3 Frankreich - 1934
Paris, 14. August 1934, abends
Der Salon de l'Automobile war in diesem Jahr, trotz der grassierenden Wirtschaftskrise, ein Volltreffer. Viele Tausend Besucherinnen und Besucher haben die Messehallen gefüllt und sich für die zahlreichen modernen Automobile und den Fortschritt der Technik interessiert. Die Ausstellungsfläche von André Citroën hat wie immer sehr viele Menschen angezogen. Der Name Citroën steht für Innovation und Einzigartigkeit, unter anderem durch die neue Zusammenarbeit mit dem jungen Karosseriebauer und Ingenieur André Levebvre. Natürlich haben sich die Menschen vor allem für die verschiedenen Varianten des beliebten Modells Légère, den neuen Traction Avant, interessiert. In diesem Jahr hat Citroën sogar einige besonders starke Fahrzeuge als Prototypen ausgestellt: Die Reihe des 22CV steht kurz vor ihrer Produktion. Angekündigt als "Bientôt" werden alle Varianten mit ihren Preisen vorgestellt. Doch die Lage im Unternehmen Citroën ist alles andere als rosig. Es steht ein Führungswechsel bevor, das Autohaus wird demnächst seinen Besitzer wechseln. Zudem ist die internationale politische Lage auch unsicher. In Deutschland sind die Faschisten an der Macht, man spricht von einem möglichen Krieg.
André Citroën findet sich vor einer schwierigen Entscheidung. Er steht nach Torschluss zusammen mit einem Wachmann und zwei Offizieren der lokalen Polizei vor seinen ausgestellten Automobilen. "Messieurs, Sie wissen, warum Sie hier sind?"
Die angesprochenen Herren schauen sich vorsichtig um, bevor einer nach dem anderen nickt. Nervös ziehen sie an ihren Zigaretten und blicken den berühmten Unternehmer mit seinem Schnurrbart an.
"Wir müssen befürchten, dass diese einzigartigen Automobile, die modernsten ihrer Art, wohl nie gebaut werden. Ich werde, wie Sie wissen, meine Firma an Michelin verkaufen müssen, es bricht mir das Herz." André Citroën blickt wehmütig auf seine Fahrzeuge und streicht mit der Hand über einen schwarzen Kotflügel mit integriertem Scheinwerfer. Ihr hättet meine Firma gerettet, ihr seid die Zukunft, denkt er sich dabei.
Die drei Männer lassen den Geschäftsmann schweigen. Schliesslich wagt einer der Polizisten zu fragen, was sie denn nun tun sollen.
"Ich will", sagt Citroën wieder mit starker Stimme, "dass Sie diese beiden Fahrzeuge, das Coupé und das Cabriolet, nach Monaco fahren. Sie sollen vor der Zerstörung bewahrt werden. Ich kenne einen Geschäftsmann in Copertino, das liegt in Süditalien. Er ist ein Schlitzohr, aber absolut zuverlässig und verschwiegen. Zudem sammelt er seltene und schöne Automobile. In diesem Schreiben hier bestätigt er mir, zwei meiner Fahrzeuge ankaufen zu wollen. Sie müssen dabei äusserst vorsichtig sein. Man darf Ihre Spur nicht verfolgen können. Sie müssen noch heute Nacht losfahren."
Die Männer schauen sich unsicher an. "Monsieur, bei allem Respekt, aber das ist rechtlich nicht korrekt. Die Fahrzeuge gehören praktisch schon Michelin, Sie wissen das."
"Ach hören Sie doch auf! Gerade weil Sie sich um solche Kleinigkeiten keine Gedanken machen, stehen Sie hier mit mir in dieser Halle, meine Herren! Kann ich auf Ihre Diskretion zählen?"
"Ich habe nichts gesehen, Monsieur Citroën. Die Halle habe ich vorschriftsgemäss abgeschlossen und bin nachhause gegangen." Der Wachmann hat bei diesen Worten ein feines Grinsen im Gesicht, dann schüttelt er Citroëns Hand.
