5 - Turtle Talk
✦ MARIANA ✦
Die Forschungshütte steht zwischen dem Speisesaal und dem Tauchshop, genau dort, wo die letzten Palmen aus dem Boden ragen, ehe sich der helle Strand davor ins Meer erstreckt. Ich laufe die vier Treppenstufen hoch und trete in den Raum.
Hier befinden sich alle Forschungsunterlagen der letzten fünfzehn Jahre, die Bob, mein Vater und ich seit dem Start des Konservierungsprojektes für Schildkröten und Korallen erfasst und penibel dokumentiert haben.
Es ist mein Rückzugsort.
Obwohl ich meine Unterlagen oft im Tauchshop auf dem Schreibtisch ausbreite, komme ich immer wieder gerne in die Forschungshütte, um im Archiv zu graben, alte Fotos anzuschauen oder vergangene Daten zu studieren.
Die wissenschaftliche Arbeit am Ozean wurde mir durch meinen Vater in die Wiege gelegt. Er war Meeresbiologe und nahm mich schon, seit ich denken kann, auf seine Tauchgänge mit. Als Tochter eines solchen Wissenschaftlers verliebt man sich auf ganz natürliche Weise in die Welt, welche das Meer zu bieten hat.
Auch wenn mein Vater selbst nicht mehr hier sein kann, führe ich sein wissenschaftliches Erbe weiter.
Die Hütte ist – wie alle öffentlich zugänglichen Gebäude in diesem Resort – zum Strand offen gebaut. Über eine Treppe gelangt man in den holzverkleideten Raum. An einer Wand wurde ein riesiges Regal aufgebaut, das bis zur Decke reicht und aus allen Balken zu platzen scheint. Hier lagern alle Daten zu den Schildkröten und den Korallen, die mein Vater und ich über die Zeit gesammelt haben.
An der freien Wand auf der anderen Seite des Raumes hängen versteinerte Relikte und Fossile. In der Mitte thront ein altes Haifischgebiss, das einst hier an den Strand gespült wurde.
Es ist dunkel. Das immer schwächer werdende Licht von draussen gelangt nur über den offenen Türrahmen ins Innere. Ich werfe mich in den Holzstuhl, der in der Ecke steht und ziehe einen Ordner aus dem Jahre 2014 aus dem Regal.
Das ist mein Lieblingsordner, denn in dem Jahr gab es besonders viele Hawksbill Schildkröten, die am Strand ihre Eier legten. Ein seltenes Phänomen, das man sich bis heute nicht erklären kann. Offenbar war es einfach ein gutes Jahr.
Die Hawksbill ist meine Lieblingsschildkröte.
Sie ist die Schönste von allen und in dieser Region besonders gefährdet. Aufgrund ihres Fleisches, ihrer Eier und ihres schönen Schildpatts werden Karettschildkröten intensiv bejagt. Ihre Panzer haben auf dem Schwarzmarkt einen extrem hohen Wert. In den letzten hundert Jahren ist die Population dieser schönen Schildkröte um achtzig Prozent zurückgegangen und seit geraumer Zeit steht sie auf der Liste der bedrohten Tierarten.
In Malaysia findet man diese schönen Tiere nur noch selten. Hier ist besonders die grüne Schildkröte vertreten, welche jedoch genauso gefährdet ist wie ihre Artgenossin.
Beide werden für ihre wertvollen Panzer und ihr Fleisch brutal geschlachtet.
Ich seufze leise, denn diese Fakten machen mein Herz schwer. An manchen Tagen fühle ich mich im Wettlauf gegen die Menschheit so machtlos, dass mich die Verzweiflung packt. Ich würde mein Leben dafür geben, damit diese unschuldigen, eleganten Tiere länger existieren dürften.
Nebst meiner Sorge um das Überleben der Schildkröten kommen nun ausgerechnet auch noch die Korallen dazu. Ich hatte gehofft, dass wir für ein paar weitere Jahre vom Korallensterben verschont bleiben würden.
Doch die Menschen haben es mit der Selbstzerstörung eilig. Es kann ihnen nicht schnell genug gehen.
„Klopf, klopf", reisst mich Alex aus meinen Gedanken.
Er steht am Türrahmen, einen Fuss bereits im Raum, der andere noch auf der obersten Treppenstufe. Das Zögern ist seiner Körperhaltung abzulesen. Mit einem dumpfen Knall klappe ich den Ordner zu und stopfe ihn zurück ins Regal.
