Kapitel 1
Ich saß ganz still da und beobachtete den schlafenden Mann auf dem Bett aus aneinandergereihten Baumstämmen, über die einige Felle, die als Matratze dienen sollten, gelegt worden waren. Sein altes Gesicht sah im Schlaf zufrieden aus und seine gleichmäßige Atmung strahlte eine wohlige Ruhe aus. Der Mann war mein Vater Hypnos, der Gott des Schlafes und ich wachte in dieser Nacht über seinen Schlaf oder vielmehr über seine Träume, denn ich war der Gott der Träume, Morpheus. Meine Aufgabe war es, den Menschen und manchmal auch den Göttern - aber nur auf deren Wunsch hin - gute Träume zu bescheren. Also musste ich zunächst in ihr Unterbewusstsein eintauchen, denn auch ich konnte nicht wahllos Geschichten erfinden und sie in deren Köpfe in Form von Träumen einsetzen. Auch ich musste mir erst, wie jeder Autor, Ideen holen und dann um sie herum eine Geschichte oder einzelne Traumsequenzen spinnen, wie Athene ihre Teppiche aus Webfäden. Ich verglich mich gerne mit Athene. Ich bewunderte die mutige Göttin der Weisheit und klugen Kriegsführung.
Die meisten erwarteten immer zu viel von mir, nämlich dass ich jeden Bestandteil der Träume personifizierte. Aber ich war ausschließlich der Gott der guten Träume. Es bereitete mir Sorgen, dass die Menschen und auch teilweise Götter so von mir dachten, mir das Böse der Träume zuschrieben. Aber das war es, was mir am meisten Angst machte: Alpträume zu bereiten. Andererseits war dies eine vollkommen unbegründete Angst, denn ich war mir sicher, dass sich irgendwo in dieser Welt jemand befand, der die Alpträume personifizierte und vor diesem jemand graute es mir derart, dass ich, ein stattlicher Gott, mich am liebsten in die dunklen Wälder hinter der Hütte meines Vaters und mir zurückgezogen hätte, sodass mich diese unbekannte Person niemals finden würde. Sollte ich das vielleicht wirklich tun? Sklave meiner Angst werden und verschwinden? Ich war mir nicht sicher, ob es richtig sein würde. Aber im Grunde genommen war dies eine Sache, die ich mir genauso gut für später aufheben konnte. Ich musste Prioritäten setzen und alles Weitere musste warten.
Ich spürte ein schmerzhaftes Pochen in meiner Schläfe, wie ein feines Klicken zersetzte es meinen Kopf. Ich wusste, was es zu bedeuten hatte. Durch diese unzähligen Gedanken, die mir in letzter Zeit - so auch heute- durch den Kopf gingen, war mein Vater in eine traumlose Phase des Schlafes gesunken und der Schmerz holte mich wieder zurück in die Gegenwart.
Ein sanfter Lichtstrahl streifte meine Wange und ich warf einen Blick durch das kleine Fenster, dessen Streben, wie Ranken aussahen - der Morgen brach an. Wahrscheinlich streifte irgendwo da draußen gerade Eos, die Morgenröte, herum und zauberte dem Morgen eine göttliche Röte. Das Licht wurde heller und ich konnte meinen Schatten auf dem dunklen Boden ausmachen. Er spiegelte die schmale Gestalt des hageren Mannes wieder, der ich war. Mein Blick wanderte wieder zurück zu dem Bett meines Vaters. Mittlerweile hatte er eine andere Stellung eingenommen und ich spürte schon, wie er langsam erwachte.
Eine viertel Stunde später saßen Hypnos und ich an dem kleinen Eichentisch neben der Feuerstelle uns gegenüber. Trotz unseres bescheidenen Heims merkte man, dass hier Götter lebten (und das nicht nur, weil vor der Tür ein Schild mit der Aufschrift „Alles, was kein Gott ist kann gleich wieder abhauen!", stand), denn sie verbreiteten eine Atmosphäre, die man schon beinahe als mysteriös bezeichnen konnte.
