sich ihren Morgenmantel über und stolperte mit schmerzendem Rücken, ihr Souvenir von der Aktion gestern, die Treppe herunter. Noch bevor sie ihren Lieblings-Salon betreten hatte, krochen ihr Millionen von Düften in die Nase. Die Diener hatten die Blumen ihrer Schwestern bereits dort abgestellt. Sie hörte sie fröhlich lachen und scherzen.

„Morgen, Schlafmütze", begrüßte Fanny sie, die ältere der beiden Zwillinge, als sie den Raum betrat. Der Kaffeetisch war vor lauter Blumen nicht mehr zu sehen, die die Schwestern hingerissen begutachteten.

„Morgen", begrüßte Prudence sie verschlafen und zwang sich ein halbwegs liebevolles Lächeln ab, während sie sich den Schlaf aus den Augen rieb.

„Wieso warst du denn nur so erschöpft von gestern Nacht? Du hast es doch sogar erfolgreich geschafft, dich vor dem Ball zu drücken!", fragte Cecilie. Wenn sie nur wüsste. „Hoffentlich wirst du durch deine Aktion mit dem Regen-Spaziergang nicht krank!"

Prudence fühlte sich sehr krank, allerdings nicht auf diese Weise. Sie ließ sich auf die Chaiselongue fallen, während Fanny eine Vase an ihr vorbeitrug.

„Wie viele sind es diesmal?", wollte Prudence lächelnd wissen. Normalerweise fand sie es amüsant, wie viele Sträuße ihre Schwestern bekamen, und sie führten Strichlisten und Rekorde darüber, aber heute fragte sie lediglich aus Gewohnheit und wollte es eigentlich gar nicht wissen.

„Wir haben noch nicht gezählt, wie viele wir dieses Mal ablehnen", scherzte Cecilie und rückte einen Strauß zurecht. Prudence seufzte, schloss die Augen und rieb sich den schmerzenden Nacken.

„Oh!", hörte sie Fanny hinter sich verwundert sagen. „Sie dir den Mal an! Der ist aber komisch."

„Lass mal sehen!", befahl Cecilie neugierig und wuselte zu ihr. Prudence goss sich Tee ein. So früh, so müde und so niedergeschlagen hatte sie absolut keine Nerven für die Freude und Aufgeregtheit ihrer Schwestern, egal wie sehr sie sie liebte.

„Der ist ja...", murmelte Cecilie.

„Prudence!", rief Fanny fröhlich.

„Was ist denn?"

„Komm doch mal kurz her!" Prudence starrte abwesend in ihren Tee.

„Muss das sein?"

„Ja!"

„Wirklich?"

„Ja! Ganz wirklich!"

Prudence erhob sich unter Stöhnen und ging um die Chaiselongue herum. Sie wusste wirklich nicht, was so interessant sein sollte an einem... Prudence hielt inne. Vor ihr auf der Erde stand ein kleiner Strauß, in ihrer gläsernen Lieblings-Vase. Tausende kleine Blüten wie fallender Schnee. Zusammengebunden mit einem simplen, weißen Seidenband mit Schleife. Dieser hier war für sie. Nur für sie. Und in dessen Mitte war ein kleines Schildchen platziert auf dem mit Serifen verziert ihr Name geschrieben stand. Verblüfft sah sie zwischen ihren Schwestern hin und her.

„Nun lies schon!", forderte Cecilie sie auf, und klatsche vor freudiger Erwartung in die Hände.

„Von wem ist es?!"

Prudence Lächeln war so breit, dass nichts anderes ihr Gesicht einzunehmen schien. Sie wusste von wem der Strauß war, noch bevor sie sich hingehockt das Kärtchen herausgezogen und die Nachricht auf dessen Rückseite las, die lautete:

Für Prudence Purcell,

dem Mädchen, mit dem ich immer wieder im Regen tanzen würde. Dafür,

dass sie mir einen Grund gibt, meinen Aufenthalt in England unbefristet zu verlängern.

Von Aiden Nightingale

in ewiger Liebe und Hingabe,

simpel und klar.

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