"Was soll's, so sehe ich wenigstens wieder mal Nizza", sagt schliesslich einer der Polizisten und der zweite stimmt ihm zu. "Aber ohne Uniform, d'accord?"
"Auf jeden Fall ohne Uniform. Sie sollen nicht auffallen. Bitte tragen sie Sorge zu den Fahrzeugen und fahren Sie nur nachts. Am Tag verstecken Sie die Wagen auf Bauernhöfen oder im Wald. Sie werden in vier Tagen in Monaco erwartet. Nehmen Sie Ihre Reisedokumente mit, damit Sie in den kleinen Staat einreisen können. Dort ist ein Zimmer im Hotel Casino für Sie reserviert, auf den Namen Pignatelli. Sie treffen da einen Herrn Gabriele Pignatelli, welchem Sie die Wagen übergeben und dafür Ihren Lohn sowie meine Verkaufssumme entgegennehmen. Haben Sie das verstanden?" Citroën blickt die beiden Polizisten streng an. Die zwei Männer salutieren bloss zur Bestätigung.
Kurz darauf verlassen zwei schwarze Fahrzeuge die Halle und schliesslich Paris in Richtung Süden. Der Wachmann verabschiedet sich von André Citroën. "Auf Wiedersehen, Monsieur Citroën. Ich wünsche Ihnen alles Gute für Ihre Zukunft." Sie schütteln sich die Hände, dann schliesst der Wachmann die Tore und geht nachhause. Hätte er ahnen können, dass André Citroën bloss ein Jahr später sterben würde, hätte er sich wohl noch persönlicher verabschiedet.
***
Der Wagen ist ein Traum, denkt sich Robert Durand. Der junge Polizist in Zivilkleidung sitzt hinter dem Lenkrad eines Citroën 22CV Coupé und fährt auf der staubigen Strasse irgendwo zwischen Lyon und Valence hinter seinem Kollegen Henri Baudin her. Es ist Nacht, wie immer, wenn die beiden unterwegs sind. Eigentlich schade, denn so haben sie die herrlichen Schlösser entlang der Loire nicht richtig sehen können, genauso wenig wie die imposanten Berge und Schluchten, bei welchen sie sich nun befinden. Baudin und Durand wechseln sich immer wieder ab, wer vorausfahren darf. Der hinten Fahrende schluckt den Staub des anderen, das ist anstrengend. Am Horizont im Osten macht sich bereits ein feiner Streifen orangeroten Lichts bemerkbar. Es wird langsam heller und damit Zeit, einen Bauernhof für die Fahrzeuge zu finden. Zwei Nächte haben sie nun schon gebraucht, bis hier hin. Sie haben noch drei Nächte Fahrzeit bis nach Monaco übrig. Es wird knapp werden. Robert hofft, dass sie es noch bis Valence schaffen. Seine Augen sind gerötet, vom Staub und von der Anstrengung des Fahrens. Die modernen Autos erreichen auf geraden Strecken bis 140 km/h, aber hier in den Bergen sind die Strassen selten geradlinig. Seit Lyon folgt die Strasse dem mächtigen Fluss Rhone, was bei Tageslicht bestimmt ein schöner Anblick wäre. Robert ist verschwitzt und sehnt sich nach einem Bad im ruhig fliessenden Wasser.
Kurz vor Valence biegt das elegante Cabrio, das vor Robert fährt, in eine Zufahrt zu einem grossen Bauernhof ein. Die beiden Wagen fahren auf den Hof, aus der Scheune kommt ein älterer Mann auf sie zu. "Bonjour Messieurs, haben Sie Probleme mit ihren Automobilen?"
Henri Baudin ist schon ausgestiegen und streckt dem Bauern seine Hand zur Begrüssung hin. "Bonjour Monsieur, nein, nein, wir sind bloss müde, weil wir lange gefahren sind und wollten fragen, ob wir uns hier vielleicht etwas ausruhen könnten."
