
Kapitel 30
Zähneklappernd beobachtete ich, wie die Sonne unterging. Inzwischen war es richtig kalt geworden, und ich fürchtete, dass es bald wirklich Minusgrade haben könnte, fürchtete, dass der Winter nun wirklich kommen würde.
„Von Tag zu Tag wird es immer Kälter“, sagte ich leise, doch Ronja schaute nicht einmal auf. Die Falten in ihrer Stirn wurden bloß immer tiefer, und plötzlich, ich wollte es anfangs kaum glauben, stahl sich ein Lächeln über ihr Gesicht.
„Ich hab's!“, verkündete sie. „Und diesmal wirklich.“
„Das ist verrückt!“, fluchte ich leise, als wir uns im Schutz der Dämmerung durch die Gärten stahlen. „So was kann wirklich nur dir einfallen!“ Fluchend wich ich einem Strauch aus, und hastete hinter ihr her. Fast musste ich rennen, um mit ihr Schritt zu halten, so weit schritt sie aus.
„Hast du etwa eine bessere Idee?“ Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass sie nun noch schneller lief.
„Nein, schon gut, aber vielleicht solltest du etwas langsamer laufen?“ Hoffnungsvoll blickte ich nach vorne, doch sie schüttelte nur den Kopf.
„Wenn wir zu spät kommen, müssen wir noch eine Nacht hier draußen verbringen!“, meinte sie leise, jedoch mit Nachdruck in der Stimme. Weder sie noch ich hatten große Lust, das durchzumachen, also beklagte ich mich nicht weiter, sondern eilte ihr bloß stumm hinterher.
Fast hätte ich zu spät gebremst, als Ronja abrupt stehen blieb, meine Nase war knapp einen Zentimeter von ihrem Hinterkopf entfernt, als ich abbremste. Nun drehte sich Ronja langsam um, legte einen Finger auf die Lippen, und winkte mich hinter ihr her. Diesen Garten durchquerten wir extrem langsam, und beinahe lautlos. Erst bemerkte ich es gar nicht, doch dann fiel mir auf, dass Ronjas Garten nun direkt vor uns lag. Trotz der Dunkelheit, die inzwischen hereingebrochen war, konnte ich erkennen, wie ein Schemen langsam Runde für Runde um das Haus huschte.
„Sicher, dass es klappt?“, fragte ich so leise wie möglich, als die Gestalt gerade hinter dem Haus verschwunden war.
„Wie schon gesagt“, antwortete sie nach einem kurzen Zögern, als hätte sie erst ein bisschen gebraucht, um mich zu verstehen, „meine Eltern lüften fast jeden Abend. Es muss klappen.“ Sie sprach so leise, dass ich ihre Worte eher von den Lippen ablas, als dass ich sie hörte. Dann winkte sie mich zum Zaun, wo nicht weit von uns, schon in Ronjas Grundstück ein Baum stand, dessen ausladende Zweige fast bis in diesen Garten reichten.
„Sieh mal“, wisperte Ronja, als das Schemen erneut hinterm Haus verschwunden war. „Bei diesem Baum habe ich extra einen Zweig so umgelenkt, dass er bis zu unserem Dach reicht. Mit einem Seil.“ Sie verstummte, als die Person wieder in Sicht kam.
„Es ist Jasper! Argh, ich kann sein dreckiges Gesicht nicht ansehen!“, zischte Ronja, kaum dass er wieder um die Ecke gebogen war.
„Also mir kam sein Gesicht ganz sauber vor. Wenn hier jemand dreckig ist, dann wohl wir“, warf ich leise ein.
