Kapitel 6
Für einen Moment starrte ich ihn nur sprachlos an, dann schien eine Welt um mich herum zusammenzubrechen. Im Nachhinein konnte ich nicht mehr sagen, ob es Erleichterung oder blanker Zorn war, aber für diesen Moment meines endlosen Lebens fühlte ich beide Emotionen so stark wie noch nie bisher. Erleichterung, da sich mir nun das Ende meiner Reise offenbarte und Zorn, weil in dem Zimmer nebenan eine Göttin im Sterben lag, die schon lange hätte gerettet werden können.
„Ich weiß, was du nun denkst, Morpheus. Ich rede hier mit dir, obwohl jemand anderes dringend meine Hilfe bräuchte und glaube mir, ich habe mein Möglichstes versucht. Aber mehr als theoretische Erfahrungen konnte ich nicht erzielen. Der einzige, der sie aus dieser Situation befreien könnte bist du", nahm Asklepios den Faden wieder auf.
„Wie bitte soll das gehen? Ich habe alles, was mein Kopf hergegeben hat, durchdacht und bin zu Ihnen gekommen, weil es mir als das Vernünftigste erschien, nur um zu erfahren, dass die eigentliche Lösung bei mir liegt? So viel Zeit ist vergangen, in der ich sie hätte retten können und stattdessen ist sie mir durch die Finger geronnen hinab in die Leere purer Verzweiflung. Gibt es überhaupt noch Hoffnung für sie nach der ganzen Zeit?" Panik keimte erneut in mir auf und nun auch die Verzweiflung. „Hör mir zu, Morpheus. Du hast Stärke bewiesen und Güte. Beides Dinge die nicht gerade typisch für Götter sind und schon gar nicht gegenüber ihren, nun ja, Feinden. Aber das hier wird dich wahrscheinlich mehr Kraft kosten als du in dir trägst. Pass also gut auf, ich will dir erklären, womit wir es hier zu tun haben. Ich weiß nicht, wie viel du schon erfahren hast, deswegen werden wir wohl bei Null anfangen müssen. Also, du weißt ja, dass jeder einzelnen Gottheit ein Bereich zugeordnet worden ist. Das kann ein Bereich der Erde sein, ein Handwerk, ein Gefühl oder auch nur ein einzelner Gegenstand sein. Es gibt so viele Möglichkeiten, aber von verschiedenen Zuständigkeitsbereichen gibt es gute, sowie auch schlechte Seiten. Einige blieben in einem Körper vereint, aber manche wurde gespalten. Ja, ich denke, so kann man sich das vorstellen. Um einen Schritt weiter zu gehen, muss man sagen, dass dies nicht gleich von Beginn auf so war, denn für einige Gottheiten wurde die böse Seite erst danach geschaffen und das mussten nicht unbedingt auch Götter sein, warum sonst konnten Titanen und Götter ebenbürtig miteinander kämpfen? Nun ja, jedenfalls diese Gottheiten, die einen Gegensatz zueinander darstellten waren dazu bestimmt sich bestenfalls nie zu begegnen und wenn doch mussten sie sich gegenseitig auslöschen. Das war ihre Bestimmung. Die dabei alles entscheidende Kraft war nicht etwa ihre körperliche Kraft und ihre Macht, sondern ihre Verehrung durch die Menschen. In der Regel siegte das Gute, da dessen Verehrung ein deutlich höherer Teil der Menschen nachging, aber die Regel schließt die Ausnahme natürlich nicht aus."
Mein Herz setzte einen Schlag aus. Diese eine Frage, die gerade den gesamten Raum meines Denkens einnahm, wollte ich noch loswerden, dann würde ich handeln müssen. „Heißt das etwa, dass allein ich die Schuld am Zustand Ephialtis' trage?"
„In gewisser Weise schon, aber du sollst dir gesagt haben lassen, dass du dafür im Grunde genommen nichts kannst."
„Und ist sie schon...tot?"