„Was willst du?", zicke ich ihn an.
Sein breiter Oberkörper wirft einen langen Schatten in den Raum.
„Findet hier der Turtle Talk statt? Mir wurde gesagt, er sei im Forschungshaus bei dieser schrecklich launischen Schildkröten-Lehrerin."
Sein Grinsen kann ich zwar nicht sehen, denn sein Gesicht liegt im Schatten der Finsternis, doch ich kann es aus seiner Stimme hören. Ich starre auf seine dunkle Silhouette und schnaube verächtlich.
„Wenn du den Grund für meine Laune kennen würdest, hättest du das jetzt nicht gesagt."
Das Licht wird mit einem Klick angemacht. Alex hat den Schalter gefunden. Ganz automatisch führe ich meine Hand an die Stirn, um meiner Regenbogenhaut Schatten zu spenden. Die nackte Glühbirne flackert hell in der Mitte der Decke über uns.
„Ach ja? Ist es denn wegen mir, Zuckerherz?"
Die Holzdielen knarzen, als Alex sein ganzes Gewicht darauf stellt und in den Raum tritt. Ich schnalze mit der Zunge und schüttle den Kopf.
„Bei aller Liebe, Alex. Vielleicht haben dir das deine Eltern nie gesagt, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, dich wie ein Schosshündchen zu verwöhnen, aber die Welt dreht sich nicht nur um dich. Ich habe weitaus grössere Sorgen als deine Ignoranz ... und deinen Hochmut ... und deinen unterschwelligen Sexismus."
Die letzten Worte murmle ich nur noch, doch ich weiss, dass er mich bestimmt gehört hat. Alex lacht trocken auf und stützt die Hände in die Hüfte.
„Ich bin gerade mal zwei Stunden auf der Insel und dich scheint so einiges an mir zu stören. Dabei kennst du mich noch gar nicht!"
„Muss ich nicht. Die ersten drei Minuten haben mir gereicht. Du machst es mir auch wirklich nicht schwer."
Er kommt einen Schritt auf mich zu. „Jetzt aber mal im Ernst. Was ist denn der Grund deiner schlechten Laune?"
Für eine Sekunde zögere ich, denn in seinen Augen schimmert etwas, das wie ehrliche Fürsorge aussieht. Doch ich muss mich täuschen. Sowas passt nicht zu ihm. Den interessiert's bestimmt einen feuchten Dreck, warum ich mies gelaunt bin. Ich winke mit der Hand ab.
„Du würdest es nicht verstehen. Vergiss es einfach, Landratte."
„Landratte? Na danke dafür, Zuckerherz!", stösst er aus und verfällt in einen kurzweiligen Lachanfall. Ich muss über eine grosse Prise Humor besitzen, von der ich gar nichts wusste. Der Kerl lacht ständig.
Schon wieder überkommt mich dieses warme Gefühl in meinem Inneren, wenn ich sein Zwerchfell vibrieren höre. So als wolle mein Körper mit einstimmen. Ich stehe vom Stuhl auf, um dieses hinterhältige Gefühl abzuklemmen, gehe durch den Raum und tue geschäftig.
Seine Anwesenheit in meiner sakralen Forschungsstätte macht mich nervös und ich kann nicht genau einschätzen, warum. Als stünde hier meine Persönlichkeit auf dem Teller präsentiert und er könne mich lesen wie ein offenes Buch. In diesem Gebäude stecken zehn Jahre Arbeit meines Vaters und drei davon von mir. Zwischen all den staubigen Ordnern und Papieren liegt ein Teil meiner Seele, meiner selbst.
Er soll das nicht sehen.
Alex streicht sich mit der Hand übers Kinn.
„Du bestehst vehement darauf, dass ich dich nicht Zuckerherz nennen darf, aber du wiederum sollst mich nach einem ekligen Tier benennen dürfen? Wie bitte ist das fair?"
„Landratten sind nicht eklig", sage ich zur Verteidigung der Nager.
Sie sind zwar potthässlich, aber als ekelerregend würde ich kein Tier dieser Welt bezeichnen. Höchstens die Seegurken. Die sind wirklich nicht schön anzusehen. Ähneln eher einem Stück gesunkenem Kot als einem essbaren Tier. Vielleicht ist Alex ja eine Seegurke.
„Ah, nein?", sagt er und kommt einen Schritt näher.