"Aber sicher, das ist kein Problem. Wollen Sie Ihre Automobile in die Scheune stellen?" Der Bauer begreift schnell, dass jemand mit einem so eleganten Wagen, der nachts unterwegs ist, wohl nicht gesehen werden will. Die beiden Fahrer nehmen das Angebot an und parken in der Scheune. Danach serviert ihnen die Bauersfrau ein Frühstück und zeigt ihnen ein Zimmer, wo sie sich erholen können.
***
Zur gleichen Zeit ist Gabriel Voisin mit seinem neuesten Cabriolet, einem gelben Voisin C27 "Figoni" auf der gleichen Strecke unterwegs. Er will diesen eleganten Luxuswagen zusammen mit einem einzigartigen Coupé vor dem drohenden Krieg in Sicherheit bringen und hat sich deshalb mit einem ihm unbekannten Mann in Monaco verabredet. Sein ehemaliger Konstrukteur Lefebvre, der jetzt bei Citroën arbeitet, hat ihm erzählt, es seien zwei Prototypen unterwegs zum Mittelmeer, um an einen reichen Italiener verkauft zu werden. Voisin will mit dem Verkauf seines neuesten Wagens genug Geld einnehmen, um seine Firma vor den Folgen der Wirtschaftskrise zu bewahren und sie damit zu retten. Dabei hatten er und sein Bruder Charles grosse Pläne gehabt mit Avions Voisin und der Konstruktion teurer Luxusautomobile. Gabriel lenkt den schweren Wagen, der eigentlich für den Schah von Persien gebaut wurde, sicher über die Landstrasse. Er hofft, die beiden Citroënfahrer noch vor Monaco einzuholen, damit sie ihn ihrem Kontaktmann vorstellen können.
Hinter ihm fährt Giuseppe Figoni persönlich in einem speziellen Coupé, dessen Dach zur Hälfte geöffnet werden kann. Der Wagen hat elegante Scheibenräder und wirkt futuristisch. Er trägt die Bezeichnung C27 "Aérosport" und ist vom Designer und Architekten André Noël Telmont im Art Déco Stil geplant worden. Der weiss-schwarze Wagen ist ein Kunstwerk auf Rädern.
In den frühen Nachmittagsstunden erreichen sie die Umgebung der Stadt Valence. Zu ihrer Rechten flitzt kurz die imposante Mauer mit ihrem breiten Einfahrtstor zu einem stattlichen Bauernhof vorbei, dann erreichen sie die Stadtgrenze.
***
Zwei Tage später fahren vier staubige Luxuswagen vor das Hotel Casino in Monaco. Die beiden Voisins haben die Citroëns eingeholt. Ihre Fahrer sind müde und strecken sich ausgiebig als sie ausgestiegen sind. Ein Portier nähert sich ihnen. "Guten Tag meine Herren. Haben Sie reserviert?"
"Ja, es für uns sollte ein Zimmer auf den Namen 'Pignatelli' angemeldet sein", gibt Robert zur Antwort.
Der Portier bestätigt und bittet die Herren an die Rezeption. Voisin und Figoni haben nicht reserviert, erhalten aber dennoch ein Zimmer, der Name Voisin ist in Monaco ein Begriff.
"Monsieur Pignatelli erwartet sie zum Diner, um acht Uhr im grossen Salon. Ich wünsche Ihnen einen schönen Aufenthalt." Der Empfangschef überreicht den Herren die Zimmerschlüssel. Das Gepäck wird hochgetragen.
Im Zimmer lässt sich Robert Durant auf eines der beiden Betten sinken. "Endlich ein richtiges Bett. Die Fahrt war ganz schön anstrengend."
Sein Partner Henri blickt ihn fragend an. "Ihr Jungen habt einfach keine Ausdauer mehr. Auto fahren ist nun mal nicht entspannend, das liegt in der Natur der Technik. Dafür haben wir etwas Schönes vor der Zerstörung gerettet. Die Nachwelt wird es uns danken."
Pünktlich um acht Uhr treffen sich alle im Salon. Gabriele Pignatelli begrüsst die beiden französischen Polizisten und blickt fragend zu den anderen Herren, deren Gesichter er zwar kennt, ihnen jedoch keine Namen zuordnen kann. "Verzeihen Sie, mit wem habe ich die Ehre?"