„Schscht!“, fauchte Ronja mit gedämpfter Stimme. „Bevor er uns hört!“ Jasper tauchte wieder auf, verschwand wieder, tauchte wieder auf – zog einfach immer weiter seine Runden. Währenddessen kauerten wir lautlos im Gebüsch, beobachteten ihn, und zählten mit, um herauszufinden, wie viel Zeit uns bleiben würde. Das Ergebnis war beunruhigend, also gab Ronja mir zu verstehen, dass sie vorgehen würde, und sobald sie auf dem Baum war, sollte ich nachkommen. Zustimmend nickte ich, und beobachtete Jasper weiterhin, während Ronja sich in Position brachte. Kaum war er wieder außer Sichtweite, half ich ihr über den Zaun, und flink wie ein Wiesel rannte sie auf den Baum zu, zog sich an den Zweigen hoch, und verharrte dann kauernd in einer Astgabel, gerade so hoch, dass Zweige und Dunkelheit sie genug schützten. Als Jasper diesmal erschien, wirkte er leicht misstrauisch, und blickte sich aufmerksam um, obwohl Ronja beim Klettern fast keine Geräusche verursacht hatte. Endlich lief er weiter, hoffentlich der Meinung, es sei ein Tier gewesen. Trotzdem wartete ich noch ein paar Runden, bevor ich mit erhob, nur zur Sicherheit.
Alleine war es schwerer, lautlos über den Zaun zu gleiten, zumal meine Hände undankbarerweise leicht zitterten und schweißnass waren. Mein Körper verkrümmte sich vor Anspannung, ja, selbst mein Kopf wollte nicht mehr so recht mitmachen. Als ich nun versuchte, über den Zaun zu gelangen, war der Satz so zaghaft, dass ich sofort zurückplumste, und mich nur mit Mühe lautlos auffangen konnte. So wird das nichts!, sagte ich mir, und krallte die zitternden Hände ins Gras. Es dauerte ein bisschen, bis ich mich abgeregt hatte, und Ronja fuchtelte schon wild mit den Armen, aber schließlich war ich so weit. Vorsichtig richtete ich mich auf, noch leicht nervös, und begleitet von dem unangenehmen Gefühl, dass es bereits heller geworden war, was natürlich purer Schwachsinn war, dessen war ich mir bewusst. Die Hände auf einem Pfosten passte ich den richtigen Moment ab, dann machte ich einen Satz über den Zaun, und wetzte mit einer Geschwindigkeit, die ich mir gar nicht zugetraut hätte, auf mein Zielt zu, hüpfte von Ast zu Ast hoch zu Ronja, und klammerte mich an einen Zweig direkt neben ihrem fest, wo ich dann lauschend verharrte. Jasper rannte, das hörte ich sofort, und doch hatte er mich erst viel zu spät gehört, um rechtzeitig zu kommen.
„Jetzt reicht's aber!“, hörte ich ihn von unten knurren. „So viele Waschbären werden wohl selbst die nicht haben! Das klang ja, als würden ganze Rudel durch den Garten wetzen!“ Nur undeutlich erkannte ich sein blasses Gesicht, das zu uns hochschaute und sorgfältig jeden Ast absuchte. Reglos kauerte ich keine zwei Meter über ihm und wagte nicht zu atmen. Für einen kurzen Moment blieb sein Blick an mir hängen, doch er schien uns nicht erkennen zu können, denn er wandte sich schon bald wieder ab, und fuhr fort, seine Runden zu ziehen.
Ronja war bereits ganz unruhig, doch zur Sicherheit verweilten wir noch eine Weile, bis Jasper wieder in seinen müden Schritt verfallen war, erst dann machten wir uns über die weit ausladenden Äste auf den Weg zum Dach.
Wenigstens haben sie ein Flachdach!, dachte ich mir, als ich neben Ronja landete, die sich die Schuhe auszog – nur widerwillig kam ich ihrem Beispiel nach.
„Die Socken können gar nicht mehr dreckiger werden“, formte Ronja mit den Lippen, doch das war eigentlich gar nicht mein Problem, viel eher machte es mir zu schaffen, dass die Ziegel eiskalt waren, und meine Füße endgültig auskühlten. Immerhin waren wir nun lautlos, auf dem Dach hätten unsere Schuhe einfach zu viel Krach gemacht.