Die Glühbirne flackert und für einen flüchtigen Augenblick hüllt sich die Dunkelheit um uns, ehe das Licht alles wieder erleuchtet. Merkwürdigerweise beschleicht mich das Gefühl, dass sich Alex in der Finsternis schneller genähert hat. Er wirkt plötzlich so viel grösser.
Oder ist mir das vorher gar nicht aufgefallen, wie massiv er eigentlich ist?
„Nein. Die können sogar süss sein", erwidere ich mit trockenem Mund.
„Tatsächlich? Süss?", spottet er und steht nun direkt vor mir. Ich fühle mich in die Ecke getrieben und weiche zurück. Mit der Bibliothek im Rücken ist das allerdings ein schwieriges Unterfangen.
Den Kopf muss ich in den Nacken legen, um ihm ins Gesicht zu blicken. Der Geruch von seinem Aftershave zieht in meine Nase und kribbelt dort so sehr, dass ich den Instinkt unterdrücken muss, ihn anzuniesen. Bei dem Duft stellen sich meine Nackenhaare auf!
„Naja, also ... die Ratten, meine ich. Natürlich", stammle ich.
Alex streckt die Hand aus. Meine Augen werden gross, denn ich meine, dass er mir damit ins Gesicht fassen möchte. Instinktiv zucke ich zusammen und weiche aus. Als er meinen Fluchtversuch registriert, runzelt er die Stirn, als wäre er erstaunt über die Heftigkeit meiner Reaktion.
Sagen tut er jedoch nichts.
Die Hand, die ich des Grabschens beschuldigt hätte, zieht an mir vorbei und deutet mit dem Zeigefinger auf ein grosses Poster, das hinter mir über einigen Etagen des Regals hängt. Darauf sind alle Schildkrötenarten abgebildet, die es auf diesem Teil der Erde gibt.
„Sind das die Schildkröten, von denen du mir was erzählen wirst?"
Ich nicke und schaue ihm direkt in die hellen Augen.
„Werde ich. Wenn die Landratte denn lernfähig ist."
„Vielleicht ist sie das. Kommt aber auf die Lehrerin drauf an. Wenn die nicht so kratzbürstig wäre, dann —"
„Die ist tiefenentspannt", falle ich ihm ins Wort.
„Wirklich?"
Er lehnt sich mit der Hand ans Regal und beugt sich leicht nach vorne, sodass wir uns noch näher kommen. Eine ganze Faust passt noch zwischen unsere Gesichter. Meine Faust, wenn es sein muss. Ich bleibe standhaft, der wird mich nicht kleinkriegen.
„Kommt mir nicht so vor", flüstert er schon fast. „Ich spüre da so eine gewisse Spannung in der Luft."
Gerade als ich kontern möchte, dass es überhaupt gar nichts in der Luft gibt, ausser dem Geruch von gebratenem Hühnchen aus der Küche nebenan, stampft Chen Lu die Treppen hoch und erlöst mich aus der Zwickmühle.
„Warum sind denn die Stühle noch nicht aufgestellt? Alexander, mach dich mal nützlich!", kommandiert sie in ihrer üblichen Manier herum.
Offenbar hat der Deutsche die kleine Malaysierin schon kennengelernt, als er mit Bob den ganzen Papierkram erledigen musste. Alex dreht sich rasch um und präsentiert mir somit seinen breiten Rücken, hinter dem ich hervorlugen muss. Ich lächle Chen Lu erleichtert zum Gruss zu. Sie kam gerade rechtzeitig, bevor ...
Ja bevor was eigentlich?
Chen Lu taxiert mich und dann analysiert sie die Distanz zwischen Alex und mir. Ihr Ausdruck ist todernst. Da ich diese Frau schon seit meinem zehnten Lebensjahr kenne, nämlich seit damals, als mein Vater mich zum ersten Mal auf die Insel genommen hatte, erkennt mein geübtes Auge, dass jetzt Schluss mit lustig ist.
„Sag mal! Was machst du eigentlich alleine mit Mariana hier in der Hütte?", zetert sie drauf los.
Alex zieht ganz automatisch den Kopf ein und vergrössert den Abstand zwischen unseren Körpern. Die Drohung schwingt in Chen Lus Stimme deutlich mit, das muss selbst der Dilettant gehört haben.
„Nichts! Nichts! Ich bin bloss der erste Turtle Talk Zuhörer!", verteidigt sich Alex und macht einen weiten Bogen um Chen Lu.