„Nein, sie ist in einer Art Parallelwelt, einer Welt aus der die bösen Wesen ihre Kräfte ziehen, die ihnen die Verehrung der Menschen nicht geben kann. Ein Ort, der der uns bekannten Unterwelt ähnlich sieht, aber es gibt leider keine Informationen darüber, wie wir uns diesen Vorgang der Kraftschöpfung vorstellen können. Ich wünschte ich könnte dir des Rätsels Lösung preisgeben, aber ich fürchte du musst mit dem, was ich dir geboten habe zurechtkommen, Morpheus."
Aber diese letzten Sätze bekamen nur noch meine Ohren mit, mein Bewusstsein war wieder im Traum, bei Ephialtis auf dem Asphodeliengrund, von dem ich nun wusste, dass es ein Abbild für eine Parallelwelt war. War sie nun dort mit ihrem Bewusstsein und vielleicht schon gar nicht mehr hier?
„Und was muss ich nun tun, um sie zurückzuholen?"
„Tja, das ist wohl etwas komplizierter, aber ich werde versuchen es dir so gut wie möglich zu erklären. Du hast sie sozusagen noch nicht besiegt, wenn man es jetzt aus dieser Perspektive betrachtet. Sie ist also nicht ganz in dieser Welt, aber noch nicht ganz in dieser Parallelwelt des Bösen, wenn man es so bezeichnen mag. Sie befindet sich also in einer Art Zwischenzustand. Ich selbst weiß auch nicht genau darüber Bescheid, aber man könnte wohl sagen, dass ihr Unterbewusstsein sie in einer Art Traum gefangen hält, aus dem sie selbstständig nicht erwachen kann, aber da sie auf der Verliererseite steht würde ich sagen, dass sie auch nicht den Wunsch verspürt wieder aufzuwachen. Wieder so ein Paradoxon, aber verstehst du, was ich meine, Morpheus, und worauf ich hinaus will?"
Ich versuchte mir diese komplexe Angelegenheit noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.
„Ich muss ihr einen Grund geben zurückzukehren, nicht wahr?"
„Genau und ich glaube die Tatsache, dass wir es hier mit einer Art Traum zu tun haben, kommt dir sehr gelegen. Ich würde sagen du musst nur deiner täglichen Arbeit nachgehen und all deine Möglichkeiten ausschöpfen. Du kannst wahrscheinlich viel mehr als du dir es jemals hättest träumen lassen. Entschuldige das Wortspiel." Er schmunzelte und klopfte mir aufmunternd auf die Schulter. „Lass uns nun hinüber gehen. Eine wichtige Aufgabe erwartet dich." Wir durchquerten einen kleinen Raum, von dem aus ein kleiner Bogen mit luftigen Vorhängen den Blick auf eine Art Behandlungszimmer offenbarte. Aber das realisierte ich kaum. Meine Gedanken waren voll und ganz auf die bevorstehende Aufgabe fixiert. Auf einmal blieb Asklepios stehen. Als ich aufsah, wusste ich warum. Wir standen in einem ebenfalls kleinen Raum, der nur spärlich eingerichtet war, wahrscheinlich vor allem deshalb, da die gesamte Längsseite von einem Bett, ähnlich wie das bei uns zu Hause, beansprucht wurde und auf dem weilte die leblose Gestalt meiner bösen Seite.
„Du weißt, was zu tun ist, mein Junge. Gib auf sie Acht. Du wirst es schaffen, da bin ich mir sicher. Vertraue auf deine Fähigkeiten, ich für meinen Teil tue es jedenfalls auch. Ich werde euch jetzt alleine lassen." Ich schloss die Augen. Ja, ich wusste, was ich zu tun hatte: Zum ersten Mal in meinem ganzen langen Leben als Gott musste ich jemandem einen Alptraum bereiten und meiner Bestimmung den Rücken kehren. Der einzige Grund, warum sie jemals zurückkommen wollte, war mein Tod, wenn es hier draußen keinen Rivalen mehr gab, denn das war unsere Natur. Aber wenn ich in einem Traum sterben würde, würde ich dann in dieser Welt weiterleben? Ich wusste nicht, ob ich das wissen wollte, denn wenn mein Leben hier weiterging, dann war alles andere nur eine Illusion.
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