"Mein Name ist Gabriel Voisin, Inhaber der Avions Voisin, aus Issy-les-Moulineaux, Frankreich. Das ist Monsieur Figoni, Automobilkonstrukteur. Es ist uns eine Ehre, Sie kennenzulernen, Monsieur Pignatelli."
Sofort wird Pignatelli klar, wen er hier vor sich hat. Er ruft einen Kellner zu sich. "Bitte bereiten Sie zwei weitere Plätze an unserem Tisch vor, wir werden fünf Personen sein. - Meine Herren, nehmen wir unterdessen doch einen Aperitif an der Bar." Mit einer einladenden Handbewegung führt er seine Gäste an die elegant geschwungene Theke der Hotelbar.
"Das wird kein Zufall sein, dass Sie hier sind, meine Herren. Wie kann ich Ihnen behilflich sein?"
"Wir haben zwei unserer Automobile mitgebracht und hoffen, Sie könnten sich dafür interessieren. Mein persönlicher Freund, Monsieur Lefebvre, hat Sie uns empfohlen, Monsieur."
"Ah, Lefebvre, der Konstrukteur meines Freundes Citroën. Jetzt verstehe ich. Selbstverständlich werde ich mir Ihre Fahrzeuge sehr gerne ansehen. Ich habe allerdings nicht mit vier Automobilen gerechnet und daher auch nur zwei Fahrer mitgebracht. Da müsste ich noch schnell zwei weitere organisieren."
Nach dem Nachtessen werden die Geschäfte abgewickelt. Die Männer treffen sich bei den Automobilen. Pignatelli schaut sie sich genau an. "Das sind wirklich einzigartige Fahrzeuge. Mein Freund André Citroën hätte mit ihnen viel Erfolg gehabt. Danke Ihnen, dass Sie mir diese Prachtstücke hergebracht haben." Er schüttelt den beiden Polizisten die Hände.
Danach betrachtet er auch die beiden Voisins. "Ich habe von Ihren Automobilen der Luxusklasse gehört, Monsieur Voisin. Aber sie hier zu sehen und die Möglichkeit haben, sie zu kaufen, das macht mich sehr glücklich. Ich bin sicher, wir werden uns einigen können."
"Es gibt jeweils nur ein Exemplar davon, Monsieur Pignatelli. Sie erwerben also auch hier Einzelstücke. Wir haben den C27 bisher nur zweimal gebaut", fügt Voisin dazu.
Gabriele Pignatelli kauft alle vier Wagen. Voisin ist glücklich, und auch die anderen Herren sind sehr zufrieden. Zurück auf seinem Zimmer nimmt Pignatelli sein in Leder gebundenes Werkstattbuch und öffnet es im hinteren Teil, wo sich eine Liste befindet. Er trägt gewissenhaft Marke und Modell aller vier Autos ein, jeweils zusammen mit dem Jahrgang, dem Datum und dem Ort des Geschäftes sowie dem bezahlten Preis. Danach beginnt er im vorderen Teil seines Buches den Eintrag des heutigen Tages. Sein dreizehnjähriger Sohn Giuseppe wird begeistert sein, wenn er diese Automobile sehen kann.
***
1934, 18. August
Gestern habe ich in Monaco vier Wagen für meine Sammlung gekauft. Mein lieber Freund André Citroën hat mir zwei Einzelstücke liefern lassen. Er will sie vor dem drohenden Krieg und seinem Bankrott schützen. Welch ein Jammer, dass mein Freund keinen Erfolg hat. Er baut so schöne Autos. Beide Wagen sind moderne Fahrzeuge mit acht Zylindern. André nennt sie 22CV.
Die zwei anderen Fahrzeuge sind Voisin C27. Auch sie werden damit vor den drohenden Unruhen beschützt. Zwei herrliche Fahrzeuge, die ich bisher nicht kannte. Autos der Luxusklasse. Das Cabriolet ist von Giuseppe Figoni entworfen, das Coupé von André Noël. Ursprünglich wäre das Cabriolet für den Schah von Persien gedacht gewesen. Er wird es nicht vermissen.
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