Sie stemmt die Fäuste in die Hüfte und macht eine Kopfbewegung in die Ecke, zu den Plastikstühlen, die dort aufgestapelt stehen.
„Aufstellen!", befiehlt sie. „Und lass die Finger von ihr, sonst lernst du den malaysischen Schlagstock kennen."
Damit meint sie ihre berühmt-berüchtigte Holzkelle, mit welcher sie mit Sicherheit bereits das ganze Personal verdroschen hat. Disziplin muss eingebläut werden. So ist das hier.
Alex gehorcht und macht sich an die Arbeit.
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Die Stühle wurden gerade rechtzeitig aufgestellt, denn schon gesellen sich die Touristen von heute Morgen zu mir. Die Australierin, das niederländische Pärchen – diesmal ohne Kind – und der Singapurer.
Und natürlich Alex, der seinen Stuhl ganz vorne platziert hat. Direkt vor mir. Das wenige Licht, welches uns die Glühbirne mitten in der Luft spendet, scheint auf seine blonden, wirren Haare und lassen sie goldfarben aufleuchten. Er lehnt sich zurück, streckt seine langen Beine und blickt mich erwartungsvoll an, die Arme vor der Brust verschränkt.
Da der Raum mit so vielen Personen enger wurde, trennen nur noch wenige Zentimeter meine Füsse von seinen Affenzehen. Er hat die Schuhe ausgezogen und wackelt mit den Zehen.
Ich verziehe mein Gesicht bei dem Anblick zu einer Grimasse und schlage meine Beine übereinander. Dann löse ich den Blick von Alexanders Käsefüssen. Schliesslich habe ich selbst zu so später Stunde noch zu arbeiten.
Ich muss mich konzentrieren.
„Wie ihr bei eurer Zimmerbuchung wahrscheinlich schon erfahren habt, befinden wir uns auf Pulau Perhentian Besar in einem Naturschutzgebiet."
Die Gäste nicken. Nur Alex nicht. Natürlich nicht, denke ich mir. Weiss der überhaupt, dass wir in Malaysia sind?
„Als Bob vor fünfzehn Jahren diesen Strand kaufte, fand er Spuren im Sand, die darauf hinwiesen, dass Schildkröten jedes Jahr aus aller Welt hierher zurückschwimmen, um ihre Eier abzulegen. Derselbe Strand, an dem sie selbst einst geboren wurden. So verläuft der ewige Kreislauf der Schildkröten. Sie schlüpfen, verbringen ihr ganzes Leben im Meer, nur um zur Geburt ihrer eigenen Kinder wieder nach Hause zurückzukehren."
Mein Blick schweift über die Zuhörer, die mir alle wie gebannt an den Lippen hängen.
„Bob wollte diesen Kreislauf mit seinem Bauvorhaben nicht durchbrechen. Aus diesem Grund beschloss er, mit der Unterstützung der kolumbianischen Alianza de Arecifes Coralinos – dem Verein meines Vaters – eine wissenschaftliche Anlage zu erbauen, die sich hauptsächlich der Erforschung von Korallen und dem Schutz der Schildkröten widmet."
Der Singapurer hebt die Hand in die Luft. Für ihn ist es wahrscheinlich nicht ungewöhnlich, zu diesen Uhrzeiten noch zu pauken. Eine Frage brennt ihm auf der Zunge.
„Ja?", sage ich.
„Erforscht ihr also auch die Korallen, die sich direkt vor dem Haus befinden?"
Ich senke den Blick in der Erinnerung an die Zeiten, als mein Vater hier wissenschaftliche Forschung an den Korallen betrieb und wir Monate auf der Insel zusammen mit Bob und Chen Lu verbrachten. Es war eine wundervolle Zeit. Keine Touristen. Keine Tauchkurse. Nur wir und der Wille, die Welt retten zu wollen.
Das waren wunderbare Jahre.
„Mein Vater studierte die Korallen sehr extensiv. Er hat sich vor einiger Zeit allerdings aus gesundheitlichen Gründen zurückziehen müssen. Seither kam die Forschung an den Korallen hier auf der Insel zum Stehen. Jedoch haben wir den Fokus weiterhin auf die Schildkröten gesetzt. Mit der Zeit musste das wissenschaftliche Institut aber in ein profitorientiertes Eco-Resort umgewandelt werden, damit es überhaupt am Leben erhalten werden konnte. So entstand wenig später das Bubbles. Während der Hauptsaison zwischen April und Oktober empfängt das Resort bis zu tausend Gäste pro Jahr. Das ist nicht viel, aber gerade genug, sodass wir uns über Wasser halten können, ohne die Natur und die Umgebung damit zu überlasten."
