Kapitel 23
Ausgeruht und fit, wie ich nun wieder war, kletterte ich über die Hecke zurück auf die Straße, hielt noch einmal überflüssigerweise Ausschau nach Jasper, dann machte ich mich auf den Weg zu Theas Haus, nicht ohne auf dem Weg um jede Ecke gespäht zu haben.
Auf den ersten Blick lag Theas Haus ruhig und friedlich da. Nichts rührte sich, aber das war auch kein Wunder – ihre Eltern waren zu dieser Zeit noch nicht zu Hause. Mit Glück stimmt meine Vermutung ja gar nicht, und Joscha, Gordon und Nu waren gerade gar nicht dabei, unsere Häuser nach der Kette zu durchsuchen. Doch was sollten sie sonst machen? Ich musste auf der Hut sein, soviel stand fest.
Unauffällig ließ ich den Blick schweifen, doch bis auf ein Auto, das vorbei fuhr, war hier niemand unterwegs. Beste Bedingungen, um kein Aufsehen zu erregen, Nachbarn wurden nämlich manchmal recht misstrauisch, wenn man einfach auf ein fremdes Grundstück ging, und dort einen Schlüssel unter der Fußmatte hervorkramte. Da hielten die einen ja alle für einen Einbrecher. Nein, besser, es sah mich niemand.
Mir war leicht mulmig zumute, als ich die Fußmatte hochhob – doch da war kein Schlüssel! Entsetzt riss ich die Augen auf. Wie sollte ich nun ins Haus kommen? Verflucht, warum hatten Theas Eltern den Schlüssel gerade heute nicht hier liegen? Oder ... hatte jemand anderes ihn bereits weggenommen? Was, wenn die Jungen schon längst drinnen waren? Oder wenn sie die Kette schon gefunden ...
„Nein!“, fluchte ich leise. „Das kann nicht sein! Warum gehen sie ausgerechnet zu Theas Haus?“ Nun, sagten meine Gedanken. Vielleicht waren sie ja schon bei deinem Haus, und Thea ist nun mal die Person, der du die Kette am ehesten geben würdest.
Ja, ich musste zugeben, die Jungen waren nicht gerade dumm, auch wenn das vieles erleichtert hätte.
Grummelnd umrundete ich das Haus und hielt dabei nach offenen Fenstern Ausschau. Wie ähnlich ich diesen beiden Gruppen schon geworden war ... immer öfter versuchte ich durch Fenster in ein Haus zu gelangen, ich nahm an diesen verrückten Kämpfen teil, und ich stand kurz davor, so zu enden wie diese Zicken ... Schnell verwarf ich diesen Gedanken wieder. Schließlich schleimte ich Nu nicht hinterher, nein, niemals!
Mit verschränkten Armen lief ich weiter, und zuckte plötzlich zusammen. Aus den Augenwinkeln hatte ich eine Bewegung wahrgenommen. Doch da war niemand am Gartentor, niemand schlich sich durch die Gärten, die Straße war leer ...
Kopfschüttelnd drehte ich mich um, und wollte schon weitergehen, als ich wieder eine Bewegung wahrnahm. Dort, im zweiten Stock lief anscheinend jemand herum. Ich runzelte die Stirn und warf noch einen Blick durch das Fenster. Nein, nicht durch das Fenster, denn das war ja offen. Verflucht, das hatte ich gar nicht gesehen. Wie dumm von mir!
Moment mal ..., dachte ich mir. Ist das nicht Theas Zimmer?
Entgeistert starrte ich wieder hoch, und erneut sah ich eine Bewegung. Schnell duckte ich mich.