Eine kurze Zeit standen wir nur dort, meine Füße wurden erst kalt, dann spürte ich sie nicht mehr. Dann, endlich, deutete Ronja auf eine Stelle, wir schlichen uns los, über ein dunkles, eisiges Dach und irgendwo unter uns zog Jasper seine Kreise, doch das interessierte uns jetzt nicht mehr, hier oben hätte er uns sowieso nicht vermutet. Wachsam waren wir trotz allem, bei jedem Schritt passten wir auf, wo wir den Fuß hinsetzten – was zu Folge hatte, dass wir extrem langsam vorankamen. Und doch erreichten wir das Schlafzimmerfenster recht zügig. Behutsam sank ich in die Hocke und spähte hinab. Das Fenster war noch verschlossen, und auch kein anderes Stand zufällig offen.
Gelangweilt kauerten wir am Rand und beobachteten, wie Jasper immer langsamer seine Runden drehte. Jedes Mal, wenn er vorbei kam, duckten wir uns, damit er uns auf keinen Fall sehen konnte – wir hingegen konnten ihn recht gut beobachten, zumal es hier nicht so tief runterging, wie von Ronjas Fenster aus, was ja direkt an der Straße lag.
Zu der Müdigkeit kam schon bald unendliche Langeweile, und mehrmals wären wir fast eingeschlafen, nur Sekunden vorher schreckten wir wieder auf, und rieben uns die müden Augen.
So wird das nie was!, dachte ich mir, und warf zum hunderttausendsten Mal einen Blick auf meine verdreckte Uhr. Sie zeigte kurz vor eins an.
„He, wann gehen deine Eltern denn in Bett?“, wisperte ich schläfrig. Erschrocken fuhr Ronja hoch, anscheinend hatte sie mal wieder vor sich hingedämmert.
„Äh, zehn Uhr …“, antwortete sie nach einem Zögern. Leise stöhnend hielt ich ihr meine Uhr unter die Nase und winkte ihr, mir zu folgen. Die restliche Nacht wollte ich nicht auf dem Dach verbringen, so viel stand fest.
„Stopp!“, wisperte Ronja. „Der Schornstein … warm ...“ Ich warf ihr einen verständnislosen Blick zu, musste jedoch einwilligen, dass sie recht hatte. Wenn wir eine warme Schlafgelegenheit bekamen, wäre es nicht schlecht, sie zu nutzen.
Meine Kleidung ist sowieso schon dreckig, da macht das jetzt auch nichts mehr ..., sagte ich mir, und schmiegte mich an den warmen Schornstein. So blieben wir liegen, gewärmt von diesem dreckigen Kasten, atmeten den Qualm ein, und schauten über die Dächer hinweg, wie von einer Aussichtsplattform. Doch obwohl wir totmüde waren, trauten wir uns nicht, zu schlafen, aus Angst, eine von uns könne schnarchen, oder uns anderweitig verraten.
Es wäre schön, ja so schön gewesen, für einen Moment den knurrenden Magen zu vergessen, nur für eine kurze Zeit die Kälte, die selbst der Schornstein nicht vollkommen vertreiben konnte, nicht mehr spüren zu müssen …
Am nächsten Morgen waren wir so geschwächt, am liebsten wären wir gar nicht mehr aufgestanden, doch wir mussten runter in die Stadt, wie jeden Morgen, um etwas zu trinken, sonst würde gar nichts mehr gehen. Also wankten wir zum Ende des Daches, schlüpften in unsere Schuhe, und wollten schon auf den Baum klettern, als eine wohlbekannte Gestalt die Straße entlang kam. Gordon! Was wollte der denn hier?
Erschrocken duckte ich mich, und Ronja, die ihn nun ebenfalls entdeckt hatte, tat es mir gleich.
Über die Regenrinne hinweg spähend sah ich, wie Jasper irgendetwas murmelnd auf Gordon zu und an ihm vorbei schlurfte.
„Was?“, fragte Gordon leicht irritiert. Jaspers leise Antwort war zwar wieder nicht zu verstehen, doch Gordon wirkte darauf leicht erstaunt, wandte sich Ronjas Haus zu, und machte sich daran auf einen Baum zu klettern. Schläfrig, wie ich war, bemerkte ich erst reichlich spät, dass er denselben Baum erklomm, den wir gestern Nacht genommen hatten – höchst wahrscheinlich wollte er aufs Dach. Als ich mich umdrehte und losrannte, hatte Ronja bereits ein gutes Stück zwischen uns gebracht. Fluchend stolperte ich hinter ihr her, registrierte anfangs gar nicht, wie laut wir eigentlich waren. Erst als ich am Rand des Daches abbremste, meine Hand auf den schmerzenden Kopf gepresst, hallten unsere Schritte laut in meinem Kopf wider.