Ich seufze leise, sodass es kaum jemand hört. Den Teil der Geschichte mag ich nicht, denn mir missfällt es sehr, dass Bob und mein Vater damals diese Entscheidung trafen.
Dass sie sich für den Tourismus und gegen den Naturschutz entschieden.
Im Endeffekt ist es der Versuch einer Symbiose. Eco-Tourismus: Den neugierigen Menschen dieser Welt zu erlauben, ihrer Reiselust nachzugehen, ohne dabei die Natur zu schädigen.
In meinen Augen hat Eco-Tourismus allerdings einen mächtigen Haken. Nämlich reist man dafür ja immer noch mit dem Flugzeug und verschleudert eine Tonne an CO₂ in die Atmosphäre, nur weil man es sich leisten kann, auf die andere Seite der Erde zu reisen, um Tiere vor dem Aussterben zu bewahren.
Der niederländische Mann hebt die Hand und ich nicke zum Zeichen, dass er seine Frage stellen darf.
„Wie viele Eier legt eigentlich so eine Schildkröte?"
Ich lächle, denn es freut mich zu sehen, dass meine Zuhörer wissenshungrig sind. Aus einer kleinen Box, die im Regal steht, pule ich ein tischtennisballgrosses Ei heraus. Ein leeres Ei, das gut erhalten geblieben ist. Ich strecke es in die Luft, damit meine Zuhörer es betrachten können.
„Eine einzige Schildkröte legt rund neunzig solcher Eier", sage ich. „Dafür schaufelt sie ein Loch in den Sand, legt dann all ihre Eier dort ab und vergräbt sie mit ihren Hinterflossen. Nachdem die Schildkröte ihre Eier gelegt hat und sich wieder ins Meer begibt, holen wir die Eier raus und vergraben sie in einer sicheren Zone. Wie ihr draussen wahrscheinlich schon gesehen habt, haben wir einen Teil vom Strand eingezäunt. Das ist die sichere Zone. Dort kommen die Eier hin, bis die Babys nach etwa sechzig Tagen in der Nacht schlüpfen."
„Warum müssen die Eier umgezont werden, wenn sie tief im Boden vergraben sind? Greift ihr damit nicht zu sehr in den Lauf der Natur ein?"
Dieses Mal kam die Frage von Alex und es erstaunt mich nicht, dass er sie mit einem provokanten Ton gestellt hat. Auf seinen markanten Gesichtszügen liegt sie wieder. Die Arroganz.
„Wir greifen nicht in den Lauf der Natur ein, sondern stellen sicher, dass der Kreislauf der Schildkröte nicht zerstört wird", antworte ich höflich lächelnd. „Wenn du dir die Brutzone genau angeschaut hättest, dann wäre dir aufgefallen, dass wir über jedes zugeschüttete Loch runde Netze gespannt haben. Diese schützen die heranwachsenden Schildkröten vor Raubtieren. Ausserdem können wir so auch den Strand besser überwachen. Die Schildkröteneier sind auf dem Schwarzmarkt in Kota Bharu nämlich heiss begehrt. Wertvoll und lecker. So kommt es nicht selten vor, dass sich Plünderer an den Strand wagen. Bis die dann den Zaun erklettert und die Eier ausgegraben haben, haben wir sie erwischt."
„Plünderer kommen hier an den Strand?", hakt er nach und legt dabei den Kopf schief, sodass eine blonde Strähne ihm über die Stirn fällt.
„Ja, aber sehr selten. Meist werden sie von unserer nächtlichen Patrouille, die den Strand täglich auf und ab geht, verscheucht."
„Ist das nicht gefährlich?", will Alex weiter wissen.
Mein Auge zuckt genervt. Die niederländische Mutter neben Alex reibt sich die Oberarme, als ob sie sich plötzlich nicht mehr wohl fühlte. Das ist mir gar nicht recht.
„Nein, das ist nicht gefährlich", antworte ich. „Wie gesagt, die landen meistens eh nicht am Strand, weil sie sehen, dass wir Wache halten."