„Das wird wohl kaum Thea sein!“, murmelte ich finster. „Dringend zeit, dass ich eingreife!“ Eilig huschte ich zu der Birke und kletterte noch schneller herauf, als ich es heute Morgen getan hatte. Kein halber Tag war seitdem vergangen, doch es kam mir ewig lang vor. Nur noch schwach konnte ich mich an alles erinnern, und ich fragte mich schon, ob ich mir ernsthafte Gedanken um meine Merkfähigkeit machen sollte, als ich vor Schreck fast rücklinks vom Baum gefallen wäre. Nu war ans Fenster getreten, und ließ seinen Blick in weite Ferne schweifen. Mit immer noch stark pochendem Herzen lehnte ich mich so an den Stamm, dass er mich nicht sehen konnte. Nun hatte ich freien Blick in das Wohnzimmer der Nachbarn ... hoffentlich würden die nicht auf die Idee kommen, rauszuschauen, nicht jetzt!
„Verflucht, wir werden wohl nicht alle Häuser so leicht durchsuchen können!“, hörte ich Nu sagen. „Und wenn sie die Kette nicht in ihren Zimmern aufbewahren, können wir das Ganze eh vergessen. Es ist zum Verrückt werden!“ Da drang ein leises piepen aus Theas Zimmer.
Seufzend fragte Nu: „Und Joscha, hast du was?“
„Ja!“, hörte ich Joschas entnervte Stimme. „'nen Nagel an ihrem Bett! Verflucht noch mal, das macht mich wahnsinnig!“ Verwirrt runzelte ich die Stirn. Was zum Teufel trieben die da?
„He, weißt du, was ich merkwürdig finde?“, fragte da Gordon.
„Du erzählst es mir bestimmt gleich“, antwortete Nu resigniert.
„He, jetzt stell dich mal nicht so an! Aber fandest du nicht auch, dass Rias Haus irgendwie so ... unbewohnt wirkte?“
„Nun, man muss zugeben, dass es recht einfach war, Rias Zimmer zu finden ... Der einzige Raum, der nicht von einer Staubschicht bedeckt war. Ihre Eltern scheinen nicht oft sauber zu machen.“ Da hat er recht, dachte ich mir. Ich hatte in den letzten Wochen wirklich wenig Zeit, um zu putzen. Aber das mit dem Staub war mir gar nicht aufgefallen ...
„Steht mal nicht so am Fenster rum, ich habe was Interessantes gefunden. Ist voller Gerümpel, die Kiste, könnte ja sein, dass die Kette dabei ist.“ Oh nein!, dachte ich verzweifelt. Jetzt haben sie Theas Gerümpelkiste gefunden! Mir blieb keine Zeit mehr, gleich hatten sie die Kette. Hastig kletterte ich den Ast, der mich am weitesten auf Theas Fenster zu brachte, entlang und erhaschte einen kurzen Blick auf die Drei, wie sie sich über die besagte Gerümpelkiste gebeugt hatten. Auf dem Bett lag ein Stab, der verdächtig nach einem Metalldetektor aussah. Wo sie den wohl herhatten? Ich ging in die Knie, verharrte noch einen kurzen Moment, und sprang dann ab, mit dem Ziel, in Theas Zimmer zu landen, doch ich rutschte mit einem Fuß aus und stürzte viel zu weit rechts von Theas Fenster hinab. Unmöglich es zu erreichen, und anstatt schräg nach unten auf das offene Fenster zuzufallen, segelte ich nun genau auf ein geschlossenes zu. Das würde schmerzhaft werden, da bestand kein Zweifel. Und dann würde ich mich wohl kaum festhalten können ... zweiter Stock, steil abfallender Rasen, das sah gar nicht gut für mich aus. Doch ich hatte eh keine Zeit, mir lange Gedanken über das Kommende zu machen, denn schon knallte ich mit einer Wucht gegen das Fenster, dass es ein Wunder war, das dieses nicht zerbrach. Mit einem Aufschrei schrammte ich an der Fensterbank vorbei, und schaffte es gerade noch, mich mit einer Hand festzuklammern. Der Ruck, mit dem mein Körper bremste, hätte mir fast die Finger gelöst, und gerade noch konnte ich einen weiteren Aufschrei unterdrücken. Besser, die Drei kriegen nicht mit, dass ich hier bin, dachte ich schwach, und kämpfte weiter gegen den Schmerz an. Lange würde ich mich nicht mehr hier halten können, und dann adieu. Ich konnte nur hoffen, dass ich mir nichts brach.