„Wir müssen reden, mein Sohn!"
Die Stimme von Hypnos riss mich aus meinen Gedanken.
„Es ist jetzt schon die vierte Nacht infolge, in der ich mich nicht an meine Träume erinnern kann. Also, was ist los, Morpheus?"
Im Gegensatz zu den Menschen erinnerten sich Götter immer an ihre Träume. Soviel hatte ich mittlerweile von meinem Vater gelernt. Und dass er sich jetzt nicht mehr an seine Träume erinnern konnte, ließ von meiner Nachdenklichkeit dieser Nacht zeugen. Dem Gott des Schlafes konnte ich in einer solchen Situation jedenfalls nichts vormachen, so gern ich es gewollt hätte. Er wusste, dass ich über irgendetwas nachbrütete. Vielleicht spürte er sogar meine ständige Angst in letzter Zeit.
„Ich war unaufmerksam. Ist halt in letzter Zeit viel los." Das war meine einzige Antwort. Nervös spielte ich mit dem halbleeren Trinkhorn, dass mit Nektar, dem göttlichen Trunk, gefüllt war.
„Du weißt genau, dass das nicht die Antwort ist, die ich hören will. Du solltest wissen, dass ich dir nur helfen möchte."
Ich schwieg. Ich wollte meine Geheimnisse für mich behalten, auch wenn ich in diesem Bereich ein aufgeschlagenes Buch für meinen Vater war. Ich war schließlich kein Kind mehr. Ich wollte mein eigenes Leben führen, mit eigenen Geheimnissen und Mysterien. Ich trank die letzten Schlucke des Nektars aus und stand mit Schwung vom Tisch auf. Ich wollte allein sein und über meine Probleme nachdenken. Was war so schwierig daran zu verstehen? Ich wusste es nicht. Als ich mit wenigen Schritten bei der Haustür angelangt war, drehte ich mich noch einmal zu meinem Vater um und Worte, wie ich sie eigentlich nicht sagen wollte, verließen meine Lippen.
„Hypnos", so hatte ich meinen Vater noch nie angeredet. „Ich dachte du würdest verstehen, dass ich mein eigenes Leben führen will mit eigenen Geheimnissen und Mysterien. Allein." Es waren die Worte, die ich nur vor wenigen Augenblicken selbst gedacht hatte."
Mein Vater sah auf und mit einem Mal wirkte er gebrechlich. Eher wie ein alter Greis anstelle eines Gottes. Ich konnte nicht länger hinsehen und drehte mich weg. Ich ging in mein Zimmer. Es war das einzige, das keinen Bodenbelag hatte. Nur vereinzelte weiße Blüten und Sträucher wanden sich auf dem Boden und rankten sich um die Bögen, die mein Zimmer von den anderen abtrennten. Auch die Decke war anders als die in den anderen Zimmern, denn hier sah man, egal zu welcher Tageszeit, durch die Dachbalken hindurch den Nachthimmel. Es war ein Geschenk der Nyx, der Mutter meines Vaters zu meiner Geburt gewesen. Aber allein die war ein Mythos für sich, denn niemand wusste, wer meine Mutter war bis auf meinen Vater natürlich und der durfte es mir, aus welchem Grund auch immer, nicht sagen. Wie konnte es auch anders sein.
Es war wirklich zu viel in letzter Zeit. Ich brauchte Abstand von meinem eintönigen Leben hier in der kleinen, behaglichen Hütte meines Vaters. Ich war so gedankenverloren, dass ich zunächst nicht merkte, wie mich meine Schritte zur Haustür geleiteten. Als ich dann vor ihr stand wusste ich, was ich tun würde. Mein Unterbewusstsein hatte es schließlich die ganze Zeit gewusst. Und ich trat durch die Tür in die Freiheit der Natur.
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