„Spring schon!“, rief Ronja von unten hoch. Hier war auch das Schlafzimmerfenster. Hier waren wir diese Nacht, dachte ich mir, wusste selbst nicht wieso, doch ich ging davon aus, dass mein Gehirn langsam anfing, komische Sachen zu denken.
„Los!“ Ronja hüpfte wild auf und ab, winkte mit den Armen und stand anscheinend kurz davor, durchzudrehen. Ohne nachzudenken, sprang ich, fühlte, dachte nichts mehr, hörte auch nicht, wie Gordon mit einem Satz auf dem Dach landete.
Der Aufprall ließ mich wieder zu mir kommen, und mit einem gedämpften „Autsch!“ landete ich auf dem weichen Laub. Kaum dass ich wieder auf den Füßen war, rannten wir los, über Gartenzäune, durch schmale Gassen, und ab in den nächsten Garten. Für eine kurze Zeit war es, als hätte es all die schlaflosen Nächte nie gegeben, für eine kurze Zeit waren wir unterwegs wie an unseren Besten Tagen, doch schon nach wenigen Gärten fühlte ich mich so ausgelaugt, als wäre ich Stunden gerannt, und selbst Ronja, die sonst sogar mich abhetzte, schleppte sich gerade noch bis zur nächsten Hecke, dann brach auch sie im Schutze der Zweige zusammen.
Zusammengerollt lag ich neben einem Baum, doch er bot mir kaum Schutz, selbst von der Straße aus konnte man mich bemerkten, wenn man genau hinsah. Aber ich konnte nicht mehr weiter. Ich konnte einfach nicht mehr. Jetzt haben sie uns!, dachte ich verzweifelt. Wir sind geliefert, bald ist Gordon hier, mit aller Verstärkung, dann können wir nur noch hoffen, dass wir nicht allzusehr stinken.
Ja, ich wartete nur darauf, dass man uns fand, und so kam es mir so unwirklich vor, als Ramon, ohne uns zu sehen, die Straße entlang schlenderte, dass ich mich später fragte, ob das wirklich geschehen war.
Doch schließlich standen wir vor einem ganz anderen Problem, als vor irgendwelchen Jungen, die wie wild versuchten, und zu erwischen – wir standen vor dem Mc Donald's, halb wahnsinnig von dem köstlichen Geruch nach Essen, der in unsere Nasen stieg, dass zumindest ich kurz daran dachte, einfach mal etwas mitgehen zu lassen. Doch Ronja verbot uns sogar, etwas von den Probierhäppchen zu essen, über die ich beinahe hergefallen wäre. Wenn man erst mal etwas gegessen habe, wäre es nur noch schlimmer, meinte sie, und fügte mit fachmännischer Miene hinzu: „Mit leerem Magen ist es leichter zu fasten.“ In diesem Moment wollte ich ihr eigentlich kein Wort glauben, doch sie schleifte mich unbarmherzig zu den Wasserhähnen, und kaum, dass wir bestimmt einen Liter hinuntergewürgt hatten, machten wir uns auch schon wieder aus dem Staub, aus Angst, jemand von Nus Bande könne uns entdecken.
An diesem Tag konnten wir nie lange an einem Ort bleiben. Joscha, der ständig Ausschau in den Gärten nach uns hielt, war noch fleißiger als seine Kollegen, und hatte zudem die Angewohnheit, laut zu pfeifen, wenn er des Weges kam, sodass wir immer aufschreckten, und das Weite suchen konnten, bevor er uns entdeckte. Auf eine merkwürdige Art und Weise hatte ich das Gefühl, dass er genau das damit bezwecken wollte.
Der Nachmittag zog sich wie Kaugummi in die Länge, und irgendwann war ich so fertig mit den Nerven, dass es mich wohl nicht einmal mehr gewundert hätte, wenn es überhaupt nicht Abend geworden wäre.