„Hier, nimm meine Hand Ria!“, hörte ich eine Stimme über mir. Sie haben mich entdeckt!, durchfuhr es mich. Vor Schreck löste sich endgültig mein Griff, und ich stürzte in die Tiefe.
Den Schmerz vergessen, das war alles, was ich im Moment wollte, fast hatte ich das Gefühl, ich müsse in Ohnmacht fallen.
„Los, hinterher!“, rief Gordon. Seine Stimme klang verdächtig leise in meinen Ohren, zumal die Wucht des Aufpralls mir fast vollständig die Sinne raubte. Für einen kurzen Moment spürte ich nichts, dann bekam ich wieder mit, dass ich den Abhang halb hinunterrollte, halb schlitterte. Und dann blieb ich endlich liegen.
„He, Ria, lebst du noch?“
„Dumme Frage, natürlich lebst sie noch, so hoch war das jetzt auch wieder nicht!“
„Moment mal, warum ist sie eigentlich überhaupt gegen das Fenster gesprungen?“
„Ich nehme an, die wollte gar nicht gegen das Fenster springen. Höchst wahrscheinlich hat sie versucht, in Theas Zimmer zu gelangen.“
„Da ist wohl noch ein wenig Übung erforderlich!“
„Nun, sieht auf jeden Fall übel für sie aus.“
„In der Tat. Pech für sie, Glück für uns. Ich schätze, wir können sie hervorragend als Druckmittel benutzen, besonders, wenn die Anderen erfahren, in welchem Zustand sie sich befindet!“ Fieslinge!, dachte ich ärgerlich. Das würde euch so passen!
„Ja, aber wir brauchen sie Lebend! Ich geh mal, und suche nach einem Arzneikoffer.“ Schritte entfernten sich. Nur noch zwei!, dachte ich mir gerade triumphierend, als mir einfiel, dass ich in meinem Zustand wohl auch gegen einen kaum etwas hätte ausrichten können. Eine Weile herrschte Schweigen.
„Besser, wir schauen uns sie mal an, nicht dass sie was Ernsthaftes hat“, meinte Nu schließlich. Na also, mein Bewusstsein kehrte also langsam endgültig zurück.
„Hm, OK, aber wir sollten vorsichtig sein, sie sieht wirklich nicht gut aus!“, meinte Gordon. Was würde ich nur für einen Spiegel tun!, dachte ich, und versuchte, ein Auge zu öffnen, doch es wollte nicht glücken.
„Komm, hilf mir mal sie umzudrehen“, sagte Nu, und schon spürte ich, wie ich auf den Rücken gedreht wurde. Instinktiv wollte ich mich wehren, doch ich brachte nur ein leichtes Zucken zustande.
„He, sie hat sich bewegt!“, stellte Gordon fest. „Scheint nicht ohnmächtig zu sein.“
„Halt sie fest, wenn sie sich zu stark bewegt!“, ordnete Nu einfach an, und begann meinen linken Arm in alle Richtungen zu bewegen. Sein Griff brannte höllisch.
„Nu, pass auf, da hat sie sich den Arm aufgeschrammt!“, bemerkte Gordon.
„Oh, ja.“ Ich spürte, wie Nu meinen Arm schnell woanders anfasste, und auch der Schmerz nahm dadurch ein bisschen ab.
„Hier scheint alles in Ordnung zu sein.“ Nu stand auf, und ging einmal um mich herum.
In Ordnung?; dachte ich mir ärgerlich. Er brennt wie Feuer, aber ja, es ist alles in Ordnung mit ihm!
„He, Nu, sie dir mal diesen Fuß an!“, rief Gordon da, in seiner Stimme schwang leichte Panik mit. Mein Fuß?, was ist mit meinem Fuß?, fragte ich mich, nun langsam auch von Panik ergriffen.
„Stimmt, er steht in einem leicht merkwürdigen Winkel ab.“ Nu klang besorgt. Argh, was sollte denn das bedeuten?