Alex schürzt seine Lippen und ich muss den Blick von ihm abwenden, weil ich sonst nur wieder Wut verspüre. Warum muss der den anderen Gästen Angst einjagen? Ich versuche, beim eigentlichen Thema zu bleiben: den Schildkröten.
„Nebst dass die Schildkrötenbabys bereits während des Heranreifens im Ei Risiken ausgesetzt sind, kommen noch die Gefahren dazu, denen sie begegnen, nachdem sie geschlüpft sind. Jährlich kommen mehrere Millionen kleiner Schildkröten auf die Welt. Das ist viel, denkt ihr euch sicherlich. Ja, ist es. Doch leider erreicht nur eine von tausend Schildkröten das fortpflanzungsfähige Alter. Alle anderen verenden, weil sie von Seevögeln, Haien oder anderen Meerestieren gefressen werden, oder weil sie am herumschwimmenden Plastik ersticken, von einer Schiffsschraube zerfetzt, oder als Spielzeug von Touristen zu Tode gequält werden."
Eine unangenehme Stille legt sich über die Zuhörer. Selbst Alex wirkt etwas betroffen von meiner Schilderung. Dabei ist das noch gar nichts, was diese armen Tiere durchmachen müssen. Wenn ich den Gästen erklären würde, wie die Tiere bei lebendigem Leib zerteilt und aus ihren Panzern gerissen werden, nur damit man an ihr Fleisch kommt, würden die mir auf die Holzdielen kotzen.
„Etwa sechzig Tage nach der Eiablage schlüpfen die kleinen Babys und laufen im Pulk ins Meer", fahre ich fort. „Sie warten die Nacht ab, ehe sie in die Brandung kriechen. Wir hatten vor knapp fünfzig Tagen eine grüne Schildkröte, die hier ihre Eier gelegt hat. Wenn ihr Glück habt, dann schlüpfen die kleinen Schildkrötenbabys rechtzeitig und ihr könnt uns dabei unterstützen, sie ins Meer zu begleiten. Wer hätte Lust, das zu erleben?"
Es strecken alle ihre Hände in die Luft. Ausser Alex.
„Gut, an den Türen eurer Hotelzimmer findet ihr ein Schild in der Form einer Schildkröte, das ihr wenden könnt. Auf einer Seite steht YES, auf der anderen NO. Bitte dreht das Schild auf YES, wenn ihr damit einverstanden seid, dass wir euch in der Nacht wecken dürfen, falls sich eine Schildkröte zum Eierlegen an den Strand begeben hat, oder falls die kleinen Babys auf die Welt kommen."
„Wie begleiten wir denn die Schildkrötenbabys ins Wasser?", fragt die holländische Mutter.
„Wir werden euch Infrarot-Lampen geben. Ganz wichtig dabei ist, dass ihr keine Kameras mit Flash oder zu hellen Displays verwendet. Die Jungtiere orientieren sich am Mondlicht und zu helles, künstliches Licht kann ihren natürlichen Orientierungssinn zerstören. Ihr werdet Spalier stehen und den kleinen Schlüpflingen mit euren Speziallampen den Weg ins Meer leuchten."
Ein aufgeregtes Raunen geht durch meine Zuhörer. Sie sind alle äusserst entzückt von dieser Möglichkeit. Ich lächle in mich hinein. Das ist auch wirklich eines der schönsten Dinge auf der Welt.
„Habt ihr noch Fragen?" Mein Blick schweift durch die Runde und ich sehe Kopfschütteln. „Dann wars das bereits mit meinem Turtle Talk. Ich danke euch für eure Aufmerksamkeit und wünsche eine ruhige erste Nacht."
Mit diesen Worten verabschiede ich meine Zuhörer ins Bett.
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Hallo ihr Lieben
Ich hoffe, euch hat der Turtle Talk nicht zu sehr gelangweilt und sogar etwas interessiert. ;-) Ich packe gerne ein paar Hintergrundinformationen in meine Geschichten.
Im nächsten Kapitel wird endlich mal die Perspektive gewechselt. Da lernt ihr Alex besser kennen und den Grund, weshalb er auf der Insel ist. Na, was vermutet ihr? Warum sollte so ein reicher Schnösel im Tauchshop aushelfen?
Habt ein sonniges Wochenende!
Eure Fleur
(Chapter Photo by Lachlan Ross: https://www.pexels.com/photo/turtle-swimming-underwater-near-bottom-of-sea-5967799/)
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