Doch schließlich kam er, wie jeden Tag, und brachte uns die schützende Dunkelheit, die wir inzwischen auch bitter nötig hatten.
„Wenn das so weiter geht, setzen sie irgendwann noch einmal Ramons Hund auf uns an. Komm mit, vielleicht haben wir ja heute mehr Glück.“ Unter Stöhnen und Ächzen schleppte ich mich hinter Ronja her, und eins war mir inzwischen klar geworden – lange würde ich mich nicht mehr auf den Beinen halten können. Gerade jetzt, wo Weihnachten und damit unser Ziel so nahe lag! Wenn wir es diesmal nicht schafften, hatten sie uns, oder zumindest mich, denn Ronja schien noch nicht ganz so fertig zu sein. Nur selten schwankte sie leicht, als sie mich durch die vielen Gärten führte, und trieb mich immer wieder zur Eile an.
„Ich kann nicht mehr“, ächzte ich leise, als wir im selben Garten wie gestern in Position gingen. „Das schaffe ich nicht mehr, ich kann einfach nicht mehr rennen.“
„Oh doch!“, knurrte Ronja. „Das musst du noch schaffen, nur noch das, dann haben wir es hinter uns.“
„Und wenn ...“
„Diesmal klappt es. Von jetzt an müssen wir nur noch still sein.“
Wie auch am letzten Abend schlurfte Jasper ums Haus, nur dass er diesmal noch ausgelaugter wirkte. Der Arme!, dachte ich mir. Wahrscheinlich muss er jede Nacht Wache halten, nur weil er wohl am ehesten ins Haus gelassen wird, wenn etwas passiert.
Ungeduldig stieß Ronja mich an, und gab mir mit einem Zeichen zu verstehen, dass ich zuerst gehen sollte. Jetzt mach schon!, schienen ihre Augen zu sagen. Innerlich stöhnend ergab ich mich, und wartete auf eine passende Gelegenheit – mit einem ungeschickten Satz bewältigte ich den Zaun und hastete, mit Beinen schwer wie Zementblöcke, auf den Baum zu. Jede Sekunde zog sich quälend in die Länge und hinter mir in den Sträuchern randalierte Ronja, und ich wusste auch warum: Ich war zu langsam, doch meine Beine gehorchten mir nicht mehr so recht, es war, als würde ich durch Morast waten. Ihrem Befehl, mich zu beeilen, konnte ich einfach nicht mehr folgen, es war schon schwer genug, nicht einfach zusammenzuklappen.
Zitternd vor Schwäche und Sorge presste ich mich an den Stamm, diesmal war es mir nicht einmal mehr gelungen, zwei Meter hochzuklettern, und lauschte von stiller Panik ergriffen Jaspers schnellen Schritten, die viel zu zügig näher kamen. Er hatte etwas gehört, kein Zweifel.
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie er sich ständig umsah, und mit leicht angespanntem Gesicht direkt auf den Baum zuhielt. Mit Sicherheit hatte man ihm von dem Vorfall gestern erzählt, ihm berichtet, dass wir zwei es geschafft hatten, ohne erwischt zu werden, auf’s Dach zu kommen. Besonders heldenhaft war es ja nicht, uns beide so ungehindert durchzulassen. Ich brachte nicht einmal mehr ein schadenfrohes Grinsen zustande, so mies ging es mir. Inzwischen zitterte ich heftig, ganz gewiss nicht nur aus Kälte, und verkrampfte meine Hände, umso näher Jasper kam. Für kurze Zeit verschwand er aus meinem Blickfeld, dann stand er plötzlich keine drei Schritte neben mir, blickte sich um, und ehe ich mich wegducken konnte, erfasste sein Blick mich, nur ganz kurz.
In dem Moment nahm ich eine Bewegung aus Ronjas Richtung wahr, dann, keine Zwei Sekunden später, landete irgendetwas in der Nähe der Straße. Und noch bevor ich irgendetwas begreifen konnte, war Jasper bereits losgeschossen, dem neuen Geräusch folgend. Er hat mich nicht gesehen, dachte ich erstaunt. Meine Güte, ich dachte, ich hätte es endlich hinter mir …
Ärgerlich über mich selbst versuchte ich, diesen Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen. Noch besteht Hoffnung und schließlich ist Übermorgen Weihnachten, dann haben wir gewonnen!, dachte ich mir, als ich den Baum hinaufkletterte, Ronja dicht an meiner Seite.