„Warte, das habe ich gleich!“, murmelte Nu, und ich spürte, wie sich eine Hand um mein Bein schloss, die andere ergriff meinen Fuß, und dann ... knack. Ein jäher Schmerz durchzuckte mich, und ich stöhnte leise auf.
„Ähm, Nu, bist du dir auch ganz sicher, dass das, was du da machst, auch das Richtige ist?“, wollte Gordon besorgt wissen. Nu schnaubte ärgerlich.
„Ich hab ja nur gefragt!“, rief Gordon abwehrend. Und dann ganz erleichtert: „He, sieh mal, da kommt Joscha!“
„Da bist du ja wieder. Reich mir mal den Koffer rüber ... hm, mal sehen ... was haben wir denn hier?“, hörte ich Nu murmeln.
Vor meinem inneren Auge nahm ein riesiger Arztkoffer mit gewaltigen Spritzen, langen, spitzen Messern, riesigen, entsetzlich klebrigen Pflastern und lauter kleinen Fläschchen mit höchst gefährlichen Medikamenten Gestalt an.
„Kommt es mir nur so vor, oder ist sie plötzlich furchtbar bleich geworden?“, fragte Gordon belustigt.
„Hilfe“, ächzte ich leise und öffnete die Augen einen Spalt. Nus Mund verzog sich zu einem amüsierten Lächeln. Ergeben seufzend schloss ich meine Augen wieder.
„Oh, da haben wir doch was!“, hörte ich Nu fröhlich sagen. Vor Schreck kniff ich meine Augen noch fester zu.
Plötzlich spürte ich, wie etwas Kaltes und Nasses auf meinen Arm tropfte. Es brannte wie Feuer, und ehe ich reagieren konnte, war mein anderer Arm in die Höhe geschossen, und umklammerte etwas. Höchst wahrscheinlich den Verursacher dieser Schmerzen, denn das Tropfen hörte schlagartig auf.
„Ria, lass meinen Hals los!“, röchelte Nu. In meinem Hirn ging eine Verknüpfung vor: Umklammern des Halses = Aufhören der Schmerzen. Schnell drückte ich noch etwas fester zu.
„Ria!“, würgte Nu, und ließ etwas fallen. Dann packte er blitzschnell mit beiden Händen meinen Arm, versuchte, ihn mit aller Kraft wegzuziehen.
Keuchend versuchte ich mich aufzurichten, doch Joscha war sofort zur Stelle und drückte mich wieder ins Gras. Eine Welle von Schmerzen durchflutete mich und verebbte so plötzlich, wie sie gekommen war. Endlich gelang es Nu, meinen Griff zu lösen, und mein Arm sackte langsam zurück.
„So, von nun an hält jeder von euch einen Arm fest, während ich sie weiter verarzte! Das ist hier ja lebensgefährlich!“, fluchte Nu. Ich wollte schon protestieren, doch da hatten die beiden mich schon gepackt, und Nu fuhr fort, mir die Flüssigkeit auf den Arm zu tropfen.
Als ich es aufgegeben hatte, mich zu wehren, verarzteten mich alle drei, damit es schneller ging. Gordon war gerade dabei eine Schürfwunde auf meiner Stirn mit einer verdammt kalten Salbe einzureiben, und ich überlegte fieberhaft, ob es sich lohnen würde, ihm einen ordentlichen Nasenstüber zu verpassen, als ich leises Fußgetrappel hörte.
„Ich weiß genau, was du vorhast, also versuche es erst gar nicht!“, warnte mich Gordon, wobei er mir einen bedrohlichen Blick zuwarf. Seufzend gab ich mein Vorhaben auf, und sah Nu dabei zu, wie er mein Knie verarztete. Inzwischen waren die Schritte lauter geworden, und auch die drei Anderen hatten sie bemerkt.
„He, was ist das?“, fragte Joscha misstrauisch.
„Keine Ahnung, aber es kommt schnell näher“, meinte Gordon besorgt, während Nu einen misstrauischen Blick in Richtung Gartentor warf. Prompt flog dasselbe auf, und Ilona stürmte, gefolgt von den anderen Mädchen in den Garten. Harold und die restlichen Jungen waren ihnen dicht auf den Fersen.
„Was wollen die denn alle hier?“, fragte Joscha erstaunt.
„Keine Ahnung“, bemerkte Gordon. „Kommt mir aber sehr verdächtig vor.“
„In der Tat. Besser wir schaffen Ria gleich zum Haus, bevor man sie entdeckt. Gordon, übernimmst du das? Joscha, komm, wir helfen den Anderen.“ Ohne zu antworten, beugte Gordon sich über mich, doch ich ließ mich nicht einfach hoch heben, und versuchte, mich trotz meiner Schmerzen zu wehren.
„Verdammt, wenn sie sich weiter so wehrt, beißt sie mir noch einen Finger ab!“, fluchte Gordon. „Wie soll ich sie da bloß zu unserem Haus schleppen?“
Langsam drehte sich Nu wieder um, und kam betont lässig auf mich zugeschlendert. Besorgt ließ ich von Gordons Fingern ab, und wandte mich der Gestalt zu, die nun neben mir in die Knie ging.
„Du hast es ja nicht anders gewollt“, raunte er mir zu, dann umschlossen mich seine Arme, und langsam wurde ich hochgehoben.
„Meine Güte, was hast du denn heute zum Frühstück gegessen?“, durchbrach Nu die romantische Stille.
„Keine frechen Bemerkungen, ja?“, raunzte ich zurück, und verschluckte mich fast, als Nu sich bedrohlich schwankend in Bewegung setzte.
„Ich geh dann mal!“, sagte Gordon etwas zu laut.
„He!“, schimpfte Nu.
„Argh!“, schrie ich, bevor Nu mit mir gegen einen Baum prallte, und taumelnd zusammenbrach.
„He Gordon, hilf mir mal!“, fluchte Nu. „He, Gordon, wo steckst du?!“ Schwankend und fluchend kam Nu wieder auf die Beine und bewegte sich unsicher auf den Zaun zu. Ich fragte mich schon verzweifelt, wie er da bloß mit mir drüber kommen wollte, als er mich auch schon über den Zaun hinweg hob, und mich vorsichtig auf der anderen Seite herunter ließ. Dann sprang er hinterher und nahm mich erneut hoch.
„Könntest du mir einen kleinen Gefallen tun?“, fragte Nu. „Nur, damit ich dich besser tragen kann.“
„Das heißt also, ich soll dir dabei helfen, mich zu entführen?“
„Jepp“, antwortete Nu gelassen und rollte demonstrativ mit den Augen. „Leg einfach deine Arme um meinen Hals.“
„Was?!“, kreischte ich.
„Schscht!“, zischte er leicht verärgert zurück. „Jetzt mach schon!“, stöhnte er, als ich ihn weiterhin aus großen Augen entgeistert anstarrte. Zögernd kam ich seiner Aufforderung nach.
Als ich wieder aufwachte, konnte ich mich zuerst an nichts erinnern, und es kam mir äußerst merkwürdig vor, dass ich irgendwie ... zu schwanken schien. Vorsichtig öffnete ich ein Auge und erschrak fürchterlich, als ich geradewegs in Nus Gesicht blickte. Sofort riss ich meine Hand hoch, um mich zu wehren, doch mit einem schmerzerfüllten Stöhnen ließ ich sie wieder auf Nus Schulter sinken.
„Was hast du mit mir gemacht?“, jammerte ich, und sah ihn vorwurfsvoll an.
„Ich?!“, fragte Nu entgeistert zurück. Langsam dämmerte mir etwas.
„Oh“, murmelte ich, und schloss die Augen wieder.
Als ich erneut aufwachte, lag ich auf einer alten Matratze, Arme und Beine waren mit weißen Bandagen umwickelt.