„Schnell, bevor er Verstärkung holt!“, wisperte sie, schlüpfte aus ihren Schuhen, und rannte los. Ich hingegen sackte unter heftigem Keuchen auf dem Dach zusammen, und warf Jasper noch einen flüchtigen Blick zu, bevor ich mich aufrappelte, und meiner eifrig davoneilenden Gefährtin folgte.
Wir mussten nicht lange warten, bis sich das Fenster öffnete, leider nur gekippt, aber immerhin, es war offen. Ronja lächelte zufrieden, und ging zu Schritt zwei über. Nein!, dachte ich. Nicht auch noch das! Doch ein warnender Blick von Ronja genügte, um mich gefügig zu machen. Das ist purer Wahnsinn!, dachte ich verzweifelt, als ich beobachtete, wie Ronja sich ihren Pullover auszog und mit grimmig entschlossener Miene seine Reißfestigkeit überprüfte.
„Hier“, sagte sie stumm, und drückte mir den einen Ärmel in die Hand. „Halt dich gut fest.“ Ich nickte zum Zeichen, dass ich verstanden hatte, und klemmte mich hinter die Regenrinne. Sie knackte leicht – sofort stellten sich alle Haare zu Berge, und ein eisiger Schauer jagte mir über den Rücken. Nein!, dachte ich, und klammerte mich geduckt ans Dach. Nein!
Wahrscheinlich war mir ziemlich deutlich anzusehen gewesen, was ich gedacht hatte, denn Ronja warf mir einen missmutigen Blick zu, und flüsterte beinahe lautlos: „Ich hänge doch nur ganz kurz an den Pullovern, und schwups stehe ich auf dem Fensterbrett, dann musst du fast gar nichts mehr halten.“ Bei ihr klang das so einfach, dass ich fast daran geglaubt hätte.
„Das ist unsere letzte Chance!“, raunte sie dramatisch, und pirschte zum Rand des Daches. Nun gut, dachte ich mir. Es ist wirklich unsere letzte Chance, also los.
Flach presste ich mich aufs Dach, die Füße gegen die Regenrinne gestemmt, die Ärmel fest in beiden Händen.
Besorgt beobachtete ich, wie Ronja sich vorerst an die Regenrinne hängte, und langsam einen Fuß über den Rand hängte, dann einen zweiten. Wenn Jasper sie jetzt so sieht!, dachte ich grauenerfüllt. Ronja verschwand mehr und mehr aus meinem Blickfeld, schon bald sah ich nur noch den Kopf, der langsam tiefer sank, und ... knack. Wohl vor Schreck ließ Ronja das Dach los, riss mit einem Ruck an den Pullovern, ich wurde zum Rand des Daches geschleudert, und konnte mich gerade noch an der Regenrinne stoppen. Halb unter mir klaffte der Abgrund, mit Kopf voran hing ich vom Dach.
„Ria, lass jetzt ja nicht los!“, wisperte Ronja entsetzt, und krallte sich mit aller Kraft an der Kante des Fensters fest, an dem sie hing. Das Fensterbrett, auf dem sie eigentlich hatte landen wollen, hatte sie verfehlt. Dunkel wurde mir bewusst, dass Ronja sich wohl nicht lange halten würde, und dann wäre es aus mit mir. Zu allem Überfluss bog auch noch Jasper mit Verstärkung um die Ecke.
„Ria, das Fenster ...“, begann Ronja leise. Panisch versuchte ich, zurück aufs Dach zu rutschen, als mich schrecklicher Schwindel überkam.
„Ria!“, schrie Ronja entsetzt auf, als sie bei dem Versuch, mir zu helfen endgültig abrutschte. Mit einem Ruck wurde ich über den Dachrand geschleudert, und fiel mit einem verzweifelten Schrei dem Erdboden entgegen.
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