„Na toll, ich sehe aus wie eine Mumie!“, brummte ich halblaut vor mich hin, und nahm den Raum näher in Augenschein. Er wirkte irgendwie verwahrlost, wie er so mit kahlen Wänden und alten Matratzen dalag.
Eigentlich ganz gemütlich hier!, dachte ich mir hämisch, und entspannte mich. Nur ein paar Möbel wären nicht schlecht, dann würde alles nicht ganz so leer wirken! Ich genoss die Stille gerade in vollen Zügen, als plötzlich lautes Rumpeln dieselbe durchbrach. Im nächsten Moment flog auch schon die Eingangstür auf, und Ramon, gefolgt von den anderen Jungen erschien.
„Ungefesselt?“, hörte ich Harold empört kreischen.
„Hör mal!“ Nu trat aus einem Nebenzimmer hervor. „Wenn sie auch nur in der Lage ist, sich von alleine aufzurichten, fresse ich einen Besen!“
Eifrig versuchte ich, ein schadenfrohes Grinsen auf dem Gesicht, mich sofort aufzurichten. Doch als ich Nus warnenden Blick auffing, ließ ich mich schnell wieder zurücksinken.
„Zeit für eine Tasse Tee und ein paar Kekse“, schlug Tristan gemein lächelnd vor.
„Prima Idee!“, sagte ich begeistert, und wollte mich schon aufrichten, als Harold an mir vorbei rauschte, und mich mit einem Stoß zurück auf die Matte beförderte.
Später, als die Jungen wieder an mir vorbeikamen, um nach draußen zu gehen, strafte ich sie mit grässlich empörten Blicken.
Da blieb Harold stehen, und drehte sich wieder zu mir um.
„Kekse sind ganz, ganz schlecht für Kranke, schwer verletzte Leute“, erklärte er mir mit ernster Miene. „Aber Moment mal: Da wir unserer Gefangenen ja nichts Gutes tun wollen ... He, wo ist die Keksdose?“ Er verschwand nochmal zurück, und kehrte mit einer Keksdose in der Hand zurück.
Fröhlich streckte ich meine Hände nach der Dose aus, doch Harold zog sie wieder weg.
„Nichts da, nicht die ganze Dose!“, schimpfte er. „Die brauchen wir noch, und Metall liegt fürchterlich schwer im Magen!“ Finster sah ich ihn an.
„Nun gib ihr doch einen Keks!“, beschwichtigte Joscha Harold. Zögerlich gab er mir einen. Ich überlegte mir gerade, ob ich mir den Keks nicht aufheben sollte – schließlich könnte das das Letzte sein, was ich in den nächsten Tagen zu Essen bekommen würde, doch ich entschied mich anders, verputze ihn schnell, und streckte die Hand nach einem neuen aus.
„He!“, schimpfte Harold. „Sie frisst uns noch alle Kekse auf!“
„Frechheit!“, fluchte ich. „Ich hatte erst einen Einzigen!“
„Harold, jetzt sei doch nicht so knickerig!“ Brummend rückte Harold einen weiteren heraus, den ich gierig verschlang. Dann fuhr ich meine Hand nach noch einem aus.
„Was habe ich euch gesagt?“, rief Harold. „Alle Haare frisst sie uns vom Kopf, jawohl!“
„Weißt du, wie viele Kekse du gegessen hast?“, zischte Ramon Harold zu. Muffelnd legte der noch ein paar Kekse neben mich, brachte die Dose zurück, und verschwand mit dem Ruf: „Ich hab's euch ja gesagt; Sie wird uns noch alle Haare vom Kopf fressen!“, mit den anderen nach draußen.
Jasper und Tristan blieben zu meiner Bewachung zurück, doch sie störten mich kein bisschen.
Ich lag noch eine Zeit lang wach, und fragte mich, was Ronja und ihre Gruppe jetzt machten, und ob sie die Kette nun an einem sicheren Ort verwahrten.
Die nächsten Tage verschlief ich fast vollkommen, nur selten rührte ich etwas von dem Essen, das neben mir stand, an.
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